An der Schwelle einer neuen Zeit

Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles.

Der Autor schickt uns in das Berlin der Jahre 1855 und 1856, in eine Stadt, die stetig wächst. Durch den Beginn des industriellen Zeitalters zog sie mehr und mehr Menschen an, große Firmen wie Siemens oder Borsig hatten sich angesiedelt, Arbeitskräfte wurden gebraucht, die einfachen Wohnquartiere dehnten sich aus, neue Verkehrswege und -mittel entstanden. Etwa 450.000 Menschen lebten zu jener Zeit dort. Und unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche brodelte es, die Schere zwischen den Wohlhabenden und den Armen klaffte weit auseinander. Die Nachwirkungen der nur wenige Jahre zuvor niedergeschlagenen Revolution von 1848/1849 waren unterschwellig zu spüren, der Traum von einem einigen Deutschland mit einem Kaiser von Volkes Gnaden war zum Greifen nahe gewesen. Und noch längst nicht ausgeträumt; das erstarkende Bürgertum trat selbstbewusster auf, eine neue Mittelschicht war im Entstehen. Gleichzeitig zeichnete sich am Horizont vage ein Konflikt zwischen Preußen und Österreich ab, denn in einem – wie auch immer – geeinten Deutschland war nur Platz für eine Großmacht. Und an der Peripherie Europas tobte seit 1853 der Krieg auf der Krim, in dem die Verbündeten Mächte England und Frankreich gemeinsam mit dem morschen Osmanischen Reich den russischen Zaren daran hinderten, sich die Dardanellen gewaltsam anzueignen. Ein blutiger Krieg, der heute fast vergessen ist, der aber als der Beginn einer Entwicklung gelten kann, in der sich Russland immer weniger als Teil Europas betrachtete – mit Auswirkungen bis heute. Preußen hielt sich aus jenem Konflikt heraus, misstrauisch beäugt von beiden Kriegsparteien. 

Das Berlin jener Zeit ist eine Großstadt an der Schwelle der Moderne: Dutzende Pferdebahnen im Taktverkehr erschließen die Stadt, es gibt Gaslaternen in den Straßen, auch die ersten Wohnungen haben bereits Gasanschlüsse. Vier Bahnhöfe verbinden die preußische Metropole mit weiten Teilen Mitteleuropas, die wichtigen Behörden und die Feuerwehr sind telegraphisch miteinander verbunden, das Netz der Wasserstraßen wird immer weiter ausgebaut. Zigaretten kommen in Mode, und auf den ersten Litfaßsäulen ist Reklame zu sehen. All diese Informationen – und noch viele mehr – finden sich im Glossar des ersten Bandes, sie sind aber auch unaufdringlich in die Handlung eingearbeitet. Der Autor Ralph Knobelsdorf schafft es damit, ein Stadtbild aus dem Dunkel der Geschichte heraustreten zu lassen, das ich mir nicht so modern vorgestellt habe. Tatsächlich fand ich es immer wieder reizvoll, manche Details zu überprüfen, so überrascht haben sie mich – etwa, dass es um 1855 tatsächlich bereits Haushalte mit Gasleitungen gab. Und es ist genau jene akribische, die Romanhandlung prägende, doch sie niemals dominierende Recherche mit ihrer Fülle an Informationen, die mich an diesen Büchern so begeistert hat. Nur selten gelingt dies bei historischen Stoffen so perfekt; ein anderes Beispiel dafür sind die Gereon-Rath-Romane von Volker Kutscher – andere Zeit, gleiche Stadt.

Gerade stelle ich fest, dass in der Zeit, die ich brauche, um das historische Hintergrundrauschen der Romane zu beschreiben, andere schon eine ganze Buchbesprechung verfasst hätten. Aber zum einen kann ich das in meinem Blog ja so handhaben, wie ich möchte. Und zum anderen macht genau dieser Einblick in das Berlin jener Zeit die beiden Bücher so besonders. Doch erst durch die Protagonisten wird jene Epoche zum Leben erweckt – und vieles davon spiegelt sich in ihnen wider. 

Wilhelm von der Heyden ist die Hauptperson der Handlung. Ein junger Jurist mit einem phänomenalen Gedächtnis und einer guten Kombinationsgabe. Als sich in seiner Straße eine Explosion ereignet und er instinktiv den Tatort sichert, erweckt er das Interesse von Kriminaldirektor von Herford, einem alten Freund von Wilhelms Vater, der dabei ist, eine moderne Kriminalpolizei aufzubauen – ebenfalls eine Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Althergebrachtem und modernen Anforderungen. Die Anlage einer Täterkartei, Vernetzung der einzelnen Dienststellen und Behörden, die Untersuchung von Tatorten mit Hilfe kriminaltechnischer Methoden: All dies beginnt in jenen Jahren. Von Herford überredet Wilhelm, der Polizei beizutreten. Und damit betritt ein neuer Ermittler die Bühne der Kriminalliteratur.

