Das Buch der Stunde

Jens Bisky: Die Entscheidung

Über den Untergang der Weimarer Republik ist viel diskutiert, geforscht und geschrieben worden. Und doch kann man sich nicht oft genug damit befassen, denn auch wenn immer wieder beteuert wird, dass man Weimars Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, stimmt das lediglich bedingt. Denn nur wenn wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen, nur, wenn wir uns immer wieder vor Auge führen, welche verhängnisvollen Entscheidungen den Weg in die Barbarei des »Dritten Reiches« ebneten – nur dann sind wir gefeit davor, diese Fehler erneut zu begehen. Und in einem Moment, in dem konservative Politiker eine Geschichtsvergessenheit an den Tag legen, die erschreckend ist, kommt dieses Buch genau richtig: »Die Entscheidung« von Jens Bisky.

»Deutschland 1929 bis 1934« lautet der Untertitel und es sind diese fünf Jahre, mit denen sich der Autor intensiv beschäftigt. Am Anfang und am Ende steht ein Todesfall: Am 3. Oktober 1929 starb Gustav Stresemann und mit ihm verlor die Republik einen ihrer wichtigsten Fürsprecher und einen charismatischen Politiker, dem es immer wieder gelungen war, im zersplitterten Reichstag fraktionsübergreifende Mehrheiten zu schaffen. Als Außenminister schaffte er es, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aus der Isolation zu führen; es war die stabilste Zeit der Weimarer Republik. 

Am 2. August 1934 starb Reichspräsident Paul von Hindenburg. Nach seinem Ableben ging per Dekret die Regierungsgewalt auf den von ihm im Jahr zuvor ernannten Reichskanzler Adolf Hitler über – Hindenburgs Tod war das Ereignis, mit dem die Herrschaft der Nationalsozialisten endgültig fixiert wurde. Es sind die Jahre zwischen diesen beiden Sterbedaten, in denen sich das Schicksal der Weimarer Republik und das Schicksal Deutschlands entschied. Mit Folgen bis heute, mit Folgen für ganz Europa, für die ganze Welt. 

»Die Agonie der Republik begann in jenem Herbst 1929«. Denn in diesem Jahr trafen mehrere Entwicklungen zusammen: Die Weltwirtschaftskrise warf ihre drohenden Schatten voraus und die Arbeitslosenzahlen stiegen dramatisch. Die bürgerlichen Parteien begannen sich zunehmend von der SPD, der Gründerin der Republik, zu distanzieren und sich weiter nach rechts zu orientieren. Und die reaktionäre Rechte, die den demokratischen Staat beseitigen wollte, formierte sich neu, begann sich zu vernetzen. Dazu kam ein dysfunktionales Parteiensystem; 15 Parteien saßen im Reichstag und behinderten sich gegenseitig. Dazu kam eine konservative Justiz, die oftmals selbst zum Lager der Republikfeinde gehörte. Dazu kam mit Hindenburg ein Reichspräsident, der nicht viel von einem demokratischen Staat hielt und sich einen rechtskonservativen Machtblock wünschte – unter Einbeziehung der NSDAP. Dazu kam eine von Stalin ferngesteuerte KPD, für die die SPD der eigentliche Feind war. Dazu kam eine rechtskonservative Unternehmerschaft, die gerne sämtliche durch die SPD errungenen Arbeitnehmerrechte rückgängig machen würde. Dazu kam ein desaströser Staatshaushalt, gebeutelt durch Krisen, Reparationszahlungen und einbrechender Konjunktur. Dazu kam eine Weltuntergangsstimmung, deren Auswirkung auf die Gesellschaft nicht zu unterschätzen sein dürfte: »Antibürgerliche Überzeugungen, die Erwartung eines Umsturzes und selbst die Verschwisterung von Zerstörung und Befreiung spielten in der Weimarer Kultur eine zentrale Rolle.« 

