»Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes«

Ruediger Safranski: Kafka - Um sein Leben schreiben

Denkt man darüber nach, wirkt es wie eine schräge Laune des Schicksals: Ausgerechnet Franz Kafka, ein hochgradig introvertierter Mensch, der Zeit seines Lebens mit sich haderte, der sein Schaffen immer wieder in Frage stellte, so sehr, dass er seinen besten Freund darum bat, seinen gesamten Nachlass zu verbrennen, ausgerechnet dieser Franz Kafka ist heute einer der meistinterpretiertesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Kein Halbsatz, kein Brief, kein Tagebucheintrag, keine Notiz blieb unkommentiert, die stetig anwachsende Sekundärliteratur füllt ganze Bibliotheken. Buchstäblich jede Minute seines viel zu kurzen Lebens wurde erforscht, so gut wie nichts blieb im Dunkel der Geschichte verborgen. Und gleichzeitig gibt es keine allgemeingültige Deutung seines Werkes und wird es auch niemals geben – denn das ist das Faszinierende an Kafkas Romanen und Erzählungen: Geschrieben in einer präzisen Sprache, der man die juristische Schulung anmerkt, bleibt der Inhalt ungewiss, angesiedelt irgendwo zwischen Realität und Traum. Angstgefühle und Fragen der Schuld prägen seine Werke, doch jeder liest sie anders, jeder nähert sich auf seine Weise an die irrlichternden und doch glasklaren Texte an. Und bei jedem Menschen lösen sie andere Empfindungen aus. Gleichzeitig sind seine Texte nicht nur ein Teil seiner Identität, nein, sie sind seine Identität, sind sein Leben. Wie kaum ein anderer Autor hat Franz Kafka seine Gefühle so unmittelbar und doch so verschlüsselt zu Papier gebracht. Sein berühmter Satz ist die Essenz seines Lebens: »Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein«.

Das alles erklärt, warum Kafkas Lebensweg und sein Werk seit Jahrzehnten gedeutet, erforscht und kommentiert werden: Die Texte und das Leben des Verfassers lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten, sie sind eins, sind vollkommen unentwirrbar miteinander verwoben. Wer Kafka liest, sollte daher auch über das Leben des Dichters Bescheid wissen, über das Leben eines verzweifelt Suchenden, eines Getriebenen, eines Menschen, der seine Erlösung im Schreiben gesucht und für kurze Momente immer wieder auch gefunden hat. Einen wunderbaren Einstieg in die Beschäftigung mit seinem Leben bietet die Biographie aus der Feder von Rüdiger Safranski. Sie trägt den passenden Titel: »Kafka – Um sein Leben schreiben«.

Das Buch hat einen überschaubaren Umfang: Gerade einmal 234 Seiten benötigt Safranski, um Franz Kafkas Leben durch die Perspektive seiner Texte zu betrachten. Wie bei einer Lebensbeschreibung üblich, werden Tagebucheinträge, Briefe und Notizen in Zusammenhang mit den biographischen Details gebracht. Dann aber verknüpft Rüdiger Safranski das alles mit den bekannten Texten von Kafka, beschreibt, was aus Erlebtem und Aufgezeichneten in die Erzählungen, in die Romane und Romanfragmente eingeflossen ist – und wie immer und überall Kafkas Leben durch seine geschriebenen Worte durchschimmert, mal klar erkennbar, mal nur vage zu vermuten.

