Eine Botschaft vom Tiefpunkt

Vaterland, Muttersprache: Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit 75 Jahren und natürlich ist dies ein Grund zum Feiern. Denn allen Baustellen zum Trotz, die wir in unserem Land gerade zu bewältigen haben, ist es die Grundlage für unser Leben in einer der freiesten Gesellschaften auf dieser Erde. Aber unsere Demokratie und unsere Freiheit sind keine Selbstverständlichkeiten – ganz im Gegenteil, sie sind permanent von außen wie von innen bedroht und müssen stets aufs Neue verteidigt werden. Und niemals darf dabei vergessen werden, dass auch unser Grundgesetz aus Asche, Ruinen und Zerstörung geboren wurde. Aus millionenfachem Tod und unsäglichem Leid, mit dem Deutschland einst die halbe Welt überzogen hatte. Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zumindest in Europa zu Ende war, und erst allmählich die Dimensionen der Vernichtung und das Grauen der Konzentrationslager sichtbar wurden, war die deutsche Geschichte an ihrem Tiefpunkt angelangt – und dass das Land der Täter jemals wieder zum Kreis der zivilisierten Völker gehören würde, in diesem Moment kaum vorstellbar. Trotzdem ist es gelungen. Und heute, viele Jahrzehnte später, sind die Ereignisse jener Jahre in weite Ferne gerückt, die letzten Zeitzeugen sind alte Menschen geworden und bald wird niemand mehr von ihnen leben. Genau deshalb ist es so wichtig, die Erinnerungen an diesen Tiefpunkt, an diese Stunde Null wachzuhalten. Denn wir Nachgeborene haben keine Schuld an den Verbrechen, die in deutschem Namen verübt wurden – aber wir tragen die Verantwortung dafür, dass sie sich niemals wiederholen. Das ist unser historisches Erbe. 

Ich möchte in diesem Blogbeitrag einen Text des Dichters Franz Werfel vorstellen, den er am 25. Mai 1945 geschrieben hat, also nur etwas mehr als zwei Wochen nach Kriegsende. Gefunden habe ich ihn in dem Sammelband »Vaterland, Muttersprache«, der 1994 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und immer noch lieferbar ist – und der eine grandiose Zusammenstellung von Texten aller Art enthält, in denen sich deutsche Autoren und Autorinnen seit 1945 mit ihrem Staat auseinandersetzen. Eine wahre Fundgrube und ein Stück Zeitgeschichte.

Franz Werfel: An das deutsche Volk

25. Mai 1945

»Deutsche Menschen! Es ist eine furchtbare Prüfung, durch die ihr gehen müßt, eine Prüfung ohne Muster und Beispiel in der Weltgeschichte. Nicht daß eure stolzen Armee zerschlagen und gefangen sind, nicht daß eure blühenden Städte in Trümmern liegen, nicht daß Millionen von euch, aus ihren verkohlten Wohnstätten vertrieben, obdachlos und hungrig über die Landstraßen wandern, nicht in all diesem materiellen Elend, so grauenhaft es auch ist, liegt die furchtbare Prüfung, der ihr unterworfen seid. Dasselbe Elend, das euch jetzt hohläugig durch Ruinen jagt, habt ihr den anderen Völkern Europas kaltherzig selbst bereitet und habt euch nicht einmal umgesehen nach dem Jammer, der euer Werk war. Die Völker haben diesen Jammer überdauert, und auch ihr werdet den Jammer überdauern, unter einer einzigen Bedingung freilich, daß ihr eure Seele rettet. Und das ist die furchtbare Prüfung und die große Frage: ›Wird Deutschland seine Seele retten?‹ Es geht um die objektive Erkenntnis des Geschehenen und um die subjektive Erkenntnis der Schuld.