Dazu kam eine Orientierungslosigkeit vieler Menschen, kamen Zukunftssorgen und Ängste. Dazu kamen gesellschaftliche Spaltungen, eine Radikalisierung bis hin zu Straßenkämpfen und politischen Morden. Dazu kam der Terror, den die SA-Schlägertruppen der Nazis auf die Straßen der Städte trugen und damit eine zunehmende Stimmung aus Angst und Unsicherheit schufen. Dazu kam der berüchtigte Paragraph 48 der Verfassung des Deutschen Reiches, der es dem Reichspräsidenten ermöglichte, einen Reichskanzler ohne parlamentarische Mehrheit einzusetzen und mit Notverordnungen zu regieren. Ursprünglich sollte dies während eines Ausnahmezustands zur Anwendung kommen, temporär begrenzt. Doch nach dem Zerbrechen der letzten großen Koalition und dem Rücktritt des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller am 27. März 1930 war der zersplitterte Reichstag nicht mehr handlungsfähig. Das Scheitern der Koalition war von konservativen Strippenziehern rund um Hindenburg forciert worden – während die republikfeindlichen Parteien NSDAP und KPD ohnehin blockierten, wo sie nur konnten. Dies war das Ende der parlamentarischen Demokratie in Deutschland: Denn nun regierten die von Hindenburg nacheinander eingesetzten Kanzler Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher mit Hilfe der Notverordnungen am Parlament vorbei. Drei Männer, die mit ihrer desaströsen Politik für das endgültige Scheitern der Republik stehen und – gemeinsam mit Paul von Hindenburg – letztendlich den Weg für Hitler und die NSDAP frei machten. 

Es war eine fragile Epoche, deren Komplexität und »Schwanken zwischen Anarchie und Autorität« Jens Bisky in seinem Buch gleichermaßen akribisch wie spannend schildert. Mitreißend geschrieben mag man es kaum aus der Hand legen. Sehr lebendig wird es durch die zitierten Aufzeichnungen zahlreicher Zeitzeugen oder Beteiligter, die Auswahl reicht von Harry Graf Kessler über Siegfried Kracauer bis zu Joseph Goebbels. Oder durch Beispiele aus Kunst und Literatur, sei es die Rezeptionsgeschichte von Remarques »Im Westen nichts Neues« oder die Entwicklung der Monatszeitschrift »Die Tat«, deren Ausrichtung sich innerhalb eines Jahrzehnts von lebensreformerisch über bildungsbürgerlich zu rechtskonservativ wandelte – ein Beispiel für die Veränderungen des Zeitgeists. Die Schilderung der Lebenswirklichkeiten unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, ob Bauern, Arbeiter, Studenten, Beamte, Großgrundbesitzer, Mittelständler und vieler mehr sorgt für eine besondere Tiefe der Darstellung. 

Und am Ende stehen die Tore in Richtung Faschismus weit offen. Sobald Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, begannen zerstörerische Entwicklungen, die nicht mehr zu stoppen waren. »Kein Bericht kann der Fülle des Gleichzeitigen und der Geschwindigkeit gerecht werden, mit der die nationalsozialistische Diktatur errichtet, die totalitäre Zurichtung der Gesellschaft ins Werk gesetzt wurde. (…) Die Rasanz der Machtergreifung, der Strudel aus Maßnahmen, Aktionen, Verordnungen erzeugte einen eigenen Sog, dem sich viele nicht entziehen konnten und wollten.« 

Alles Weitere ist bekannt: Deutschland wurde zu einem Terrorstaat, der die halbe Welt mit Krieg überziehen und Millionen von Menschen unsägliches Leid zufügen würde. Das alles begann mit diesem 30. Januar 1933. 