Sein Credo »Ich bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein« wird in diesem biographischen Werk wörtlich genommen und konsequent nähern wir uns dem Dichter durch dessen Literatur an: Sein Aufwachsen im strengen Haushalt des dominanten Vaters, das Unverständnis, das ihm von seinen Eltern entgegengebracht wird, sein Studium der Rechtswissenschaften, seine – überaus erfolgreiche – berufliche Karriere bei der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt, seine Verlobung mit Felice Bauer, seine Freundschaften, seine Ängste als »Türhüter zu seinem Wesen«, seine nächtlichen Spaziergänge durch Prag, seine ekstatischen Schreibphasen, seine Verlobung mit Julie Wohryzek, seine Beziehung zu Milena Jesenská, die beginnende Tuberkulose-Erkrankung, die Monate, die er zur Erholung bei seiner Schwester Ottla in Zürau verbringt, die Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands, schließlich das schicksalhafte Zusammentreffen mit Dora Diamant – ein Zusammentreffen, das sein Leben in völlig neue Bahnen hätte lenken können. Wenn es nicht schon zu spät gewesen wäre; er starb an seiner Tuberkulose bereits im darauffolgenden Jahr. Rüdiger Safranski ordnet all dies den zeitlich passend entstandenen Texten zu und beschreibt gleichzeitig deren Entstehungsgeschichte und Inhalt: Leben und Literatur als eine untrennbare Einheit, Kafka kann nicht leben ohne zu schreiben, auch wenn das »echte« Leben dabei zu kurz kommt. In einem Interview für das philosophie magazin bringt es Safranski perfekt auf den Punkt: »Das Schreiben löst bei ihm Schuldgefühle gegenüber dem Leben aus. Aber umgekehrt, wenn er sich einlässt auf das normale Leben, tut er das innerlich mit gezogener Handbremse. Er hat das Gefühl, er versäume das Eigentliche, das Schreiben. In dieser doppelten Zangenbewegung der Schuld bewegt sich Kafka: Entweder fühlt er sich schuldig gegenüber dem Leben oder er fühlt sich schuldig gegenüber dem Schreiben.« Genau dieser Kreislauf eines permanenten Schuldgefühls zieht sich wie ein roter Faden durch Kafkas Leben und wird von Rüdiger Safranski mit Hilfe der Romane und Erzählungen herausgearbeitet.

Bei all den von ihm geschilderten Zusammenhängen, Verknüpfungen und Bezügen zwischen Kafkas Texten und den biographischen Details ist vieles Interpretation, vieles sind Gedankenspiele, fundiert, reizvoll und nachvollziehbar – doch letztendlich wird Kafkas Wesen niemals endgültig entschlüsselt werden. Und das ist gut so. Denn was wäre die Welt ohne Geheimnisse? Und doch bringt uns gerade dieses Spekulative den Prager Dichter sehr nahe und viele Passagen seiner Texte erscheinen in einem neuen, in einem anderen Licht. 

»Kafka weiß: Seine Ängste machen ihn hellsichtig. Er erfährt sich als jemand, den sein Lebensschicksal dazu verurteilt, schreibend in Gebiete vorzudringen, die denen verschlossen bleiben müssen, die in ihrer Wirklichkeit mit einigem Behagen zu Hause sind. Das Schreiben nennt er deshalb einen ›Ansturm gegen die letzte irdische Grenze‹.«

Mit Rüdiger Safranskis spannend zu lesender Biographie begleiten wir Franz Kafka ein Stück weit auf seiner Lebensreise in die Ewigkeit.  

Zum Weiterlesen
Im Blog Klappentexterin und Herr Klappentexter gibt es einen wunderbaren Beitrag, in dem es um die Flut an an Büchern zu und über Franz Kafka geht, die den Dichter unter sich zu begraben droht. Und dazu eine kleine, aber sehr feine Auswahl an Werken, die man sich aus dieser Flut herauspicken sollte. 

#KaffeehaussitzersKafkaJahr

Buchinformation
Rüdiger Safranski, Kafka – Um sein Leben schreiben
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-27972-8

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4 Antworten auf „»Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes«“

  1. Ich habe das Interview Safranskis im „Philosophie Magazin“ gelesen und war einigermaßen entsetzt, wie herablassend er sich über ein Jahrhundertgenie äußert und es zu einer Art großem Kind reduziert, das so schreibt, wie es ihm gerade durch die Birne rauscht: „ekstatische Erfahrung …wenn es fließt …Schreiben ist bei Kafka eher ein Geschehen oder ein Geschehenlassen als ein Machen“ – er kann offenbar für gar nichts etwas und funktioniert wie eine Art Medium, das auf Eingebungen wartet. Ich möchte bezweifeln, dass er damit dem sehr kalkulierten Duktus der Sprachkunst Kafkas gerecht wird. Damit nicht genug: Der Interviewer vergleicht das Schreiben Kafkas mit einem Orgasmus, was zwanglos überleitet zu Kafkas, der regelmäßig die Dienste von Sexarbeiterinnen in Anspruch nahm, angeblich problematischer Sexualität – wobei man sich, um den in diesem Zusammenhang schauerlichen Begriff „gesund“ zu vermeiden, fragt, wie denn eine unproblematische aussehen möge. Diese zwanghafte Konzentration auf das Biographische lenkt zu leicht den Blick ab vom Werk und zu den Entscheidungen, die Kafka dazu traf, zum Beispiel, dass er die Romane nicht veröffentlichen sehen und nur das gelten lassen wollte, was er autorisiert hatte. Allein daran sieht man, wie zweifelhaft die Legende vom „eruptiv“ schreibenden Autor ist.

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