Deutsche Menschen! Wißt ihr, was durch eure Schuld und Mitschuld geschehen ist in den Jahren des Heils 1933 bis 1945, wißt ihr, daß es Deutsche waren, die Millionen und Millionen friedfertiger, harmloser, unschuldiger Europäer mit Methoden umgebracht haben, die den Teufel selbst schamrot machen würden, kennt ihr die Bratöfen und Gaskammern von Maidanek, den Jaucheberg verwesender Mordopfer in Buchenwald, Belsen und hundert anderen Höllenlagern. … Das Verbrechertum des Nationalsozialismus und die unsagbare Verrohung des deutschen Wesens sind logische Folgen der frechen Teufelslehren, die vom ›Recht des Stärkeren‹ schwärmen und behaupten, Recht sei einzig und allein das, was dem Volke, das heißt ein paar Bonzen und Gauner, nützt. …

Deutsche Menschen! In dieser schrecklichen Stunde der Prüfung gedenket mit Demut und Dankbarkeit eurer heiligen und großen Meister, die in der Ewigkeit für euch zeugen. Sie allein können die Schmach von euch nehmen – im Angesichte Gottes, der alles vorüberläßt, so auch diese Stunde.«

Köln 1945

Eine Mahnung als Abschiedsgruß

Es ist ein Text, der mir unter die Haut geht. In jeder Zeile, in jedem Wort liest man Franz Werfels Erschütterung. Die Erschütterung eines Menschen, der jahrelang auf der Flucht vor den Nazischergen war, bis ihm die Emigration in die USA gelang. Eines Menschen, der seine Heimat verlor und mit ansehen musste, wie sich eine Kulturnation in kürzester Zeit in einen barbarischen Terrorstaat verwandelte. 

Franz Werfel war deutschböhmischer Österreicher mit jüdischen Wurzeln und einer der wichtigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er gilt als ein Wegbereiter des lyrischen Expressionismus, sein bekanntester Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« über den Völkermord an den Armeniern ist ein moderner Klassiker. Werfel war befreundet mit Franz Kafka und Max Brod, floh 1940 zusammen mit seiner Frau Alma Mahler – der Witwe Gustav Mahlers – sowie Heinrich, Nelly und Golo Mann zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien. Von dort gelang die Überfahrt in die Sicherheit der USA. 

Und aller Erschütterung zum Trotz glaubt er in der Stunde der völligen Zerstörung an einen Neuanfang, glaubt er daran, dass das deutsche Volk seine Seele retten könne. Vielleicht. 

Nur wenige Monate später, am 26. August 1945 starb Franz Werfel an einem Herzinfarkt in Kalifornien. Die Verabschiedung des Grundgesetzes als Schritt in eine neue Zeit hat er nicht mehr erlebt, den verwüsteten Kontinent Europa nicht mehr betreten. Seine Worte sind ein Abschiedsgruß, eine Botschaft vom Tiefpunkt der Geschichte und eine Mahnung an alle folgenden Generationen. Eine Mahnung an uns.  

Buchinformation
Klaus Wagenbach, Winfried Stephan, Michael Krüger und Susanne Schüssler (Hrsg.), Vaterland, Muttersprache – Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945
Mit einem Vorwort von Peter Rühmkorf
Verlag Klaus Wagenbach
ISBN 978-3-8031-3110-2

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3 Antworten auf „Eine Botschaft vom Tiefpunkt“

  1. Vielen Dank für die Erinnerung an den Text von Franz Werfel, geschrieben unmittelbar nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945, die er im Exil in den USA zu kurz überlebte.
    Zur Vorgeschichte und Entstehung des Grundgesetzes wird diese Anklage und Mahnung beigetragen haben.
    Den Band „Vaterland, Muttersprache“ habe ich gelesen und aus dem Nachlass meines Vaters geerbt (Verlag Klaus Wagenbach, Quartheft 100, Berlin 1979). Freut mich, dass er wiederaufgelegt wurde.
    Gute Wünsche und Grüße

  2. Ganz herzlichen Dank für diesen Text, den ich nicht kannte. „Gedenkt in Demut und Dankbarkeit eurer heiligen Meister!“ Ich gedenke heute in Demut Franz Werfel: danke, Franz!

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