Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ein Abend, der für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden ist. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen.
Der 1958 in Luzern geborene Stefan Ineichen lebt in Zürich, er ist Ökologe und Dozent an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Und Sachbuchautor: Sein neuestes Buch, »Principessa Mafalda«, ist bereits das dritte zu einem maritimen Thema – nach einem Werk über das dramatische Ende der Cap Arkona im Jahr 1945 und einem Buch, das die Schicksale der Schweizer an Bord der Titantic untersuchte. Es sind Schiffe, die für Tragödien stehen, tief eingebettet in die kollektive Erinnerungskultur. Die Principessa Mafalda ist ein Name, der bei uns in Mitteleuropa kaum bekannt ist. Ich zumindest hatte noch nie von diesem Schiff gehört – und bin sehr froh, dass dieses Buch meine Wissenslücke geschlossen hat. Denn es führt uns tief und weit verästelt hinein in die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Der »Windhund des Meeres«
»Windhund des Meeres« nannte man die Principessa Mafalda; sie war ein italienischer Hochseedampfer, der in 16 Tagen die Strecke Genua – Barcelona – Dakkar – Rio de Janeiro – Buenos Aires fuhr. Im Taktverkehr. Das Schiff war von 1909 bis 1927 im Einsatz und brachte Tausende Menschen über den Atlantik – Prominente und Luxusreisende, Touristen, Geschäftsleute, Politiker, Wissenschaftler, Gesandte und Künstler. Und unzählige italienische Auswandererfamilien. Denn Europa war zu jener Zeit ein Auswanderungskontinent, viele Menschen suchten ihr Glück in Südamerika, in den boomenden Staaten Brasilien und Argentinien wurden immer frische Arbeitskräfte gebraucht. Vor diesem Hintergrund schildert Stefan Ineichen einen ganz besonderen Aspekt der europäischen Migration: Viele der Dritte-Klasse-Passagiere waren globale Wanderarbeiter. Italienische Erntehelfer, die während des europäischen Winters keine Beschäftigung hatten, fuhren nach Südamerika, um dort auf den Farmen zu arbeiten. Und im Frühsommer wieder zurück. Aber auch in ganz anderen Bereichen war dieses Pendeln gang und gäbe: Orchester tourten während der europäischen Sommerpause durch die Opernhäuser Argentiniens oder Brasiliens; so fuhren auf der »Principessa Mafalda« etwa die Wiener Philharmoniker mit einem Gastdirigenten namens Richard Strauss in Richtung Südamerika.
Ein spannender und vielen Menschen unbekannter Teil der europäischen und südamerikanischen Geschichte – und ein schönes Beispiel für das Konzept des Buches, denn es geht nicht allein um das Schiff, sondern vor allem um die Menschen, die auf ihm fuhren. Aus all diesen geschilderten Schicksalen entsteht ein Kaleidoskop aus Geschichte und Geschichten – und allein die Belegung der »Principessa Mafalda« war ein Spiegel der damaligen Gesellschaft: 98 Plätze gab es für Gäste der Luxusklasse, 71 Plätze standen für Passagiere der ersten Klasse zur Verfügung. 130 Plätze für die zweite Klasse. Und in großen, stickigen Schlafsälen knapp über der Wasseroberfläche konnten bis zu 1.079 Passagiere der dritten Klasse untergebracht werden.
Geschichte und Geschichten
Bei unserer Wohnzimmerlesung sprachen wir über die Ausstattung der einzelnen Klassen, über die Versorgung an Bord (in der dritten Klasse gab es einfaches Essen, aber unterschiedliche Zutaten für Nord- oder Süditaliener). Wir redeten über die Recherche zu diesem Buch, über die Suche nach Augenzeugenberichten oder Zeitungsartikeln aus jener Zeit, über die Auswertung der zum Teil noch erhaltenen Passagierlisten, über die Auswahl der Beispiele, die Stefan Ineichen zusammengestellt hat und die Kapitel für Kapitel die Ausgangspunkte sind für die wunderbaren Abschweifungen, die den besonderen Reiz des Buches ausmachen.
