In diesem Beitrag geht es um das Buch »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« von Bernard von Brentano. Ich vermische damit Berufliches mit Privatem, da ich seit Sommer 2019 für den Eichborn Verlag arbeite, in dem die Neuausgabe dieses lange vergessenen Werkes erschienen ist. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass es hier im Blog nicht zu solchen Überschneidungen kommen sollte, doch dieser Titel ist in meinen Augen ein so wichtiges Zeitzeugnis, dass ich einfach nicht anders kann als darüber zu schreiben.
Das Buch erschien ursprünglich im Jahr 1932 und war das Ergebnis einer intensiven Recherche. Von 1930 an war der Journalist Bernard von Brentano auf langen Fahrten durch Deutschland gereist. Er wollte herausfinden, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise hatte, von der das Land mit voller Wucht getroffen wurde – und was er sah, war dramatisch. Brentano besuchte Menschen, deren Existenz durch die Krise vernichtet worden war, ging dorthin, wo das Elend sichtbar wurde. Sprach mit Arbeitern, die nicht wussten, wie lange ihre Betriebe noch durchhalten würden, mit Arbeitslosen, die hungerten, mit Bauern, deren Höfe vor dem Aus standen. Er schilderte die verzweifelte Lage von Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht waren oder ihre Wohnung bereits verloren hatten. Lieferte Stimmungsbilder aus den Stadtvierteln und Regionen, in die sich die Angehörigen der Oberschicht nie hin verirren würden.
All diese Texte sind in »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« veröffentlicht und sie machen uns heute deutlich, wie sehr die Wirtschaftskrise das Land im Griff hatte. Ein riesiger Teil der Bevölkerung spürte zu Beginn der Dreißigerjahre die Auswirkungen unmittelbar; schätzungsweise war die Hälfte aller Erwerbstätigen und ihrer Familien davon betroffen. Und denjenigen, die es nicht waren, saß die Angst vor der Not im Nacken.
Während der Sozialdemokratie die Wähler davonliefen – oftmals hin zu jener Hass predigenden Partei, die die zwar das Wort »Sozialistisch« im Namen, aber den Zusatz »National« davorgestellt hatte – klaffte die Schere zwischen den Reichen und denjenigen, die gar nichts mehr hatten, Monat für Monat weiter auseinander. Eine wirtschaftliche Entwicklung, die maßgeblich mit dazu beitrug, das zarte Pflänzchen der ersten deutschen Demokratie zu zerdrücken. Das Buch von Brentano ist dabei wie ein Fenster in die Geschichte, das jene Zeit unmittelbar vor unseren Augen auferstehen lässt; ein Reisebericht aus einem sich auflösenden Staat.
Auslöser für die Wiederentdeckung dieses Buches war ein Artikel von Hilmar Klute in der Süddeutschen Zeitung, der über Brentanos Werk berichtete. In Klutes Text ging es um die Vergleiche, die momentan gerne zwischen der wackelnden Weimarer Republik und unserer Zeit gezogen werden. Er zeigt darin, wie unzutreffend die meisten sind. Die demokratischen Rahmenbedingungen sind heute vollkommen anders, auch die Lebensumstände im damals von der Weltwirtschaftskrise verheerend getroffenen Deutschland sind mit den unseren nicht vergleichbar. Dennoch gibt es Parallelen, die erschrecken und sehr aktuell sind – zumal die coronabedingten Verwerfungen noch nicht vorstellbar waren, als der Artikel geschrieben wurde. »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« ist eine wichtige Quelle, um diese Parallelen zu sehen und ein Zeitdokument, das uns helfen kann, heutige Geschehnisse besser einzuordnen. Denn bei aller Unterschiedlichkeit der Epochen darf man auch in unserer Zeit Demokratie nie als etwas Selbstverständliches hinnehmen.
Bernard von Brentano stammte aus einer alten, katholischen, großbürgerlich-adligen Familie mit italienischen Wurzeln. Zu seinen Vorfahren gehörten etwa der Schriftsteller Clemens Brentano und dessen Schwester Bettina von Arnim. Er war Journalist und wurde 1925 Berlin-Korrespondent des Feuilletons der Frankfurter Zeitung – auf Empfehlung des Schriftstellers Joseph Roth. 1930 wechselte Brentano zum Berliner Tageblatt. Politisch stand er links, sah die dramatischen Auswirkungen eines entfesselten Kapitalismus und sympathisierte mit sozialistischen Ideen. So wird in seinem Buch immer wieder die Sowjetunion als vorbildhafter Staat erwähnt und auch das ist ein Stück Zeitgeschichte: Denn zu jener Zeit waren die meisten der monströsen kommunistischen Verbrechen noch nicht bekannt und die schlimmsten Jahre unter dem Genossen Stalin standen erst noch bevor.