Das Buch der Stunde

Da uns Nachgeborenen bekannt ist, wie damals alles endete, fühlte ich mich beim Lesen von »Die Entscheidung« als würde ich zusehen, wie sich ein Unfall ereignet: fassungslos und doch unfähig wegzuschauen. Und selten habe ich in einem Buch so oft Textstellen markiert; immer wieder lief mir dabei ein Schauer über den Rücken, denn allzu viel wirkt beim täglichen Blick in unsere Nachrichten vertraut. Hier ein paar Beispiele.

»Seit dem Winter 1928/29 verstärkten die Rechten das Trommelfeuer auf die Republik. Erfolgreich säten sie Unruhe, erschütterten das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit des politischen Systems, Probleme zu lösen, ja, überhaupt Entscheidungen zu fällen. Sie konnten dabei an verbreitete Unzufriedenheit anknüpfen, an enttäuschte Erwartungen.« (Seite 52)

»So ging die Republik ins Jahr 1930: mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung, die sich immer weiter nach rechts drängen ließ, und einer ›nationalen Opposition‹, die Aufwind verspürte, strategische Initiative gewann.« (Seite 93)

»Sosehr jedoch einerseits die politische Entwicklung beklagt wurde, so sehr zögerte man andererseits, jenen das Handwerk zu legen, die erklärtermaßen auf Bürgerkrieg und Diktatur hinarbeiteten. Gegen die Verharmloser und Beschwichtiger hatten verteidigungsbereite Sozialdemokraten wie Otto Braun, Carl Severing und Albert Grzesinski keine Chance.«  (Seite 158)

»Wie brenzlig die Lage war, hatte Willy Hellpach bereits Ende Mai 1930 im Parteiausschuss der DDP dargelegt: ›Es liegt eine Situation vor, in der jede Diskussion über praktische Einzelfragen die Erfordernisse der Zeit völlig verkennt. Es geht nicht um Taktik, sondern um ganz große Sachen. Es handelt sich in den nächsten zwei oder drei Jahren nicht um das Schicksal der äußeren Hülle des Staates, sondern um den Inhalt, darum, ob wir in drei Jahren noch eine demokratische Republik oder eine Republik des kalten Faschismus haben werden.‹« (Seite 169)

»Im Jahr 1932 hing das Schicksal der Republik von den Entscheidungen einiger weniger ab, denen es an politischer Urteilskraft mangelte. Das lag zum einen an ihrer Überzeugung, qua Herkunft und gesellschaftlicher Position zur Führung des Landes berufen zu sein. Es lag auch an ihrer Weigerung, die Nation, in deren Namen sie handelten, als eine in sich vielfältige, von Interessengegensätzen geprägte zu begreifen.« (Seite 574)

Ja, ich weiß, Weimar ist nicht die Bundesrepublik, die AfD ist nicht die NSDAP. Aber trotzdem: Viele verschiedene Entwicklungen haben zwischen 1929 und 1934 gemeinsam zum Ende der Demokratie beigetragen. Doch ein wichtiger, ein entscheidender Punkt war das Zusammengehen der konservativen Parteien mit den Rechtsradikalen – um die SPD und alles was in irgendeiner Weise als »links« galt, aus der Regierung zu drängen und davon fernzuhalten. Und wenn nun, Anfang 2025, der Kanzlerkandidat der CDU beginnt, mit einer rechtsradikalen, faschistoiden Partei zu paktieren, dann bedeutet es entweder, dass er aus der Geschichte nichts gelernt hat. Oder dass es im egal ist. Die AfD ist kein politischer Gegner, sondern ein Feind unserer Gesellschaft, unserer Freiheit und unseres Landes. Und mit einem Feind sucht man keinen Schulterschluss, man bekämpft ihn.

Vielleicht sollte ich Herrn Merz dieses Buch schicken. Und am besten beginnt er die Lektüre mit dem letzten Satz: »Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.«

Buchinformation
Jens Bisky, Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0125-7

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Der Weg in die Finsternis

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. 

Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt. „Der Weg in die Finsternis“ weiterlesen

Das Haben-Müssen-Gen

Alte Buecher

Einmal, es ist schon etwas her, war ich wochenlang damit beschäftigt, meine Bücherregale zu durchforsten, um auszusortieren. Nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal, aber ab und zu ist es einfach nötig. Denn der zur Verfügung stehende Platz ist leider begrenzt, auch wenn er große Teile der Wohnfläche einnimmt. Daher gibt es drei Kriterien, nach denen ich die Bücher auswähle, mit denen ich mich umgeben möchte: Entweder hat mich ein Buch so begeistert oder beeindruckt, dass ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen – auch wenn das möglicherweise nie stattfinden wird. Oder ich verbinde ein Buch mit einem bestimmten Ereignis in meinem Leben, an das es mich erinnert; viele davon habe ich hier im Blog im Laufe der Jahre vorgestellt. Und natürlich gibt es die zahlreichen ungelesenen Bücher, die auf die Lektüre warten; dies ist mein Lesevorrat. Und im Prinzip kann man davon gar nicht genug haben, ich liebe es, vor den Regalen mit der Frage zu stehen: Was lese ich als nächstes? Aber es gibt das ein oder andere Buch, bei dem ich überlege, ob es mich nach zehn, fünfzehn Jahren im Regal tatsächlich noch so interessiert, dass ich es irgendwann lesen werde. Gleichzeitig ziehen Woche für Woche neue Bücher in mein Zuhause ein, manche Stapel – in den Regalen ist schon längst kein Platz mehr – schwanken bereits bedenklich. Daher müssen immer wieder Bücher weichen; was bleibt, ist irgendwann die Essenz eines Leserlebens. „Das Haben-Müssen-Gen“ weiterlesen

Geschichte und Geschichten

Stefan Ineichen: Principessa Mafalda | Leipziger Wohnzimmerlesung 2023

Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ein Abend, der für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden ist. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen. „Geschichte und Geschichten“ weiterlesen

An der Schwelle einer neuen Zeit

Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen

Aus Overstolz wird Camel

Volker Kutscher: Transatlantik - der neunte Roman der Gereon-Rath-Reihe

»Er zündete sich eine Overstolz an« – dieser Satz kündigt den Auftritt von Gereon Rath an und in den bisherigen Bänden der Buchreihe von Volker Kutscher dauert es nicht lange, bis er fällt. Diesmal nicht. In »Transatlantik«, dem neunten Rath-Roman, müssen wir bis Seite 63 warten, erst dann können wir ihn zum ersten Mal lesen. Denn inzwischen ist die Reihe im Jahr 1937 angekommen und für die Protagonisten hat sich alles verändert. Charlotte »Charlie« Rath arbeitet nach wie vor in der Detektei ihres früheren Vorgesetzten bei der Kripo und weiß nicht, ob und wo ihr Mann lebt. Gereon Rath, von SS und Gestapo verfolgt, schafft es per Zeppelin aus Deutschland heraus und versucht in New Jersey Fuß zu fassen. Und Ziehsohn Fritze, einst begeistertes HJ-Mitglied, wird zum Opfer des Systems und seiner verbrecherischen Machenschaften. Diese drei Erzählstränge bilden den Rahmen für die Handlung des Romans – der uns wieder einen Schritt weiter hinein in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« führt. 

Bevölkert ist »Transatlantik« mit vielen Personen aus der Welt des Gereon Rath, die Volker Kutscher nunmehr seit fünfzehn Jahren mit akribischer Recherche und schriftstellerischer Leidenschaft geschaffen hat. Und wie es so ist beim neunten Band einer Reihe: Selbstverständlich kann man ihn auch einzeln lesen, im Großen und Ganzen ist die Handlung in sich abgeschlossen. Doch natürlich gibt es zahllose Verweise und Anspielungen auf die vorhergehenden Bände, so dass es empfehlenswert ist, mit Teil eins zu beginnen. Dann nämlich entfaltet die Reihe ihren ganz besonderen Reiz. „Aus Overstolz wird Camel“ weiterlesen

Zu Gast in vierzig Leben

Peter Englund: Momentum. November 1942 - wie sich das Schicksal der Welt entschied

Rückblickend gesehen war der November 1942 ein Wendepunkt in der Geschichte. Die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan überzogen die Welt seit drei Jahren mit Krieg und noch zu Beginn des Monats waren sie auf dem Vormarsch, ihr Machtbereich hatte seine größte Ausdehnung erreicht. Doch in diesen dreißig Novembertagen gab es erste Anzeichen dafür, dass der Zenit überschritten war und sich die Waage in Richtung der Alliierten zu senken begann. Im Nachhinein ist dies deutlich erkennbar – es war der Monat, in dem die Engländer in El Alamein siegten, die Amerikaner in Guadalcanal die japanischen Besatzer in eine ausweglose Situation brachten und die 6. Armee der Wehrmacht in Stalingrad eingeschlossen wurde. Aber wie nahmen die Menschen, die in jener Zeit lebten, die großen – und die zahllosen anderen – Ereignisse wahr? Der schwedische Historiker Peter Englund nimmt uns mit auf eine Zeitreise: In seinem Werk »Momentum« geht es um diesen Monat, um den November 1942. 

Englund ist ein Meister der erzählenden Geschichtsschreibung. Für seine grandiose Darstellung des Ersten Weltkriegs »Schönheit und Schrecken« wertete er zahllose Tagebücher, Briefe und andere Aufzeichnungen aus und schuf dadurch ein Panorama, das über die Zeit hinweg auf eine faszinierende Weise ganz nah erscheint – denn wir sehen jene Jahre durch die Augen der Menschen, die diese Schriftstücke verfassten. Und genau so funktioniert auch »Momentum«, nur dass diesmal die Darstellung auf einen einzigen Monat komprimiert ist. Was jene Wochen noch dichter heranholt, uns zu Gästen in den Leben der Menschen werden lässt, um die es in dem Buch geht. Es sind Personen aller Gesellschaftsschichten, die wir in den unterschiedlichsten Situationen antreffen – und nicht wenige dieser Situationen sind für uns Leser, die wir in jene dunkle Zeit eintauchen, nur schwer zu ertragen. „Zu Gast in vierzig Leben“ weiterlesen

Geschichte vergeht nicht

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Es ist ja so: Von den hunderten oder eher tausenden Büchern, die man in einem Leserleben liest, bleiben viele nur bruchstückhaft im Gedächtnis und bei manchen kann man sich nach ein paar Jahren höchstens noch vage an den Inhalt erinnern – wenn überhaupt. Aber dann gibt es auch die ganz besonderen Werke, jene, auf die man ab und zu stößt, jedes von ihnen eine wertvolle Entdeckung. Jene, deren erzählerische Wucht eine Sogwirkung auslöst, die unbeschreiblich ist. Jene, die einem eine neue Welt eröffnen oder einen mit Haut und Haaren in eine andere Epoche schicken. Jene, die den eigenen Horizont ein Stück vergrößern. Jene, deren Sprache Bilder im Kopf entstehen lassen, die unvergesslich sind; Bilder voller Schönheit und Schrecken. Es gibt sie nicht allzu oft, jene Bücher, die all das in sich vereinen, und ich bin dankbar für jedes von ihnen, das seinen Weg in mein Bücherregal gefunden hat. Und eines davon ist »Alle, außer mir« von Francesca Melandri. „Geschichte vergeht nicht“ weiterlesen

Die Bücher der Rose

Umberto Eco: Der Name der Rose | Dirk Schuemer: Die schwarze Rose

2022 jährte sich das Erscheinen der deutschen Ausgabe von »Der Name der Rose« zum vierzigsten Mal. Dies feierte der Hanser Verlag mit einer wunderschön gestalteten Neuauflage des Romans von Umberto Eco in der bewährten Übersetzung von Burkhart Kroeber. Eine Ausgabe, an der ich nicht vorbeigehen konnte und die ich zum Anlass nahm, nach fünfunddreißig Jahren dieses großartige Werk ein zweites Mal zu lesen. Gleichzeitig erschien – im Zsolnay Verlag, der ebenfalls zu Hanser gehört – der Roman »Die schwarze Rose« von Dirk Schümer; laut der Ankündigung im Klappentext eine Art lose Fortsetzung von Ecos Meisterwerk. Zumindest würde man ein paar alte Bekannte wieder treffen: »Dort, wo Umberto Ecos ›Der Name der Rose‹ aufhört, setzt Dirk Schümers historischer Roman an«, heißt es auf der Buchrückseite. An ein Meisterwerk, an einen der ganz großen Romane der letzten Dekaden anknüpfen? Kann ein so schon fast anmaßendes Unterfangen gut gehen? Gelingen? Ich war skeptisch. Und neugierig. Aber lest selbst. „Die Bücher der Rose“ weiterlesen

Die ukrainische Tragödie

Anne Applebaum: Roter Hunger - Stalins Krieg gegen die Ukraine

Das Buch »Roter Hunger« von Anne Applebaum kaufte ich mir vor ein paar Jahren, um eine Wissenslücke zu schließen. Denn ich wusste bisher wenig über die große Hungersnot, die 1932 und 1933 die Ukraine heimsuchte – außer, dass sie von Stalin bewusst herbeigeführt wurde, um den ukrainischen Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft zu brechen. Der Holodomor war eines der vielen unmenschlichen Verbrechen, die den Weg des Stalinismus säumten und ist in seiner Dimension ungeheuerlich. Erst jetzt bin ich dazu gekommen, das Buch zu lesen und angesichts des brutalen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der seit Februar 2022 mitten in Europa tobt, erhält dieses Werk eine neue, beklemmende Aktualität. Denn neben den darin geschilderten Ereignissen vermittelt es das nötige historische Hintergrundwissen, mit dem dieser Krieg betrachtet werden muss. Um zu verstehen, dass der russische Despot Wladimir Putin nie Ruhe geben wird und dass Verhandlungen niemals einen dauerhaften Frieden schaffen werden. „Die ukrainische Tragödie“ weiterlesen

Keine Heldengeschichten

Uwe Wittstock: Februar 33 - Der Winter der Literatur

Am 30. Januar 1933 war die Weimarer Republik am Ende, die Nationalsozialisten an der Macht, und das erste längere demokratische Experiment auf deutschem Boden versank in Gewalt und staatlichem Terror. Die Dynamik, mit der dies geschah, ist erschreckend: »Für die Zerstörung der der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.« Dieses eindrucksvolle Zitat stammt aus dem Buch »Februar 33 – Winter der Literatur« von Uwe Wittstock. Anhand der Schicksale vieler der damaligen Literaturschaffenden rekonstruiert er die dramatischen Ereignisse. Furchteinflößend und mitreißend gleichzeitig, denn er schafft es, uns so dicht an diese alles verändernden Wochen heranzuführen, wie es mit der Macht der Sprache nur möglich ist. „Keine Heldengeschichten“ weiterlesen

Eine Epoche der Bücher

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Seit Monaten lese ich in diesem Buch; den einen Abend ein, zwei Kapitel, den anderen Abend lediglich ein paar Seiten, immer mit großer Konzentration. Und es ist jedes Mal ein Genuss, denn stets schickt es mich auf eine Zeitreise in eine der faszinierendsten und spannendsten Epochen unserer Geschichte, lässt mich alte Texte entdecken, Zusammenhänge verstehen, das eigene Wissen vertiefen und ein Verständnis dafür entwickeln, wie gigantisch die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen jener Zeit waren, prägend für die Jahrhunderte danach. Und dazu ist dieses Buch ein gestalterisches Gesamtkunstwerk – die Rede ist von dem voluminösen Prachtband »Welt der Renaissance« von Tobias Roth. „Eine Epoche der Bücher“ weiterlesen

