Textbausteine

Textbausteine

In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind. Sie begleiten mich durch die Jahre, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt. Manche davon bedeuten mir viel, manche passten einfach nur zur jeweiligen Stimmung – an die ich mich aber auch nach langer Zeit durch diese Sätze wieder gut erinnern kann. Und manchmal sind es Texte, die ich nicht in Büchern gefunden habe, sondern die auf völlig andere Weise zu mir gekommen sind.

Die Textstellen, die ich besonders gerne mag, stelle ich hier auf Kaffeehaussitzer unter der Blog-Kategorie »Textbausteine« nach und nach vor und schreibe dazu, was sie für mich so außergewöhnlich macht oder welches besondere Ereignis ich mit ihnen verbinde.

Bisher sind es diese Blogbeiträge:

F wie Faschismus. Ein Textbaustein
Der Roman »Vergesst unsere Namen nicht« des norwegischen Autors Simon Stranger heißt im Original »Leksikon om lys og mørke«, frei übersetzt: Lexikon des Lichts und der Finsternis. Und wie in einem Lexikon beginnt jedes Kapitel mit einem Buchstaben des Alphabets und dazu passenden Worten. Beim Kapitel zum Buchstaben F steht ein Satz, den ich nicht vergessen kann, und der sich auf bedrohliche Weise hochaktuell anfühlt: »F wie früher, die Vergangenheit, die es immer noch gibt, und wie der Faschismus, der sich hineinfrisst, wie ein Furunkel in die Kultur.«

Heimkommen. Ein Textbaustein
Im Roman »Heimweh« von Graham Norton habe ich eine kurze Textstelle gefunden, die perfekt das Gefühl des Heimkommens beschreibt: Zurück in der alten Heimat zu sein, ohne dass sie ein Zuhause ist. Es sind zwei Sätze, die mich bewegt und berührt haben, da ich dieses Gefühl zu gut kenne. Und die mich dazu gebracht haben, wieder einmal über den kontroversen Begriff »Heimat« nachzudenken – für den es zwei vollkommen gegensätzliche Bedeutungen geben kann. 

lechts und rinks – ein textbaustein
Ernst Jandl ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker und Sprachkünstler des 20. Jahrhunderts. Seine Verse sind geprägt von Sprachwitz und von einer unbändigen Experimentierfreude; viele enthalten hintersinnige Botschaften, die sich auf unterschiedlichste Weise interpretieren lassen. Das 1966 entstandene Gedicht »lichtung« ist eine seiner bekanntesten Lyrikschöpfungen; einmal gelesen begleitet es mich – wie viele andere Menschen auch – seit Jahrzehnten. Und gerade ist eine seiner Lesarten aktueller denn je.

Ein Satz wie ein Geschenk
In der Beschreibung dieses Blogs heißt es, dass es darin um Bücher, Texte und Leseerlebnisse geht. Von Zeit zu Zeit werde ich gefragt, was unter einem Leseerlebnis zu verstehen sei, doch darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Manchmal kann es lediglich aus einer kurzen Textstelle, einem einzigen Satz bestehen – wenn ich dort Worte finde, die etwas in mir verändern. Worte, die mich mitten ins Herz treffen. Die Trost spenden und eine offene Wunde schließen. Oder zumindest ein Pflaster darauf kleben. Und genau solch ein Pflaster, solch eine Textstelle ist mir auf den ersten Seiten des Romans »Chamäleon« von Annabel Wahba begegnet. 

Am Tag nach dem Ende
Die libanesisch-amerikanische Autorin und Künstlerin Etel Adnan ist am 14. November 2021 mit 96 Jahren in Paris gestorben. Ein bewegtes, kämpferisches, intellektuelles und kreatives Leben war zu Ende gegangen. Zwischen den Nachrufen auf sie bin ich auf sechs Zeilen eines ihrer Gedichte gestoßen, die es in sich haben. Und die ich nie wieder vergessen werde.

Die Jahre vergehen: Es ist die Zeit, die uns alle einholt
Es war ein Leseerlebnis, wie es nicht allzu oft vorkommt. Ich hatte den Roman »Red Pill« von Hari Kunzru aufgeschlagen – und direkt die ersten Sätze haben mich so tief getroffen, dass ich sprachlos vor dem Buch saß und dachte, genau, ganz genau so ist es. Hari Kunzru ist 1969 geboren und damit der gleiche Jahrgang wie ich. In »Red Pill« schreibt er aus der Sicht eines Fünfzigjährigen darüber, wie es sich anfühlt, wenn man zu ersten Mal bemerkt, dass einen das Älterwerden nun doch eingeholt hat, auch wenn man es lange nicht wahrhaben wollte. Es sind lediglich ein paar Sätze, doch sie bringen dieses Gefühl absolut treffend auf den Punkt.