Da gibt es etwa die Dritte-Klasse-Passagierin Lucia Nebiollo Gonella, die als Kind mit ihren Eltern nach Buenos Aires auswanderte. Die Osteria, die die Familie dort eröffnete, lief so gut, dass sie alle paar Jahre auf Verwandtschaftsbesuch ins Piemont reiste, erst mit ihrer Mutter, später alleine. Als 84jährige beschrieb sie 1983 die regelmäßigen Reisen in der dritten Klasse auf der »Principessa Mafalda«. Ein Zeitdokument, das Eingang in das Buch gefunden hat.
Oder die Schilderung einer Fernschachpartie im Jahr 1910: Die Züge wurden per Funk zu einem anderen Schiff übertragen, das weit entfernt auf einer anderen Route den Atlantik überquerte – eine grandiose PR-Aktion für die drahtlose Funkkommunikation, erfunden von Guglielmo Marconi, der die »Principessa Mafalda« regelmäßig für seine Experimente nutzte, um Frequenzen und Reichweiten zu erforschen.
Oder den Papstgesandten Pater Giovanni Genocchi, der beauftragt war, Gerüchten über unfassbar brutale Zustände in den Kautschuk-Plantagen im peruanischen Amazonasgebiet auf den Grund zu gehen, vergleichbar mit den Gräueln in Belgisch-Kongo; was er herausfand, übertraf noch die schlimmsten Vorstellungen, doch kaum etwas änderte sich dadurch. Der Autor knüpft daran ein Kapitel über den europäischen Kolonialismus in Südamerika an – wie in Nordamerika geprägt von Landraub und gnadenloser Vernichtung der indigenen Völker, etwa in Patagonien. Wenig weiß man heute noch darüber, und umso wichtiger ist dieser Teil des Buches.
In die andere Richtung wurde die »Principessa Mafalda« von den argentinischen oder brasilianischen Behörden als Abschiebeschiff benutzt: In beiden Ländern gab es große anarchistische Bewegungen, die den Regierungen ein Dorn im Auge waren. Regelmäßig brachte das Schiff deren Aktivisten zurück nach Europa – was Stefan Ineichen dazu bringt, uns jene anarchistische Szene und wichtige Protagonisten näher vorzustellen.
Das Einsickern des Faschismus
Das sind jetzt nur wenige Beispiele aus dem Buch, aber ich glaube, sie genügen, um das Konzept der Abschweifung zu illustrieren. Ein wichtiger Teil ist – und auch darüber haben wir bei der Wohnzimmerlesung ausführlich gesprochen – das Einsickern des Faschismus in die Geschichte des Schiffes. Und in die Geschichte Europas. Zwei Passagiere an Bord der »Principessa Mafalda« stehen beispielhaft für diese Entwicklung. Der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda reiste 1922 nach Argentinien, um dort einige Jahre als Ingenieur zu arbeiten. Er gilt heute als einer der wichtigsten Autoren der italienischen Moderne und sein 1957 erschienener Roman »Die grässliche Bescherung in der Via Merulana« als ein Meilenstein der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls Gast auf der »Principessa Mafalda« war Luigi Pirandello, der mit seinem Theaterensemble durch Argentinien tourte. Sein Stück »Sechs Personen suchen einen Autor« machte ihn weltberühmt; 1934 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Grandios geschildert ist im Buch übrigens die Szene, wie er in einem Café in Buenos Aires Carlos Gardel begegnete, dem bekanntesten Tango-Sänger jener Jahre – was Stefan Ineichen zum Anlass nimmt, um auch vom Leben Gardels zu erzählen.
