Berlin – Chicago – Jerusalem

Dana Vowinckel: Gewaesser im Ziplock

Der Roman »Gewässer im Ziplock« von Dana Vowinckel wurde schon einmal hier erwähnt, gehört er doch zu den fünfzehn besten Büchern, die ich im letzten Jahr gelesen habe. Nun durfte ich die Autorin bei einer Veranstaltung des Kölner Literaturhauses live erleben und das ist eine gute Gelegenheit, ihr Buch endlich ausführlich vorzustellen. »Gewässer im Ziplock« ist eine Familiengeschichte. Eine Familiengeschichte, durch die sich Risse ziehen; manche sind unübersehbar, andere ganz fein und im täglichen Leben kaum wahrzunehmen. Doch gerade die feinen Risse sind es, aus denen die Schatten der Geschichte hervorquellen und die sich jederzeit in aufplatzende, tiefe Furchen verwandeln können.

Die fünfzehnjährige Margarita lebt in Berlin und schlägt sich mit den üblichen Problemen einer Pubertierenden herum. Etwas ist jedoch anders als bei vielen Gleichaltrigen: Sie ist Jüdin, ihr Vater arbeitet als Chasan, als Vorbeter und -sänger in einer Synagoge. Und dieses Gefühl des Andersseins, das sie nur schwer in Worte fassen kann, zieht sich durch ihren Alltag: Die Schule hinter einem Sicherheitszaun, der Vater, der die Kippa unter einer Baseballkappe verbirgt, dumme Sprüche auf Partys, immer wieder antisemitische Anfeindungen. Und über allem liegt unausgesprochen der finstere Schatten der Shoah, ein Schatten, der nie vergehen kann, besonders nicht im Land der Täter. Die Romanhandlung umfasst wenige Wochen in einem Sommer, der Margarita von Berlin über Chicago nach Jerusalem führen wird; Wochen, die ihr Leben prägen werden. Die Erzählweise aus zwei Perspektiven – der ihren und der ihres alleinerziehenden Vaters Avi – verleihen der Handlung eine besondere Tiefe.

Dana Vowinckel liest aus »Gewaesser im Ziplock«
Dana Vowinckel liest aus »Gewässer im Ziplock«

In jenem Sommer ist Margarita bei ihren Großeltern in Chicago zu Besuch; es sind die Eltern ihrer Mutter. Ihrer Mutter, die sie kaum kennt, da sie die Familie kurz nach dem Umzug nach Berlin verlassen hat. Sie fühlt sich bei ihren Großeltern nicht wohl, kommt sich von ihrem Vater abgeschoben vor, vermisst ihr Leben in Berlin, vermisst den Jungen, in den sie sich – wahrscheinlich – verliebt hat; Heimweh und der Gefühlswirrwarr einer Fünfzehnjährigen vermischen sich zu einer bitteren Einsamkeits-Melange. Da meldet sich ihre Mutter Marsha aus Jerusalem; sie hat an der dortigen Universität eine Stelle als Linguistik-Professorin erhalten. Bis zum ersten Arbeitstag ist noch Zeit und sie schlägt Margarita vor, zu ihr zu kommen, um Israel kennenzulernen. Und ihre Mutter. Widerstrebend macht sie sich auf den Weg zu der Frau, die sie einst im Stich ließ. Und nicht lange nach dem Telefonat landet ihr Flugzeug in Tel Aviv. 

Das sind die drei Handlungsstränge des Romans: Das Leben Margaritas und Avis in Berlin. Die Reise Margaritas und Marshas durch Israel. Und Margaritas Beziehung zu ihren Großeltern in Chicago. Gleichzeitig lernen wir dabei völlig unterschiedliche jüdische Lebenswelten kennen. Diese Unterschiede waren eines der vielen Themen, über die Dana Vowinckel in Köln mit dem Moderator Manuel Gogos gesprochen hat. Denn jüdischen Autorinnen und Autoren wird in Interviews oft die Frage nach der Tradition des jüdischen Familienromans gestellt; Referenzen sind dann gerne die Bücher von Philip Roth oder Maxim Biller oder Werke wie Irene Disches »Großmama packt aus«. Und natürlich gibt es universale Erfahrungen der jüdischen Gemeinschaften weltweit; das Grauen der Shoah, das erst zwei Generationen zurückliegt, prägt die Gefühle bis heute. Doch innerhalb dieser universalen Erfahrungen sind jüdische Familien so unterschiedlich wie alle anderen auch. Und die jüdischen Gemeinschaften so heterogen wie alle anderen Gemeinschaften; in Deutschland zum Beispiel ist die jüdische Community in vielen Fragen sehr zerstritten – so die Autorin, die sich im Tagesspiegel zu ihrem Buch äußerte: »Ich will jüdisches Leben erzählen, nicht erklären.« Und genau dies gelingt ihr auf großartige, auf mitreißende Weise. 

Durch die Perspektivwechsel, durch die sich parallel entwickelnden Handlungsstränge, durch Rückblenden und durch das Unterwegssein der Protagonisten – auch Avi wird nach Jerusalem kommen, als dort alles aus dem Ruder zu laufen beginnt – erhalten wir Einblicke in die große Vielfalt des jüdischen Lebens. Avi, der erst Pilot bei der israelischen Luftwaffe war, dann den Weg zur Religion gefunden hat und jetzt in einer Synagogen-Gemeinde in Berlin arbeitet; umgeben von dem deutschen Erinnerungstheater, das jederzeit einen Blick freigeben kann auf einen Antisemitismus, der nie weg war. Der als alleinerziehender Vater mit seiner Tochter ein einfaches Leben lebt, ihr aber Stabilität bietet und einen ruhigen, getakteten, schon fast ein wenig spießigen Alltag. Der – natürlich – besorgt ist um ihr Wohlergehen, aber nicht übervorsichtig. 