Leïla Slimani über wahre »Cancel Culture«. Ein Textbaustein
In einer brillanten Rede zur Eröffnung des 21. Internationalen Literaturfestivals Berlin spräch die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani über die wahre »Cancel Culture«. Denn sie existiert, sie löscht Kulturen, Gesellschaften und Menschenleben aus. Es ist besonders eine Passage der Rede, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht und die daher unbedingt in diese Textsammlung aufgenommen werden musste.

Alles anders? Ein Textbaustein
Einmal saß ich in einem Kölner Café, doch anstatt zu lesen, wie ich es eigentlich vorhatte, starrte ich auf einen Satz, der an der Wand stand. Es waren nur sieben Wörter, doch sie lösten eine wahre Gedankenlawine aus. Ein Was-wäre-wenn-Moment, den ich nicht erwartet hatte – und nicht wieder vergessen werde. 

Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein
Die Gentrifizierung ganzer Stadtviertel und die damit verbundene Verdrängung einkommenschwacher Bevölkerungsgruppen ist eines der größten Probleme unseres Wohnungsmarktes. Dabei geht es nicht nur um bezahlbaren Wohnraum, sondern um eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Im Roman »Der Solist« von Jan Seghers bin ich auf eine Textstelle gestoßen, die diese Entwicklung perfekt auf den Punkt bringt. Derb, polemisch, überspitzt. Trotzig. Und wütend.

Die große Angst. Ein Textbaustein
Wie viele andere Leser hatte auch ich eine Hermann-Hesse-Phase. Sie ist schon lange her, aber in »Narziß und Goldmund« gibt es eine Textstelle, die mich damals bis in Mark getroffen hat. Und wenn ich heute in dem alten, verschrammten Suhrkamp-Taschenbuch blättere und diese Stelle lese, dann sind eine Menge Erinnerungen wieder da. An eine Zeit im Leben, die eine Mischung war aus Aufbruchstimmung und Rastlosigkeit.

»Der Feind steht rechts!«
Dieser Ausschnitt aus einer der wichtigsten Reden der Weimarer Republik hat Gültigkeit bis heute: Faschistische Parteien sind keine politischen Gegner, mit denen man zur Not auch einmal paktieren kann. Sie sind Feinde jeder Gesellschaft.

Älterwerden. Ein Textbaustein
Zufälle gibt es nicht. Da macht man sich Gedanken über das Älterwerden und das Vergehen der Zeit – und stößt kurz darauf im damals noch gar nicht erschienenen Roman »Propaganda« von Steffen Kopetzky auf genau die Worte, die diese Gefühle ausdrücken. Wunderschön.

Die Präsenz der Bücher
»Nur etwas, das gepflegt werden muss, das eine Präsenz hat, das Raum im Leben einnimmt, kann auch eine Bedeutung haben.« Im ZEIT-Magazin habe ich einen wunderbaren Text von Tillmann Prüfer gefunden, der exakt mein Lebensgefühl wiedergibt, wenn es um Bücher geht.

Welten hören auf
Mitten auf dem Kölner Melatenfriedhof, umgeben von alten Gräbern, riesigen Bäumen, aufsteigendem Dunst und krächzenden, schwarzen Vögeln habe ich das Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko über den Tod und die Vergänglichkeit kennengelernt. Ein ganz und gar magischer Moment.

Bügeln mit Pearl Jam
Wieso eine kurze Liedzeile einem mehr bedeuten kann als so manch tausendseitiger Roman: Ein Beitrag über das Unterwegssein, über Liebeskummer, das Älterwerden und die Vergänglichkeit. Und über den besten Song aller Zeiten.

¡Viva la librería!
Es sind drei kurze Sätze, die zeigen, dass die Wörter Freiheit und Buchhandlung unmittelbar zusammengehören. Drei kurze Zeilen, in denen es um nichts weniger geht als die Freiheit des Wortes und damit der Meinung und des Geistes. Und darum, was für eine wichtige Rolle die Buchhandlungen, die Verlage und die Presse dabei spielen.

Zeitreise als Utopie – ein Textbaustein
Manchmal erlaube ich mir ein wenig Eskapismus; ich brauche das, um mich wieder im Hier und Jetzt zu verorten. Dann reise ich gedanklich in die Welt des beginnenden 19. Jahrhunderts. Warum das reizvoll sein kann, erläutert dieser Text, denn »die Welt war damals sicher nicht heil, aber ihr Unheil hatte menschliche Dimensionen.«

Ein Textbaustein, hochprozentig
Frank Goosens wunderbarer Text aus seinem Buch »So viel Zeit« über die Freundschaft, das Leben und die Zeit, die man miteinander verbringt.