Aber ich schweife ab, wie könnte es bei diesem Buch auch anders sein. Denn eigentlich wollte ich davon erzählen, wie Gadda und Pirandello als Künstler geschildert werden, die zumindest die ersten Jahren mit dem Faschismus und mit Mussolinis Politik sympathisierten; teils aus persönlichen Ambitionen, teils aus der Überzeugung, mit einer neuen Bewegung die alten Probleme des Landes zu lösen. Auch darüber sprachen wir im Leipziger Wohnzimmer: über die Faszination, die das Aufkommen der faschistischen Ideologie auf bürgerliche Künstler ausübte – gerade nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs, der frühere Gewissheiten zerstört hatte. Und über die Schwierigkeit, dies von unserer heutigen Warte aus verstehen zu können. Weil die Zeit des Faschismus in Italien nur rudimentär aufgearbeitet ist, kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass Mussolini kein großmäuliger Operettenfaschist war, sondern ein Verbrecher und Massenmörder – sehr eindrucksvoll beschreibt Stefan Ineichen den Straßenterror der faschistischen Schlägerbanden, der Mussolini den Weg an die Macht ebnete.
Die »italienische Titanic«
Das Ende für die »Principessa Mafalda« kam am 25. Oktober 1927, wenige Seemeilen vor der brasilianischen Küste. Aus dem einstigen »Windhund des Meeres« war aufgrund jahrelanger Vernachlässigung und mangels Wartung und Reparaturen ein schwimmendes Wrack geworden, dem die Beschädigung durch eine gebrochene Schiffsschraubenachse zum Verhängnis wurde. 1.252 Menschen waren an Bord, 314 ertranken. Es war eines der schwersten Unglücke der zivilen Seefahrt, die »Principessa Mafalda« wurde als »italienische Titanic« bezeichnet. Der Untergang steht symbolisch für das Ende einer Epoche, das Ende des alten Europas, das eigentlich schon 1914 aufgehört hatte zu existieren. Mussolinis Regime versuchte die Katastrophe in einem heroischen Licht darzustellen; so soll etwa die Bordkappelle beim Untergang die italienische Nationalhymne gespielt haben – ein Mythos, der heute noch in Italien kursiert, obwohl es nachweislich so nicht gewesen ist. Nicht gewesen sein kann, da die Musiker das sinkende Schiff bereits verlassen hatten.
Prinzessin Mafalda von Savoyen
Zum Schluss der Wohnzimmerlesung ging es um die Frage, wer eigentlich Mafalda von Savoyen war, die Namensgeberin des Schiffes. Denn das Buch beginnt mit ihrer Geburt im Jahr 1902 als Tochter des letzten italienischen Königs und endet mit ihrem Tod 1944 bei einem Bombenangriff auf eine Gefangenenbaracke neben dem KZ Buchenwald – ein gelungener dramaturgischer Rahmen. Wie es dazu kam, dass sie in Buchenwald festgehalten wurde, obwohl sie und ihr Mann Philipp Prinz von Hessen bei Hitler und Göring ein- und ausgegangen sind, obwohl sie jahrelang als Brückenbauer zwischen dem »Dritten Reich« und Mussolinis Italien fungierten und wie der Prinzessin heute in Italien gedacht wird – auch das erfahren wir in diesem Buch über einen italienischen Hochseedampfer. Ein faszinierendes und mitreißendes Werk und – auch wenn ich mich wiederhole – eine einzige, grandiose Abschweifung. Über all die Themen, die in diesem Blogbeitrag zu finden sind, haben wir an dem Abend im Leipziger Wohnzimmer gesprochen – und trotzdem nur einen Bruchteil von dem erwähnt, was das Buch zu bieten hat. »Principessa Mafalda« von Stefan Ineichen ist große Geschichte, zusammengetragen aus unzähligen kleinen Geschichten. Brillant recherchiert und ein echtes Leseerlebnis.
Ein herzliches Dankeschön an Stefan für das wunderbare Gespräch, an Hannes für die Idee und seine großartige Gastfreundschaft. Und natürlich an alle Teilnehmenden fürs Dabeisein. Das Datum für die nächste Leipziger Wohnzimmerlesung steht schon fest: Buchmessefreitag, 22. März 2024. Und jetzt ist es auf jeden Fall eine Tradition. Wir freuen uns schon.
Buchinformation
Stefan Ineichen, Principessa Mafalda
Verlag Klaus Wagenbach
ISBN 978-3-8031-3720-3
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