Nach der »Machtübernahme« der NSDAP wurde das Werk verboten und kam auf die Liste der zu verbrennenden Bücher. Bernard von Brentano und seine Frau emigrierten in die Schweiz; 1936 erschien in Zürich sein wichtigster Roman »Theodor Chindler«. Später bemühte er sich zwar um eine Rückkehr, doch die braunen Machthaber hätten dies nur gekoppelt mit einem Schreibverbot zugesagt. Erst vier Jahre nach dem Krieg zog er wieder nach Deutschland zurück.
Der Titel »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« bezieht sich nicht – wie auf den ersten Blick vielleicht viele denken – auf die Anfänge der Nazi-Herrschaft, auch wenn er dafür passend wäre. Doch als das Buch erschien, konnten sich die meisten Menschen noch nicht vorstellen, was auf sie zukommen würde. Vielmehr ist mit dem Titel gemeint, wie die Auswirkungen eines außer Kontrolle geratenen Kapitalismus zu einer Destabilisierung der Gesellschaft führen. Zu einem Überlebenskampf der Armen, gnadenlos, würdelos, ein Rückschritt in eine barbarische Gesellschaftsstruktur, in der zivilisatorische Errungenschaften durch die Strukturen eines krisengeschüttelten Marktes außer Kraft gesetzt werden. Und auch wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht die Weimarer Republik ist, erleben wir global gesehen das Gleiche auch in unserer Zeit. Der Raubtierkapitalismus heutiger Prägung hat die Welt an den Rand des Kollapses gebracht, während weltweit Populisten auf dem Vormarsch sind. Und auch deswegen ist dieses knapp neunzig Jahre alte Buch hochaktuell.
Bernard von Brentano starb 1964 und war in seinen späteren Jahren von diesem Frühwerk seines Schaffens abgerückt. Die politischen Entwicklungen hatten – nicht nur ihm – klar gemacht, dass ein Staatssozialismus keine Lösung für eine bessere Welt sein kann. Daher erhielt die Neuauflage von »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« ein ausführliches Vorwort, in dem der Historiker Roman Köster über die Entstehungsgeschichte und die historischen Hintergründe schreibt. Und damit für eine Einordnung der in diesem Buch versammelten Texte sorgt. Texte, die dazu beitragen, die Weltwirtschaftskrise von 1929 – die viele Menschen heute nur dem Namen nach kennen – und ihre dramatischen Folgen besser zu verstehen.
Lesen sollten dieses Buch alle diejenigen, die wissen möchten, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen seinerzeit den Weg in Richtung Gewaltherrschaft frei machten. Und auch diejenigen, die angesichts des Zustands unserer Welt heute immer noch glauben, dass der Markt alles regeln wird.
Für die Ohren: Ein Podcast über das Buch
Zum Abschluss dieses Beitrags gibt es noch etwas zum Anhören. Als ich auf Facebook einen Hinweis auf die Neuauflage von Brentanos Buch veröffentlichte, erhielt ich einen Kommentar der Kölner Autorin und Journalistin Husch Josten. Sie hatte 1994 ihre Magisterarbeit über »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« geschrieben und hätte nie gedacht, jemals wieder von diesem Buch zu hören, geschweige denn es neu in der Hand zu halten – es war damals so gut wie verschwunden und außerordentlich schwer gewesen ein Forschungsexemplar zu bekommen. Wir verabredeten uns, um für den Eichborn-Verlag einen Podcast aufzunehmen. Husch Josten kam in die Lübbe-Tonstudios, hatte ihre maschinengeschriebene Magisterarbeit dabei und wir sprachen dann fast eine Stunde lang über Brentano, sein Schaffen und Leben, über die Zeit der Entstehung von »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« und natürlich darüber, was uns dieses Buch heute sagen kann. Wer es hören möchte: Es gibt den Podcast auf allen üblichen Plattformen.
Eine sehr lesenswerte Besprechung des Buches gibt es im Blog AstroLibrium.
Buchinformation
Bernard von Brentano, Der Beginn der Barbarei in Deutschland
Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0670-4
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Eine Antwort auf „Ein Fenster in die Geschichte“