Unterstützt wird er von seinem besten Freund Johann Schmidt, einem Studenten der Medizin. Und diese Figurenkonstellation passt perfekt in jene Zeit: Wilhelm von der Heyden als Spross einer Familie des brandenburgischen Landadels, die mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Und Johann Schmidt als Sohn eines wohlhabenden, bürgerlichen Unternehmers, Angehöriger einer Gesellschaftsschicht, die sich anschickt, den Adel als staatstragende Klasse abzulösen. Weiter haben wir es mit dem erfahrenen Kriminalsekretär Ernst Vorweg zu tun, der mit von der Heyden im Zweierteam zusammenarbeiten wird und und ihn anfangs aufgrund seiner adligen Herkunft reserviert behandelt. Mit der Witwe Brenke, Wilhelms Vermieterin, die stets bestens informiert ist über den Klatsch auf den Straßen der Nachbarschaft. Mit Wilhelms Schwester Anna, eingepfercht im Korsett der gesellschaftlichen Konventionen und stets deren Grenzen auslotend. Mit Franz Karl, Sohn des Nachbarguts der von der Heydens, in Kindertagen einst Wilhelms bester Freund und heute sein erbitterter Feind – der Grund dafür ist ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das nach und nach zu Tage tritt. Und Marie, Franz Karls Schwester, die große Liebe Wilhelms, die es vermag, ihm wichtige Türen in Berlin zu öffnen.

Dazu kommen jede Menge historischer Charaktere; etwa der Polizeipräsident Karl Ludwig Friedrich von Hinkeldey, eine spannende Persönlichkeit zwischen Reaktion und Fortschritt, er bekämpfte demokratische Bestrebungen ebenso wie die Privilegien des Adels bei der Strafverfolgung. Durch eine Intrige wurde er in einem Duell erschossen. Oder Dr. Wilhelm Stieber, der visionäre Organisator der preußischen Kriminalpolizei, der es aber mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nahm, wenn es seinen Zielen diente. Bismarck hat im ersten Band einen kurzen Auftritt, damals noch preußischer Gesandter am Bundestag in Frankfurt am Main. Auch Prinz Friedrich von Preußen lernen wir kennen; er galt als große Hoffnung der fortschrittlichen Kräfte; unter seiner Herrschaft wäre die Umwandlung in eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild denkbar gewesen. Als er 1888 tatsächlich deutscher Kaiser wurde, war er schwer an Kehlkopfkrebs erkrankt – nur 99 Tage blieben ihm in seinem Amt. Sein Sohn, der als Wilhelm II. den Thron bestieg, war in allem das Gegenteil seines Vaters – schicksalhaft für den Verlauf der Geschichte. Aber das ist zu jener Zeit für niemanden zu erahnen, noch sind wir im Jahr 1855. 

Und von der Heydens Ermittlungen führen ihn, Schmidt und Vorweg quer durch Berlin: von den Armenvierteln mit ihren zwielichtigen Kneipen und unzähligen Prostituierten, über quirlige Marktplätze, durch belebte Straßen, vorbei an den Schinkelschen Prachtbauten der Innenstadt, in verqualmte Amtsstuben, elitäre Herrenclubs und literarische Salons – wobei die Salonkultur zu dieser Zeit ihren Zenit schon überschritten hatte -, bis hinein ins Berliner Schloss, in die Korridore der Macht. Im ersten Band geht es um einen Bombenanschlag, um Spionage, um diplomatische Verwicklungen und eine Verschwörung innerhalb des preußischen Königshofes. Und im zweiten Band haben sie es mit einem Serientäter zu tun – ein damals vollkommen neuer Begriff. Hier spielen vor allem die gesellschaftlichen Ungleichheiten eine Rolle, die Rechtlosigkeit der unteren Schichten. Aber auch Themen wie ein schwelender Antisemitismus und die Freiheit der Presse; alles geschickt miteinander verwoben. Dem Autor gelingt es dabei, die Protagonisten in ihrer Zeit zu belassen. Sie spüren instinktiv viele der Ungerechtigkeiten, ahnen, dass so manche gesellschaftlichen Wertvorstellungen sich in Zukunft ändern könnten, doch als Kinder ihrer Epoche sind sie gleichzeitig in ihnen verwurzelt – dadurch entsteht insbesondere in den Personen der weiblichen Hauptfiguren ein unterschwelliges Spannungsfeld. 

So, ich glaube, damit wäre das Wichtigste zu diesen Büchern gesagt, auch wenn eine ganze Menge Nebenstränge gar keine Erwähnung gefunden haben. Liebhaber actionreicher Kriminalromane würden das Erzähltempo der Bücher wahrscheinlich als langatmig bezeichnen – doch gerade die gemächliche, machmal fast ein wenig umständliche Entwicklung der Handlung passt zur geschilderten Epoche, in der Nachrichten als Briefe verschickt und Entfernungen per Pferdekutsche oder zu Fuß zurückgelegt wurden. »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sind zwei außergewöhnliche Kriminalromane, ein dritter Band ist meines Wissens in Arbeit. Ich freue mich darauf. Sehr. 

Bücherinformationen
Ralph Knobelsdorf, Des Kummers Nacht
Lübbe
ISBN 978-3-7857-2730-0

Ralph Knobelsdorf, Ein Fremder hier zu Lande
Lübbe
ISBN 978-3-7857-2789-8

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