Seit Jahren nehme ich es mir vor, aber tatsächlich habe ich noch kein einziges Buch von James Baldwin gelesen. Irgendwie hat es nie gepasst oder ein anderer Titel kam dazwischen. Jetzt wäre er hundert Jahre alt geworden und anlässlich dieses Jubiläums sind die Werke des Ausnahmeautors noch einmal präsenter in meiner Wahrnehmung – sehr lesenswert ist zum Beispiel der Beitrag im Blog intellectures über sein Leben, seine Bücher und deren Rezeption bis heute. Ein Text, der deutlich macht wie untrennbar Baldwins Schreiben und Leben miteinander verbunden sind. Schreiben, um zu leben. Und nicht zuletzt ist es diese Intensität, die ihn nach seinem Tod zu einer ikonischen Figur werden ließ.
Eine Ikone, deren Zitate sich verselbständigt haben: Das Internet ist voll mit Baldwin-Sprüchen und aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen. Unzählige tauchen auf, wenn man sich bei Google auf die Suche begibt. Der Journalist und Baldwin-Biograph René Aguigah bringt es bei Deutschlandfunk Kultur auf den Punkt: »James Baldwin führt fast vier Jahrzehnte nach seinem Tod 1987 ein Nachleben als Influencer auf Social Media. Ausgerechnet er, der Schriftsteller, der das Fernsehen als ein Medium betrachtete, das seine Landsleute in den USA davon abhielt, erwachsen zu werden, ist allgegenwärtig im Internet, dem Medium des 21. Jahrhunderts. Das liegt daran, dass es ungezählte Fotos von Baldwin gibt, die man heute instagrammable nennen muss.«
Ein Bild des charismatischen Autors, dazu ein schönes Zitat und fertig ist das Posting. Das wird dem Werk Baldwins in keinster Weise gerecht, kann im schlimmsten Fall sogar etwas banal wirken, sieht aber gut aus.
Und trotzdem.
Und trotzdem bin ich vor einiger Zeit bei einer Baldwin-Recherche, die mir Dutzende dieser Bild-Text-Kombinationen auf den Bildschirm gespült hat, auf ein solches Zitat gestoßen, das mich nicht mehr losgelassen hat. Damals habe ich – da ich in Eile war – kurzerhand den Monitor abphotographiert, um es nicht mehr zu verlieren. Denn in der Beschreibung meines Blogs heißt es seit elf Jahren: »Ich stelle hier Bücher und Texte vor, die mich begeistert, inspiriert, bewegt, fasziniert oder nachdenklich gemacht haben.« Und dieses Zitat von James Baldwin erfüllt alle diese Punkte auf einmal; daher musste es unbedingt in die Sammlung der Textbausteine mit aufgenommen werden.
Hier ist es, viele von euch kennen es bestimmt schon:
»You think your pain and your heartbreak
are unprecedented in the history of the world,
but then you read.
It was books that taught me that the things
that tormented me most were the very things
that connected me with all the people who were alive,
or who had ever been alive.«
Diese wenigen Zeilen beschreiben für mich das Wesen der Literatur so treffend und so gut, wie es nur möglich ist. Zwei perfekte Sätze. Und auch wenn ich niemals so anmaßend sein würde, eigene prägende oder leidvolle Erfahrungen mit denen James Baldwins zu vergleichen, der in mehrfacher Hinsicht ein Ausgegrenzter war, so beginnt doch sofort das Gedankenkarussell zu kreisen.
Und man erinnert sich an die Momente, in denen man in einem Buch genau die Worte für ein Gefühl gefunden hat, die man schon lange suchte – ohne sie je formulieren zu können.
Und man erinnert sich daran, wie man bei Lesen eines Romans dachte, in einen Spiegel zu schauen – und sich selbst darin zu sehen.
Und man erinnert sich daran – es ist lange her -, wie ein einziger Roman einem die Tür aufgestoßen hat in eine Welt jenseits der bürgerlichen Konventionen, die man zuvor nicht kannte.
Und man erinnert sich daran, wie einem ein Text neue Kraft gegeben hat, als man in einer Sackgasse feststeckte. Oder wie einem klar wurde, dass die Endlichkeit des Lebens dessen Sinn ausmacht oder von welchen Zufällen unser Schicksal abhängt.
Und man erinnert sich daran, wie einem ein Buch dabei half die eigene Trauer zu verarbeiten. Oder zumindest damit umgehen zu lernen. Ein zutiefst emotionales Leseerlebnis.
Denn Literatur ist keine Flucht vor dem Leben. Sie ist ein Teil davon. In einem anderen Text hier im Blog heißt es: »Leben ist Veränderung, Stillstand beendet das Leben. Bücher helfen mir dabei, nicht stillzustehen, sie bringen mich weiter, lassen mich andere Lebensentwürfe kennenlernen, mich teilhaben an fremden Schicksalen; sie erschließen mir neue Horizonte in der Gegenwart und in der Vergangenheit, verflechten sie miteinander, um die Zukunft zu verstehen. Bücher lassen mich meinen Platz in der Welt finden. Immer wieder aufs Neue. In immer wieder neuen Welten.«
Mit James Baldwins kurzem Text kommt noch eines dazu: Du bist dabei nicht alleine.
Und es wird höchste Zeit, mit seinen Büchern zu beginnen.
*Hier auf Kaffeehaussitzer gibt es die Textbausteine, eine Sammlung von kurzen Passagen, Auszügen und Texten, die mir wichtig sind. Manche von ihnen begleiten mich schon seit vielen Jahren.
Habe von ihm – mit grossem Gewinn – die Essays gelesen!
Mit James Baldwin wurde ich groß. Vermutlich sehr früh aus heutiger Sicht wurden mir seine Bücher in die Hand zum lesen gegeben und ich staune, wie unbekannt er ist. Ich freue mich, wenn Du ihn liest.
Ein Hinweis noch, vermutlich weniger für Deine Seiten, der eingangs erwähnte Journalist hat gerade ein Buch über Baldwin herausgebracht. Das wäre dann wenigstens auf Papier.
Danke Dir für den Hinweis, ich habe es im Text ergänzt.