Eigentlich war dieser Blogbeitrag ganz anders gedacht. Eigentlich sollte er vor allem aus Bildern bestehen und mit wenig Text auskommen; ein großes Photoalbum sollte es sein – von einem der schönsten Bücherräume, die ich je besucht habe. Und eigentlich hatte ich geschätzt, dass auf der Speicherkarte meiner Kamera Dutzende Photos dieser Räumlichkeiten vorhanden sind. Aber da hatte ich wohl eine falsche Erinnerung im Kopf. Doch für diesen Irrtum gibt es einen Grund: Ein Gespräch. Und zwar eines, das so faszinierend war, dass ich das Photographieren schlicht und ergreifend vernachlässigt habe. Zumindest sind deutlich weniger Photos entstanden, als gedacht. Aber dafür habe ich viele Bilder im Kopf mitgenommen – und darüber schreibe ich nun. „Ein Besuch im Bücherschloss“ weiterlesen
Im Gefängnis der Geschichte
Es war ein Zufallsfund, wie so oft. Beim Besuch einer Buchhandlung stand der Roman frontal präsentiert im Regal – ich sah das Titelbild und musste ihn haben. Der Klappentext, den ich nur kurz überflog, bestärkte mich in dieser Entscheidung. Und jetzt liegt das Buch »Der letzte Cimamonte« von Matteo Melchiorre gelesen neben mir und ich weiß, dass ich die Geschichte, die Stimmung und die Sprache noch sehr lange im Kopf behalten werde; es war ein großartiges Leseerlebnis.
Im Zentrum der Handlung steht das Dorf Vallorgàna, hoch oben in den Ausläufern der Alpen. Und noch etwas weiter steht die alte Villa, der Adelssitz der Familie Cimamonte, der jahrhundertelang das Dorf und alles darum herum gehörte, Wiesen, Wälder und Berge. Doch diese Zeiten sind vorbei, Vallorgàna ist ein sterbender Ort, die Jungen sind gegangen, nicht wenige Häuser stehen leer. Aber noch ist Leben in den Höfen, die das Dorf prägen. Es gibt Tiere auf den Weiden, die Wiesen werden im Rhythmus der Jahreszeiten gemäht, ein Pfarrer hält die Messen und die Bar in der Ortsmitte ist nach wie vor das abendliche Wohnzimmer der alten Bauern. Während der alles umgebende Wald aufgegebene Wiesen wieder in Besitz nimmt, die Wölfe näher kommen und die Krähen wie Unglücksvögel über Vallorgàna kreisen, den Luftraum im Tal beherrschend.
»Wir gehen. Die Krähen kommen. So sieht es aus.« „Im Gefängnis der Geschichte“ weiterlesen
Ein Buch für Herrn Merz. Mit einem Brief
Im letzten Blogbeitrag ging es um das Buch »Die Entscheidung« von Jens Bisky. Es ist ein großartiges Werk, in dem das Scheitern und das blutige Ende der Weimarer Republik geschildert werden. Unzählige darin aufbereitete historische Details ergeben ein lebendiges Bild dieser Jahre, die unsere Welt geprägt haben, bis heute. Und es wird dabei klar, dass die faschistische Terrorherrschaft des »Dritten Reichs« kein Betriebsunfall der Geschichte war, sondern bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hätte verhindert werden können. Angesichts der Zunahme dumpfen rechtsradikalen Denkens und angesichts eines weltweit zu beobachtenden politischen Rechtsrucks hat das Buch einen aktuellen Bezug, der erschreckend ist. Besonders vor dem Hintergrund der Geschichtsvergessenheit des momentanen CDU-Kanzlerkandidaten, der aus wahlkampftaktischen Gründen den Schulterschluss mit Rechtsextremen sucht. Wie naiv kann man sein? Und wie wenig kann man aus der Geschichte gelernt haben?
Beendet hatte ich die Buchvorstellung mit den Worten: »Vielleicht sollte ich Herrn Merz dieses Buch schicken. Und am besten beginnt er die Lektüre mit dem letzten Satz: ›Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.‹«
Und genau das habe ich nun gemacht: Herrn Merz dieses Buch geschickt. Der Rowohlt Verlag hat mir freundlicherweise ein Exemplar dafür zur Verfügung gestellt, das ich nun per Post auf den Weg nach Berlin gebracht habe. Zusammen mit einem Brief, den ich hier wiedergebe. „Ein Buch für Herrn Merz. Mit einem Brief“ weiterlesen
Das Buch der Stunde
Über den Untergang der Weimarer Republik ist viel diskutiert, geforscht und geschrieben worden. Und doch kann man sich nicht oft genug damit befassen, denn auch wenn immer wieder beteuert wird, dass man Weimars Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, stimmt das lediglich bedingt. Denn nur wenn wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen, nur, wenn wir uns immer wieder vor Auge führen, welche verhängnisvollen Entscheidungen den Weg in die Barbarei des »Dritten Reiches« ebneten – nur dann sind wir gefeit davor, diese Fehler erneut zu begehen. Und in einem Moment, in dem konservative Politiker eine Geschichtsvergessenheit an den Tag legen, die erschreckend ist, kommt dieses Buch genau richtig: »Die Entscheidung« von Jens Bisky. „Das Buch der Stunde“ weiterlesen
Der Weg in die Finsternis
Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben.
Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt. „Der Weg in die Finsternis“ weiterlesen
Das Haben-Müssen-Gen
Einmal, es ist schon etwas her, war ich wochenlang damit beschäftigt, meine Bücherregale zu durchforsten, um auszusortieren. Nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal, aber ab und zu ist es einfach nötig. Denn der zur Verfügung stehende Platz ist leider begrenzt, auch wenn er große Teile der Wohnfläche einnimmt. Daher gibt es drei Kriterien, nach denen ich die Bücher auswähle, mit denen ich mich umgeben möchte: Entweder hat mich ein Buch so begeistert oder beeindruckt, dass ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen – auch wenn das möglicherweise nie stattfinden wird. Oder ich verbinde ein Buch mit einem bestimmten Ereignis in meinem Leben, an das es mich erinnert; viele davon habe ich hier im Blog im Laufe der Jahre vorgestellt. Und natürlich gibt es die zahlreichen ungelesenen Bücher, die auf die Lektüre warten; dies ist mein Lesevorrat. Und im Prinzip kann man davon gar nicht genug haben, ich liebe es, vor den Regalen mit der Frage zu stehen: Was lese ich als nächstes? Aber es gibt das ein oder andere Buch, bei dem ich überlege, ob es mich nach zehn, fünfzehn Jahren im Regal tatsächlich noch so interessiert, dass ich es irgendwann lesen werde. Gleichzeitig ziehen Woche für Woche neue Bücher in mein Zuhause ein, manche Stapel – in den Regalen ist schon längst kein Platz mehr – schwanken bereits bedenklich. Daher müssen immer wieder Bücher weichen; was bleibt, ist irgendwann die Essenz eines Leserlebens. „Das Haben-Müssen-Gen“ weiterlesen
Geschichte und Geschichten
Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ein Abend, der für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden ist. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen. „Geschichte und Geschichten“ weiterlesen
An der Schwelle einer neuen Zeit
Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen
Aus Overstolz wird Camel
»Er zündete sich eine Overstolz an« – dieser Satz kündigt den Auftritt von Gereon Rath an und in den bisherigen Bänden der Buchreihe von Volker Kutscher dauert es nicht lange, bis er fällt. Diesmal nicht. In »Transatlantik«, dem neunten Rath-Roman, müssen wir bis Seite 63 warten, erst dann können wir ihn zum ersten Mal lesen. Denn inzwischen ist die Reihe im Jahr 1937 angekommen und für die Protagonisten hat sich alles verändert. Charlotte »Charlie« Rath arbeitet nach wie vor in der Detektei ihres früheren Vorgesetzten bei der Kripo und weiß nicht, ob und wo ihr Mann lebt. Gereon Rath, von SS und Gestapo verfolgt, schafft es per Zeppelin aus Deutschland heraus und versucht in New Jersey Fuß zu fassen. Und Ziehsohn Fritze, einst begeistertes HJ-Mitglied, wird zum Opfer des Systems und seiner verbrecherischen Machenschaften. Diese drei Erzählstränge bilden den Rahmen für die Handlung des Romans – der uns wieder einen Schritt weiter hinein in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« führt.
Bevölkert ist »Transatlantik« mit vielen Personen aus der Welt des Gereon Rath, die Volker Kutscher nunmehr seit fünfzehn Jahren mit akribischer Recherche und schriftstellerischer Leidenschaft geschaffen hat. Und wie es so ist beim neunten Band einer Reihe: Selbstverständlich kann man ihn auch einzeln lesen, im Großen und Ganzen ist die Handlung in sich abgeschlossen. Doch natürlich gibt es zahllose Verweise und Anspielungen auf die vorhergehenden Bände, so dass es empfehlenswert ist, mit Teil eins zu beginnen. Dann nämlich entfaltet die Reihe ihren ganz besonderen Reiz. „Aus Overstolz wird Camel“ weiterlesen
Zu Gast in vierzig Leben
Rückblickend gesehen war der November 1942 ein Wendepunkt in der Geschichte. Die Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan überzogen die Welt seit drei Jahren mit Krieg und noch zu Beginn des Monats waren sie auf dem Vormarsch, ihr Machtbereich hatte seine größte Ausdehnung erreicht. Doch in diesen dreißig Novembertagen gab es erste Anzeichen dafür, dass der Zenit überschritten war und sich die Waage in Richtung der Alliierten zu senken begann. Im Nachhinein ist dies deutlich erkennbar – es war der Monat, in dem die Engländer in El Alamein siegten, die Amerikaner in Guadalcanal die japanischen Besatzer in eine ausweglose Situation brachten und die 6. Armee der Wehrmacht in Stalingrad eingeschlossen wurde. Aber wie nahmen die Menschen, die in jener Zeit lebten, die großen – und die zahllosen anderen – Ereignisse wahr? Der schwedische Historiker Peter Englund nimmt uns mit auf eine Zeitreise: In seinem Werk »Momentum« geht es um diesen Monat, um den November 1942.
Englund ist ein Meister der erzählenden Geschichtsschreibung. Für seine grandiose Darstellung des Ersten Weltkriegs »Schönheit und Schrecken« wertete er zahllose Tagebücher, Briefe und andere Aufzeichnungen aus und schuf dadurch ein Panorama, das über die Zeit hinweg auf eine faszinierende Weise ganz nah erscheint – denn wir sehen jene Jahre durch die Augen der Menschen, die diese Schriftstücke verfassten. Und genau so funktioniert auch »Momentum«, nur dass diesmal die Darstellung auf einen einzigen Monat komprimiert ist. Was jene Wochen noch dichter heranholt, uns zu Gästen in den Leben der Menschen werden lässt, um die es in dem Buch geht. Es sind Personen aller Gesellschaftsschichten, die wir in den unterschiedlichsten Situationen antreffen – und nicht wenige dieser Situationen sind für uns Leser, die wir in jene dunkle Zeit eintauchen, nur schwer zu ertragen. „Zu Gast in vierzig Leben“ weiterlesen