9/11: Der Tag, der alles veränderte

Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille

Am frühen Morgen des 12. September 2001 war ich auf dem Weg zum nächstgelegenen Zeitungskiosk, um zwei, drei Tageszeitungen zu kaufen. Nicht, um sie zu lesen, sondern um sie als zeitgeschichtliche Dokumente aufzubewahren. Denn es war vollkommen klar, dass der Tag zuvor alles verändern würde. Als die beiden Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center gekracht waren, als Manhattan in einer riesigen Staub- und Rauchwolke versank, als tausende von Menschen starben, als all dies live über unzählige Bildschirme auf der ganzen Welt flimmerte – da hörte die Welt, die wir bisher kannten, auf zu existieren. Die Bilder haben sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und auch nach zwanzig Jahren lösen sie beim Betrachten Entsetzen aus. In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich viel über diesen Schicksalstag gelesen – aber noch nie ein Buch wie »Und auf einmal diese Stille« von Garrett M. Graff. Das uns so nahe an die Geschehnisse heranführt, wie es für Außenstehende möglich ist. Der Untertitel schickt es bereits voraus: »Die Oral History des 11. September«. „9/11: Der Tag, der alles veränderte“ weiterlesen

Europa im Geschwindigkeitsrausch

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent - Europa 1900 bis 1914

Das Buch »Der taumelnde Kontinent« von Philipp Blom beschreibt ein Europa im Wandel. Sich verändernde gesellschaftliche Strukturen, ein atemberaubender technischer Fortschritt, der ungeahnte Möglichkeiten am Horizont erkennen lässt, die brutalen Folgen kolonialistischer Eroberungszüge und ein Alltag, in dem die Gewissheiten stetig weniger werden. Fünfzehn Jahre umfasst die mitreißend geschriebene Schilderung der Entwicklungen unseres Kontinents – es ist der Zeitraum von 1900 bis 1914. Eine Zeit, die viel moderner war, als wir es uns heute vorstellen können. Und die in vielen Aspekten mit der Epoche vergleichbar ist, in der wir leben. „Europa im Geschwindigkeitsrausch“ weiterlesen

Ein Fenster in die Geschichte

Bernard von Brentano: Der Beginn der Barbarei in Deutschland

In diesem Beitrag geht es um das Buch »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« von Bernard von Brentano. Ich vermische damit Berufliches mit Privatem, da ich seit Sommer 2019 für den Eichborn Verlag arbeite, in dem die Neuausgabe dieses lange vergessenen Werkes erschienen ist. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass es hier im Blog nicht zu solchen Überschneidungen kommen sollte, doch dieser Titel ist in meinen Augen ein so wichtiges Zeitzeugnis, dass ich einfach nicht anders kann als darüber zu schreiben.  

Das Buch erschien ursprünglich im Jahr 1932 und war das Ergebnis einer intensiven Recherche. Von 1930 an war der Journalist Bernard von Brentano auf langen Fahrten durch Deutschland gereist. Er wollte herausfinden, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise hatte, von der das Land mit voller Wucht getroffen wurde – und was er sah, war dramatisch. Brentano besuchte Menschen, deren Existenz durch die Krise vernichtet worden war, ging dorthin, wo das Elend sichtbar wurde. Sprach mit Arbeitern, die nicht wussten, wie lange ihre Betriebe noch durchhalten würden, mit Arbeitslosen, die hungerten, mit Bauern, deren Höfe vor dem Aus standen. Er schilderte die verzweifelte Lage von Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht waren oder ihre Wohnung bereits verloren hatten. Lieferte Stimmungsbilder aus den Stadtvierteln und Regionen, in die sich die Angehörigen der Oberschicht nie hin verirren würden. „Ein Fenster in die Geschichte“ weiterlesen