Max Goldt und das Organ der Niedertracht
Der Schriftsteller Max Goldt hat vor vielen Jahren mit gewohnt spitzer Feder seine Meinung über die Boulevardpresse kundgetan, insbesondere über das Blatt mit den vier Buchstaben. Ein böser Text, aber aktueller denn je.

Wer nichts weiß, muss alles glauben
Der Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von Immanuel Kant ist 230 Jahre alt und für mich einer der wichtigsten Texte, die je geschrieben wurden. Wenn ihn mehr Menschen lesen und verinnerlichen würden, könnte die Welt vielleicht zu einem besseren Ort werden.

Geld? Spielt eine Rolle
Der Text aus Max Frischs Tagebüchern über Geld und die Sinnlosigkeit der meisten unserer Tätigkeiten hatte mich vor zwei Jahrzehnten in seiner Radikalität begeistert. Und auch zwanzig Jahre nach dieser Lektüre bringt er das Wesen unserer Gesellschaft klar auf den Punkt, sogar mehr denn je. Aber was bedeutet er für das eigene Leben?

Ein Textbaustein des Herrn B.
Schön doppeldeutig: Eine der Geschichten vom Herrn Keuner zum Thema Veränderung. Dieser kurze Text von Bertolt Brecht begleitet mich nun schon ein halbes Leben und ich weiß leider nicht mehr, wo und wann ich ihn das erste Mal gelesen habe. Aber er ist mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Wahrscheinlich, weil das Thema Veränderung mir schon immer sehr wichtig war und ist. Veränderung bedeutet Leben, Stillstand hält das Leben an.

Ein Textbaustein aus Mittelerde
Tolkiens »Der Herr der Ringe« ist eine sprachlich herausragende Erzählung und so unglaublich vielschichtig, dass man bei jedem wiederholten Lesen immer wieder neue Details entdeckt oder sogar das Gefühl hat, ein gänzlich anderes Buch in der Hand zu halten als beim letzten Mal. Eine Abenteuergeschichte. Ein Roadmovie. Ein Märchen. Ein Gleichnis. Eine Sage, mystisch. Und eine Liebe fürs Leben. Dabei hat es mir eine kurze Textstelle besonders angetan.

Die Tramper-Zeit. Ein Textbaustein
Früher bin ich viel getrampt, allein oder mit Freunden und auf diese Weise durch halb Europa gekommen. Es war eine gute Zeit, auch wenn man in der Erinnerung dazu neigt, diese manchmal doch sehr mühsame Art der Fortbewegung etwas zu verklären. Der Tramper-Roman schlechthin ist Jack Kerouacs »Unterwegs« und eine Stelle darin bringt es wunderbar auf den Punkt, was man aus dieser Zeit lernen konnte: Gelassenheit. Denn angekommen ist man irgendwie immer.

In die Falle gegangen? Ein Textbaustein, mitwachsend
Franz Kafkas »Kleine Fabel«, die kurze Geschichte von der Maus, der Falle und der Katze hat mich von Beginn an fasziniert. Doch erst heute, viele Jahre und Erfahrungen später, kommt sie mit der ganzen Wucht, die zwischen den Zeilen ruht, richtig zum Tragen.

Zeitlos schön: Ein Textbaustein des Dorian Gray
Manchmal erkennt man die Schönheit einer Textstelle in einem Buch nicht gleich auf den ersten Blick. Vielleicht hat man zu schnell gelesen, vielleicht ist sie im Zusammenhang der Handlung nicht sofort aufgefallen und man bemerkt ihre Eleganz erst, wenn sie alleine steht. So ging es mir mit einem kurzen Abschnitt aus »Das Bildnis des Dorian Gray« von Oscar Wilde.

Venezianischer Textbaustein
Das hier ist meine Lieblingsstelle in dem wunderbaren, großartigen Buch »Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz« des italienischen Autorenduos Fruttero & Lucentini. Ein ewig Reisender und eine wunderschöne Sprache.

Positiv denken mit Franz Kafka
Es gibt Momente im Leben, die sind von solch unglaublich kristallener Klarheit, als wäre gerade ein Vorhang weggezogen worden, der die Gedanken blockiert hatte. Solche Schlüsselmomente sind selten, daher bleiben sie meist sehr lange in Erinnerung. Als ich im Frühjahr 1991 lesend im Kaffeehaus  saß, habe ich einen solchen erlebt.

7 Antworten auf „Textbausteine“

  1. Kaffeehaussitzer-Blog als visuelles Ereignis. Klar-luftiges Layout, appetitliche Navigation, geschmackvolle Illustration mit geschmackvollen Fotos. Ich bin seit über einer Stunde hier und das hat auch mit der „Inneneinrichtung“ dieses Kaffeehauses zu tun. Natürlich nicht nur. Ich war ja hier, um zu lesen…

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