Marsha, die aus einer gutsituierten Chicagoer Familie stammt. Für die Avis Stelle in Berlin – die er angenommen hatte, ohne es mit ihr abzusprechen – etwas Unvorstellbares bedeutete. Sie war ihm zwar nach Deutschland gefolgt, aber in dem Land des Holocausts, der Shoa, der Vernichtung war es ihr unmöglich zu leben. Es funktionierte nicht, sie musste gehen und ließ ihren Mann mit ihrer Tochter ratlos zurück. 

Und Margarita, die wir auf ihrer Reise durch einen chaotischen Sommer begleiten. Als deutsche Jüdin fühlt sie sich fremd in Israel, fühlt sich fremd bei ihrer Mutter. Fühlt sich fremd mit sich selbst. Die Frage, ob Margaritas Grundemotion geprägt sei von Wut oder Scham verneinte die Autorin. Für Dana Vowinckel ist es in erster Linie das Gefühl der Verwunderung, das Margarita überallhin begleitet und mit dem sie dem Leben begegnet. Wohin, zu wem gehört sie? Wer ist ihre Familie? Es sind existenzielle Fragen, verknüpft mit der Geschichte von Menschen, deren Existenz seit unzähligen Generationen permanent bedroht ist. 

Durch die grauenvollen Ereignisse des 7. Oktober 2023 und deren Folgen hat »Gewässer im Ziplock« eine bedrückende Aktualität erhalten. In Köln ging es natürlich auch um dieses Thema. Doch Dana Vowinckel und Manuel Gogos gelang es, das Gespräch über das Buch dadurch zu vertiefen, ohne dass es alles dominiert hätte. Überhaupt hätte ich den beiden noch viel länger zuhören können, als die neunzig Minuten an diesem Abend, sie harmonierten wunderbar auf der Bühne. Einige Passagen des Gesprächs sind mir besonders im Kopf geblieben. Etwa als Dana Vowinckel sagte, dass für sie das Schreiben immer politisch ist, es sei gar nicht anders möglich – denn auch wenn sich eine Autorin, ein Autor beim Schreiben nicht politisch positioniert, so ist auch dies eine Positionierung. Und wenn sie als Autorin die politische Position einer ihrer Figuren beschreibt, müsse sie sich vollkommen in diese Haltung hineindenken können, auch wenn sie selbst eine gänzlich andere Meinung habe. Eine in diesem Sinne äußerst gelungene Stelle ist der Streit zwischen Avi und seiner Schwester, die beide sehr unterschiedliche Vorstellungen von Israel haben. Dana Vowinckel selbst sieht vieles an der aktuellen israelischen Politik kritisch, lehnt die Siedlerbewegung vehement ab – aber besonders der Erfolg der islamofaschistischen Ideologie zeigt deutlich, dass es den israelischen Staat braucht. Mehr denn je. 

Angesprochen auf die Frage, wie sich ihr eigenes Jüdischsein nach dem 7. Oktober und angesichts der Zunahme antisemitischer Übergriffe anfühlen würde, gab Dana Vowinckel die einzig richtige Antwort: Es ist falsch, dass jüdische Menschen danach gefragt werden. Vielmehr sollte man alle anderen fragen, warum sie diesen Hass auf unseren Straßen dulden? Und wie man es schaffen kann, dass unser Land für alle Menschen sicher ist, die dort leben. 

Dana Vowinckel und Manuel Gogos
Dana Vowinckel und Manuel Gogos

Wie gesagt, ich hätte den beiden noch viel länger zuhören können: Auf der einen Seite die spannenden Fragen von Manuel Gogos, die nicht nur neugierig auf das Buch machten, sondern es in einen größeren Kontext einordneten. Und auf der anderen Seite Dana Vowinckel, deren entspannt, aber gleichzeitig souverän wirkender Auftritt mir noch lange im Kopf bleiben wird. Bei der Gelegenheit sei die Folge des Suhrkamp-Podcasts »Dichtung & Wahrheit« empfohlen, in der sie darüber spricht, wie man über junges jüdisches Leben heute schreibt. 

Und wer wissen möchte, was eigentlich »Gewässer im Ziplock« bedeutet – auch das verriet uns die Autorin an jenem Abend. Der Titel entstand aus einer spontanen Eingebung heraus. Als sie an dem Roman schrieb, reichte Dana Vowinckel die ersten Seiten ihres Textes für den Bachmann-Preis ein. Und als alles für die Post vorbereitet war, musste auf die Schnelle noch ein Titel her. Aus irgendeinem Grund hatte sie in diesem Moment eine Stelle aus dem 93. Psalm im Kopf, wo die Wasser, die Fluten brausen. Und da im Buch viel gereist wird, dachte sie gleichzeitig an die praktischen Ziplock-Beutel, in denen man seinen Kleinkram verstaut. Und wie es manchmal so ist: Die Gedanken verknüpfen sich, seltsame Kombinationen entstehen; etwa wie es wohl wäre, wenn man die brausenden Gewässer transportieren könnte. Tja, und das war es dann. Es blieb der Arbeitstitel, als das fertige Manuskript bei Suhrkamp das Lektorat durchlief, dann in den Satz ging und als alles bereit war zum Drucken meinte jemand noch, ob das jetzt wirklich der endgültige Titel sei – aber die Zeit bis zum Erscheinungstermin drängte und das Buch ging in Produktion. Und auf der Titelseite steht: »Gewässer im Ziplock«. 

Buchinformation
Dana Vowinckel, Gewässer im Ziplock
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47360-3

#SupportYourLocalBookstore

3 Antworten auf „Berlin – Chicago – Jerusalem“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert