Im Gefängnis der Geschichte

Matteo Melchiorre: Der letzte Cimamonte

Es war ein Zufallsfund, wie so oft. Beim Besuch einer Buchhandlung stand der Roman frontal präsentiert im Regal – ich sah das Titelbild und musste ihn haben. Der Klappentext, den ich nur kurz überflog, bestärkte mich in dieser Entscheidung. Und jetzt liegt das Buch »Der letzte Cimamonte« von Matteo Melchiorre gelesen neben mir und ich weiß, dass ich die Geschichte, die Stimmung und die Sprache noch sehr lange im Kopf behalten werde; es war ein großartiges Leseerlebnis. 

Im Zentrum der Handlung steht das Dorf Vallorgàna, hoch oben in den Ausläufern der Alpen. Und noch etwas weiter steht die alte Villa, der Adelssitz der Familie Cimamonte, der jahrhundertelang das Dorf und alles darum herum gehörte, Wiesen, Wälder und Berge. Doch diese Zeiten sind vorbei, Vallorgàna ist ein sterbender Ort, die Jungen sind gegangen, nicht wenige Häuser stehen leer. Aber noch ist Leben in den Höfen, die das Dorf prägen. Es gibt Tiere auf den Weiden, die Wiesen werden im Rhythmus der Jahreszeiten gemäht, ein Pfarrer hält die Messen und die Bar in der Ortsmitte ist nach wie vor das abendliche Wohnzimmer der alten Bauern. Während der alles umgebende Wald aufgegebene Wiesen wieder in Besitz nimmt, die Wölfe näher kommen und die Krähen wie Unglücksvögel über Vallorgàna kreisen, den Luftraum im Tal beherrschend. 

»Wir gehen. Die Krähen kommen. So sieht es aus.«

Seit einigen Jahren lebt in der Villa ein junger Mann, der letzte Nachkomme der Dynastie der Cimamontes und der Ich-Erzähler der Geschichte. Er hat das große Anwesen unten in der Stadt verkauft, lebt vom jahrhundertelalten Vermögen der Familie und möchte nichts weiter haben als seine Ruhe. Seine Ruhe vor der Stadt, vor der Welt, vor dem Leben. Die Tage sind ausgefüllt damit, die Villa und die ihm noch gehörenden Ländereien in Schuss zu halten, als Zaungast am Dorfleben teilzuhaben und sich abendelang mit alten Dokumenten und der Familienchronik zu beschäftigen.

Gerade fällt mir auf, dass ich gar nichts über diesen Ich-Erzähler weiß, der mich 488 Seiten lang begleitet hat. Im Klappentext wird er als »junger Mann« bezeichnet, doch wie jung ist damit gemeint? Zwanzig Jahre? Dreißig Jahre? Wie heißt er eigentlich? Von den Dorfbewohnern wird er stets mit »Duca« angesprochen, ein alter Titel als ironische Erinnerung an vergangene Zeiten, schon fast ein Spitzname. Aber fällt irgendwann sein wirklicher Name? Ich kann mich nicht erinnern. Das Dorf ist fiktiv, ebenso wie die Stadt Berua, die weit unten in der Ebene liegt. Und sind mit den beschriebenen Bergen überhaupt die Alpen gemeint? Es gibt in Italien ja noch mehr schroffe Bergwelten. Auch die Zeit, in der die Handlung angesetzt ist, bleibt vage. Es ist unsere Gegenwart, irgendwie. Aber Computer oder Mobiltelefone spielen keine Rolle. Bei anderen Büchern hat mich dieses Unverortete sehr gestört, doch hier war es tatsächlich nicht so wichtig. Oder vielmehr habe ich es gar nicht bemerkt, es wird mir erst in diesem Moment klar, in dem ich über den Roman schreibe. 

»In Vallorgàna einen Spitznamen zu besitzen, ist gleichzeitig Zeugnis von Zugehörigkeit und ironische Zusammenfassung der Vorstellung, die die Gemeinschaft sich von dem Einzelnen gemacht hat; weiterhin soll er, wenn der Spitzname sich wie in meinem Fall mit dem eines Vorfahren deckt, deutlich machen, dass die Gemeinschaft nicht vergisst und dass es unmöglich ist der Vergangenheit zu entkommen.«

Das Buch beginnt damit, das jener Ich-Erzähler, der letzte Adelsspross der Cimamontes, der einfach nur seine Ruhe haben will, mit einer massiven Grenzverletzung konfrontiert wird. Nelso Tabióna, einer der Alteingesessenen und einer der erfahrensten Waldarbeiter weit und breit, teilt ihm mit, dass auf dem Grund der Cimamontes – weit oben in den Bergen – ein großes Stück Wald abgeholzt wurde. Schnell kommt heraus, dass dahinter Mario Fastréda steckt, dem der größte Hof des Ortes gehört und der unangefochten in Vallorgàna den Ton angibt. Es ist eine unerhörte Provokation, und das Dorf wartet stillschweigend ab, wie der »Duca« auf diesen Übergriff, diesen Diebstahl reagieren wird. 

»Vallorgàna und der Berg waren ideale Orte, um sich verstecken. Die Geschichte hat sie, dachte ich bei mir, zurückgelassen und beinahe vergessen, in eine Art Nebel getaucht, in die Illusion des Stillstands. Nichts und niemand, hatte ich damals gedacht, würde in eine geschlossene, abgelegene Welt, die noch dazu allmählich von selbst erlosch, eindringen, um mich zurückzuholen.«

Der »Duca« merkt zu seinem eigenen Erstaunen, wie sich all das Wissen über seine Familie, das er sich in den letzten Jahren angelesen hat, Bahn bricht. Wie er – ohne es zu wollen – die gesellschaftlichen Strukturen der Feudalzeit verinnerlicht hat. Wie dieses Bewusstsein, auch wenn es längst nichts mehr mit der heutigen Realität zu tun hat, von Generation zu Generation vererbt wurde, bis hin zu ihm, dem Letzten der Cimamonte. Und gleichzeitig schlummern diese uralten Strukturen auch heute noch unter der Oberfläche des Dorfes, nur kaschiert von einer dünnen Schicht der Moderne. Daher erscheint das Abholzen des Waldes nicht nur als dreister Diebstahl – sondern damit stellt Mario Fastréda die gesamte Persönlichkeit des »Duca« in Frage. Es ist ein Frontalangriff auf jahrhundertealte Traditionen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, die aber im Stillen trotzdem das Miteinander der Menschen in Vallorgàna prägen. Eine Respektlosigkeit, ein Fehdehandschuh. Der Ich-Erzähler nimmt diesen Fehdehandschuh auf – und damit geraten Dinge ins Rollen, die irgendwann nicht mehr zu stoppen sind. Aus Sticheleien werden Racheakte, im Dorf bilden sich Parteien und was als Ränkespiel beginnt, endet als Drama. 

Der Autor Matteo Melchiorre lässt sich dabei Zeit. Zeit für seine Figuren, die von Seite zu Seite plastischer und facettenreicher daherkommen. Zeit für die Handlung, die in einer Gegend spielt, in der wortkarge Menschen nichts überstürzen. Zeit für das Dorf, das einem so deutlich vor Augen steht, als würde man wirklich bei Rubio an der Bar stehen und einen Espresso trinken. Und Zeit für die alles beherrschende Landschaft. Eine Landschaft mit undurchdringlichen Wäldern, schroffen Felsformationen, vollkommener nächtlicher Dunkelheit – auch hier meint man die frische Bergluft zu atmen, eine wunderbare Mischung aus Heu und Nadelwald. Und aus dem Wald hin und wieder den lauten Motor einer Kettensäge zu hören. 

Der Ich-Erzähler verstrickt sich zunehmend in diese Fehde, die es auszufechten gilt. Fast meint er, dass ihm all seine Ahnen über die Schulter schauen, um zu sehen, wie er, der Adlige, mit der Provokation eines Bauern umgeht. Wie hätte wohl jener oder dieser seiner Vorfahren in solch einem Fall gehandelt – zu Zeiten, als Streitigkeiten wie diese mit dem blanken Schwert ausgetragen wurden? Und je länger es dauert, desto mehr empfindet er die Blutlinie der Cimamontes und das Familienerbe wie ein Gefängnis der Geschichte, wie eine schwere Kette, die ihn hinab in die Vergangenheit zieht. Es ist grandios, wie Matteo Melchiorre es schafft, die Schatten der Jahrhunderte mit ihren längst überwunden geglaubten Gesellschaftsstrukturen  in unsere Zeit einsickern zu lassen. Und damit zeigt, dass sie nie ganz verschwunden waren. 

Dazu gibt es einige überraschende Wendungen. Maria, eine junge Frau, arbeitslose Restauratorin, kommt aus der Stadt in das Dorf und wird bei unserem Ich-Erzähler für Verwirrung sorgen – besonders als er herausbekommt, wer sie eigentlich ist. Und dann findet er Hinweise in der uralten Familienchronik der Cimamontes, die ihn auf eine Spur führen. Es folgen weitere Hinweise, die sich mehr und mehr verdichten. Bis die eskalierende Fehde, die uralte Familieninstinkte in ihm geweckt hat, durch lange zurückliegende Ereignisse in einem vollkommen anderen Licht dasteht. 

Doch mehr wird nicht verraten.   

Matteo Melchiorre hat ein wahrhaft außergewöhnliches Buch geschrieben, dessen poetische Sprache manchmal fast ins Pathetische abzugleiten droht – wäre da nicht immer wieder ein feines, kaum wahrnehmbares Augenzwinkern zwischen den Zeilen, das uns zurück ins Hier und Jetzt holt. Und das alles wunderbar übersetzt von Julika Brandestini. 

Zum Abschluss dieses Blogbeitrags möchte ich eine Textstelle zitieren, die in mir den Wunsch geweckt hat, am liebsten sofort aufzubrechen und mich auf den Weg zu machen nach Vallorgàna. Irgendwo am Rande der Alpen, irgendwo weit weg von allem. Weit weg von der Welt. 

»Ich erinnere mich, dass ich an diesem Abend an der Brüstung des Hofes stehen blieb, um das nächtliche Panorama zu betrachten. Vallorgàna, am Fuße des grasbewachsenen Bergrückens, wo auf halber Höhe die Villa meiner Vorfahren liegt, war wie eine schwach beleuchtete Insel. Ansonsten rundum Dunkelheit. Das Val Fonda, ein lang gestreckter Fjord, der sich von Vallorgàna zum offenen Land hin erstreckt, war dunkel. Dunkel war das Kiesbett, in dem das wenige Wasser des Flusses Fragolfo fließt, der im Laufe der Zeitalter ebenjenes Val Fonda gegraben hatte. Und auch der Himmel, versteht sich, war dunkel, denn man sah keinen einzigen Stern. Nur dort, wo, wie ich wusste, das Val Fonda schließlich in die Ebene überging, konnte ich einen orangen Schimmer ausmachen, der hoch in in den Himmel strahlte. (…) Doch die dichteste Dunkelheit lag wie immer in meinem Rücken, hinter der Villa, wo die pechschwarze, dräuende Masse des Berges abrupt zwischen Graten und Hängen aufragt. Breit und leicht konkav, bewaldet, Tor zu weiteren Bergen, die immer schroffer werden, bis sie nur noch Stein sind, dieser Berg, der als ›der Berg‹ bezeichnet wird, als wäre er der einzige seiner Art, ist für uns in Vallorgàna eine unausweichliche Gegenwart; so sehr, dass man ihn auch nachts nicht nur spürt, sondern tatsächlich sieht, weil er von einer undurchdringlichen, zentripetalen Dunkelheit ist, schwarz herausgemeißelt aus dem umgebenden Dunkel.«

Buchinformation
Matteo Melchiorre, Der letzte Cimamonte
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini
Atlantis Verlag
ISBN 978-3-7152-5038-0

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Der Weg in die Finsternis

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. 

Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt. „Der Weg in die Finsternis“ weiterlesen

»Ich las oft im Gehen«

Anna Burns: Milchmann

Belfast. Ich muss nur dieses Wort, diesen Städtenamen schreiben – schon sind Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf. Bilder einer regennassen Straße, über die ein Panzerwagen fährt. Eines belebten Platzes in der Innenstadt, der von einer schwerbewaffneten Einheit britischer Soldaten schnell durchquert wird. Eines hohen Zaunes, dem Peacewall, und zweier Uniformierter, die an einem Tor stehen und angespannt schauen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Bilder von Mauern, übersät mit martialischen Graffiti, von trostlosen, grauen Straßen, von ausgebrannten Ruinen inmitten der Häuserzeilen, fehlenden Zähnen gleich. Und über allem das unterschwellige Gefühl von Gewalt, die jederzeit ausbrechen kann. Ich war im März 1993 nur drei Tage in Belfast, aber ich werde diesen kurzen Besuch nie vergessen. Die Schwarzweißbilder in diesem Beitrag sind während dieses Aufenthalts entstanden. Sie sind etwas körnig, da ich keine Negative dazu habe und sie abphotographieren musste.

Dabei waren zu Beginn der Neunziger die allerschlimmsten Jahre schon vorbei; in den Siebzigern oder Achtzigern herrschte Bürgerkrieg in Belfast und in Nordirland – Katholiken gegen Protestanten, die IRA gegen die britische Armee und die Milizen des Oranierordens. Dabei ging es schon längst nicht mehr um Freiheit oder Unabhängigkeit; die IRA war zu einer Organisation mit mafiaartigen Strukturen mutiert, die von Schutzgeldern und Erpressungen lebte und die Briten vergalten Terror mit Gegenterror, mit Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und flächendeckender Überwachung. Und zwischen den Fronten saßen die Menschen fest, die in einem permanenten Ausnahmezustand lebten und deren Alltag bestimmt war von totalitären Strukturen und strengkonservativen gesellschaftlichen Zwängen. Mitten hinein in diese Zeit, mitten hinein in das Belfast der Siebzigerjahre führt uns der Roman »Milchmann« von Anna Burns. Ohne Belfast, Nordirland oder Großbritannien auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen. „»Ich las oft im Gehen«“ weiterlesen

Das Reisen und das Lesen

Das Reisen und das Lesen: Mit Dennis Lehane, Joan Sales und Leonardo Padura

Eine der wichtigsten Ferienvorbereitungen – wenn nicht sogar die allerwichtigste – ist die Auswahl der Bücher, die einen auf der Reise begleiten werden. Schon Wochen vor dem Urlaubsstart beginne ich darüber nachzudenken; vor dem Buchregal stehend treffe ich nach und nach meine Auswahl. Und das ist nicht einfach, denn zum einen steht nur ein begrenzter Platz im Gepäck zur Verfügung und zum anderen warten zahllose Bücher darauf, endlich gelesen zu werden. Nicht davon zu reden, dass auch in der Vorbereitungszeit neue Bücher Einzug ins Regal halten. Dazu kommt die Befürchtung, dass der Lesestoff nicht reichen könnte; ein furchtbarer Gedanke. Und tatsächlich gingen mir vor fünfundzwanzig Jahren einmal die Buchvorräte aus, auf einem abgelegenen Campingplatz mitten in Andalusien. Eine traumatische Erfahrung, die dazu geführt hat, dass ich ganz bewusst mehr Bücher mitnehme, als ich in der Urlaubszeit schaffen kann – aber man braucht ja auch eine kleine Auswahl, oder nicht? Geht es mit dem Auto in die Ferien, ist auch schon mal ein extra Buchkoffer mit circa zwanzig Büchern dabei; eine Art Reisebibliothek. Und ja, ich weiß, dass ein Tolino viel platzsparender wäre und dass ich mir zur Not auch ein Buch auf das iPhone laden könnte (was auch schon vorkam, da es genau der eine Titel in genau diesem Moment sein musste). Aber außerhalb von Notfällen kommen E-Books für mich nicht in Frage, es fehlt ihnen alles, was zum Lesen gehört: Der Geruch, die Haptik, das Rascheln der umgeblätterten Seiten, die Markierungen mit dem Bleistift – und im Urlaub die Sandkörner, die noch Wochen oder Jahre später im Buch zu finden sind. 

Diesen Sommer ging es für knapp drei Wochen in die Region zwischen Porto und Salamanca. Es war ein wunderbarer Roadtrip, der in menschenleere Bergregionen führte und in den Trubel wunderschöner, alter Städte. Und in viele Cafés, natürlich. Sieben Bücher hatte ich im Gepäck, drei davon habe ich während der Reise gelesen. Alle drei standen schon seit Jahren im Regal und alle drei haben mich vollkommen begeistert. Es sind die Romane »Im Aufruhr jener Tage« von Dennis Lehane, »Flüchtiger Glanz« von Joan Sales und »Der Mann, der Hunde liebte« von Leonardo Padura. Es werden noch ausführliche Texte zu diesen Büchern folgen, hier kommen schon einmal die Kurzvorstellungen. „Das Reisen und das Lesen“ weiterlesen

Das Abschiedsbuch

Paul Auster: Baumgartner

Ein seltsamer Zufall, falls es so etwas gibt. Am 30. April 2024 stand ich spätabends vor dem Bücherregal und überlegte, was ich als nächstes lesen möchte. Es ist eines meiner liebsten Rituale, ich schaue die Buchrücken entlang, lese hier kurz hinein und dort, bei manchen Büchern ist es sofort klar, dass sie gerade nicht passen, bei anderen bin ich unschlüssig, stelle oder lege sie dann doch zurück und schaue weiter. Irgendwann kommen zwei, drei Titel in die engere Wahl, ein Favorit kristallisiert sich heraus – und die Entscheidung ist getroffen. Da es inzwischen sehr spät geworden war, wollte ich mich am nächsten Morgen endgültig für die nächste Lektüre entscheiden. Mit in die engere Wahl gekommen war der Roman »Baumgartner« von Paul Auster, das zuletzt erschienene Buch eines meiner Lieblingsautoren, dessen Werke einige Spuren in meiner Leserbiographie hinterlassen haben. Am nächsten Morgen dann verbreitete sich weltweit die Nachricht von Paul Austers Tod, er war 77jährig an einer schweren Krebserkrankung gestorben. Und »Baumgartner« ist zu seinem Abschiedsbuch geworden. „Das Abschiedsbuch“ weiterlesen

Vor sich selbst erschrecken

Gaea Schoeters: Trophaee

Was für ein Buch! Habe ich einen Blogbeitrag schon einmal mit diesem Satz begonnen? Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber nicht oft. Denn dass ein Roman die eigenen Grundfesten erschüttert und dabei bewirkt, dass man vor sich selbst erschrickt – das kommt nur selten vor. Dafür gesorgt hat der Roman »Trophäe« von Gaea Schoeters, ein Buch, das schon durch sein phänomenales Cover besticht. Es ist ein schmaler Band mit gerade einmal 253 Seiten – aber die haben es in sich. 

Im Mittelpunkt der Handlung steht der steinreiche John Hunter White, der sein immenses Vermögen mit dubiosen Geschäften gemacht hat; er verkauft »finanzielle Fata Morganas, schöpft den Gewinn ab, bevor die Blase platzt.« Sein Erfolg beruht auf seinem Jagdgespür, eine Eigenschaft, die sein gesamtes Leben prägt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn seine wahre Leidenschaft ist die Großwildjagd. Ist der Adrenalinkick bei der Pirsch auf die Big Five, auf Elefanten, Nashörner, Kaffernbüffel, Löwen und Leoparden – die aufgrund ihrer Gefährlichkeit, Ausdauer und Unberechenbarkeit am schwierigsten zu jagenden Tiere Afrikas. „Vor sich selbst erschrecken“ weiterlesen

Die Lagune weint um ihre Stadt

Isabelle Autissier: Acqua Alta

Zwei Mal in meinem Leben war ich bisher in Venedig: Im Februar 1997 für einen Tag und im Oktober 2003 fast eine ganze Woche lang. Wie so viele andere Menschen hat auch mich diese Stadt bezaubert – mit ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer geschichtsträchtigen Atmosphäre, mit ihrem maroden Charme, mit ihren Nebelschwaden, von denen sie regelmäßig eingehüllt wird und mit ihrer ganz besonderen nächtlichen Stimmung, die schon ans Mystische grenzt. Und trotz aller Touristenmassen hinterlässt sie Bilder im Kopf, die mich seitdem begleiten. Dabei ist die Schönheit Venedigs fragil: Das die Lagunenstadt umgebende, äußerst empfindliche Ökosystem ist durch Industrie und menschliche Gier aus dem Gleichgewicht geraten, während der alles niedertrampelnde Massentourismus Venedig mehr und mehr zu einem Freilichtmuseum verkommen lässt – die Photos der alles überragenden Kreuzfahrtschiffe sind schrecklich anzusehen. Im Roman »Acqua Alta« von Isabelle Autissier geht es um all dies. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie, die aufs Engste mit Venedig verbunden ist. Mit der stolzen Vergangenheit der Stadt – und mit ihrem Untergang. „Die Lagune weint um ihre Stadt“ weiterlesen

Gestatten?* Larissa Reissner

Steffen Kopetzky: Damenopfer - das Leben von Larissa Reissner

Was für ein Leben! Vermutlich ist das der Gedanke, der mir beim Lesen des Romans »Damenopfer« am häufigsten durch den Kopf ging. Denn auch wenn es sich um ein fiktionales Werk und nicht um eine Biographie handelt, so erzählt Steffen Kopetzky dennoch eine wahre Geschichte. Die Geschichte eines Lebens. Eines kurzen Lebens zwar, das aber so spektakulär verlief, dass alleine schon die Eckdaten klingen wie ein Roman. Denn die 1926 verstorbene Larissa Reissner hatte viele Rollen inne in den knapp dreißig Jahren, die ihr gegeben waren. Die Tochter eines russischen Juristen mit deutschen Wurzeln glaubte fest daran, die Welt zum Besseren verändern zu können. Als Mitglied der Bolschewistischen Partei war sie in der russischen Oktober-Revolution aktiv, kämpfte während des russischen Bürgerkriegs in der Roten Armee und war Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Sie trug entscheidend zur Rückeroberung der Stadt Kasan bei; eine der Schlüsseloperationen für den endgültigen Sieg der Bolschewiki über die Weißgardisten. Aber Larissa Reissner focht nicht nur mit der Waffe: Sie war Schriftstellerin, verfasste Reportagen, Zeitungsartikel und Reiseberichte. Ständig unterwegs entwarf sie Pläne, um die Revolution in die Welt hinauszutragen, kannte zahllose Intellektuelle; Boris Pasternak und Leo Trotzki sprachen an ihrem Grab. Und das sind nur ein paar der biographischen Details dieses außergewöhnlichen Lebenslaufes, der sich kaum in Worte kleiden lässt. Doch Steffen Kopetzky hat es geschafft: Mit seinem Roman holt er den Menschen hinter diesen Details aus dem Schatten der Geschichte und bringt uns Larissa Reissner so nahe, wie es fast ein Jahrhundert nach ihrem Tod nur möglich ist. „Gestatten?* Larissa Reissner“ weiterlesen

Brief an den Vater

Necati Oeziri: Vatermal

Für die Überschrift dieses Blogbeitrags habe ich mir den Titel von Franz Kafkas »Brief an den Vater« geborgt; eines der bekanntesten Zeugnisse der Literaturgeschichte, in dem ein Autor mit der alles dominierenden Präsenz eines Familienpatriarchen abrechnet. Und auch wenn es vollkommen unterschiedliche Texte sind und nichts miteinander zu tun haben, finde ich den Titel auch hier passend. Denn Arda Kaya, der Protagonist des Romans »Vatermal« von Necati Öziri, schreibt ebenfalls an seinen Vater und prangert dessen Verhalten als verhängnisvoll für das Leben seiner Familie an. Zwar gibt es einen wichtigen Unterschied, denn Ardas Vater dominiert nicht mit seiner Präsenz, sondern hat mit seinem unvermittelten Weggang eine riesige Lücke gerissen. Doch gerade diese Leerstelle prägt das Leben von ihm, seiner Schwester Aylin und ihrer Mutter Ümran auf eine alles erdrückende Weise. 

Der Ich-Erzähler Arda liegt im Krankenhaus. Er ist jung, noch zu Beginn seines Studiums, aber es ist sehr ungewiss, ob er die Klinik lebend verlassen wird. Die Diagnose lautet Autoimmunhepatitis, sein eigenes Immunsystem greift die Organe an und niemand weiß, ob und wie dies zu stoppen ist. Ein junger Mensch, dessen Leben gerade gestartet war, steht bereits vor dem Ende. Und er nutzt dies, um alles aufzuschreiben, was er Metin, seinem Vater, gerne gesagt hätte. Seinem Vater, den er nie kennengelernt, der ihn durch seinen Weggang im Stich gelassen hat. Und gleich auf den ersten Seiten fällt ein starker, ein entscheidender Satz: »Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.«  „Brief an den Vater“ weiterlesen

Welch vortrefflich Werk

Thomas Willmann: Der einserne Marquis

Das Warten hat sich gelohnt. Der 2010 erschienene Roman »Das finstere Tal« von Thomas Willmann hatte mich seinerzeit vollkommen begeistert und seitdem war ich gespannt auf das nächste Buch des Autors. »Er schreibt daran« – so hieß es seitens des Liebeskind-Verlags Jahr für Jahr, wenn ich auf den Buchmessen danach fragte. Das war schon fast eine Art liebgewonnenes Ritual, bis es in diesem September endlich soweit war und tatsächlich ein neuer Roman von Thomas Willmann in den Buchhandlungen auftauchte. »Der eiserne Marquis« lautet der Titel, über zwölf Jahre lang hat er daran geschrieben, über zwölf Jahre lang haben seine Leser darauf gewartet. Und auch wenn ich mich wiederhole: jeder einzelne Tag davon hat sich gelohnt. 

»Der eiserne Marquis« führt uns in die Mitte des 18. Jahrhunderts, hinein in eine Zeit, in der sich große Umbrüche andeuteten. Absolutistische Monarchen herrschten mit eiserner Hand über ihre Länder, während die Epoche der Aufklärung den klerikalen Mief beiseite fegte und den Weg frei machte für neues Denken. Noch beinahe mittelalterliche Strukturen prägten das Leben der Landbevölkerung, während sich gleichzeitig eine Blütezeit der Wissenschaft anbahnte, sich der Beginn der Industrialisierung bemerkbar machte, der Fortschrittsglaube ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Denkens war. Kriege begannen globale Ausmaße anzunehmen – der Siebenjährige Krieg zwischen 1756 und 1763 wurde nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Nordamerika und Indien ausgetragen. Und über alldem lag der erste, noch vorsichtige, aber spürbare Dufthauch einer großen Revolution. Stillstand und Bewegung in Richtung einer ungewissen Zukunft – das sind die beiden Pole jener Epoche, die sie moderner erscheinen lassen, als es uns gemeinhin bewusst ist. „Welch vortrefflich Werk“ weiterlesen

Melancholische Eleganz

Arturo Pérez-Reverte: Dreimal im Leben

Der spanische Autor Arturo Pérez-Reverte ist ein Meister der melancholischen Erzählungen. Oft sind die Protagonisten seiner Romane Menschen in der zweiten Hälfte ihres Lebens. Menschen, die realisiert haben, dass die Welt dabei ist, sich zu verändern und dass ihr Platz darin nach und nach an den Rand gerückt wird. Und denen klar geworden ist, dass die Zeit zwar sanft, aber gnadenlos vergeht – und mit ihr all die Träume, die Pläne und die Wünsche. Das alles erdulden sie ohne darüber zu klagen, mit Würde und mit all der Eleganz, die ihnen möglich ist. Denn besiegt von der Vergänglichkeit sind sie noch lange nicht, zumindest nicht vollständig. Ein Roman, in dem Pérez-Reverte all dies in höchster Vollendung einfließen lässt, ist »Dreimal im Leben«. Es geht darin um die abenteuerliche Lebensgeschichte von Max Costa, einem Dieb, Betrüger und Hochstapler, äußerst stilsicher und mit den besten Umgangsformen. „Melancholische Eleganz“ weiterlesen

Fünfzehn Bücherfragen

Fuenfzehn Buecherfragen

»Ein Buch, das außer dir alle gemocht haben?« Oder: »Ein Buch, in dem du gern leben würdest?« Beim Flanieren durch die Literaturblogs bin ich auf der Seite Wissenstagebuch auf fünfzehn Bücherfragen gestoßen. Es ist ein Beitrag, der zum Mitmachen einlädt und schon beim Lesen ratterten die Gedanken los – ich konnte gar nicht anders, als mir diese Fragen zu schnappen und selbst zu beantworten. Und wer sich ebenfalls beteiligen mag: Lasst beim Wissenstagebuch in den Kommentaren einen Link da, so entsteht eine schöne Sammlung mit vielen Buchempfehlungen. Die Fragen stammen ursprünglich von der amerikanischen YouTuberin Steph Borer, um als book recommendation tag mehr Literatur in die Timelines zu bringen. Aber langer Rede kurzer Sinn: Hier sind sie, die Bücherfragen. Und meine Antworten. „Fünfzehn Bücherfragen“ weiterlesen

Nebel, Ruß und Druckmaschinen

Die Buecher, der Junge und die Nacht

Das Schreiben jedes Blogbeitrags beginnt mit einem kleinen Ritual: Das Buch, um das es gehen soll, liegt auf dem Tisch vor mir und ich denke darüber nach, was genau mich daran beeindruckt, begeistert, was Spuren im Gedächtnis hinterlassen, was dieses eine Buch für mich besonders gemacht hat. Wie ich das in Worte fassen kann. Und vor allem, wie ich damit beginne. Beim Roman »Die Bücher, der Junge und die Nacht« von Kai Meyer starte ich mit einem Exkurs, mit einem Abstecher in das alte Leipzig, genauer gesagt, in das Graphische Viertel, denn dort spielt sein Roman zu großen Teilen. Und am Ende des Beitrags gibt es ein Interview mit dem Autor zur Wahl seines Schauplatzes. Die Bilder in diesem Beitrag stammen von meinen Leipziger Streifzügen, auf Spurensuche in einem verschwundenen Stadtbezirk. „Nebel, Ruß und Druckmaschinen“ weiterlesen

Eine Stadt, in der Zeit verschwunden

Carlos Ruiz Zafón: Die Barcelona-Romane

Die letzten Wochen habe ich in Barcelona verbracht, um alte Freunde und Bekannte zu treffen. In einem Barcelona allerdings, das so vielleicht nie existiert hat, das es zumindest schon lange nicht mehr gibt und von dem ich glaube, vor vielen Jahren die letzten Atemzüge noch vage miterlebt zu haben, doch dazu am Ende mehr. Es geht – natürlich – um die Romane von Carlos Ruiz Zafón. 2003, also vor genau zwanzig Jahren, ist »Der Schatten des Windes« erschienen; ich las dieses grandiose Buch damals und war restlos begeistert. Es folgte 2008 »Das Spiel des Engels«,  dann 2012 »Der Gefangene des Himmels« und schließlich 2017 »Das Labyrinth der Lichter« – drei weitere grandiose Barcelona-Romane; jeder von ihnen anders als die anderen und trotzdem wirken alle zusammen wie aus einem Guss, ergeben gemeinsam ein großes Bild. Nun habe ich alle vier Bücher noch einmal gelesen und zwar direkt hintereinander. Und das war ein ganz besonderes, ein einzigartiges Leseerlebnis. Denn zum einen traf ich all die Menschen wieder, die ich aus den einzelnen Büchern bereits kannte. Aber diesmal tauchte ich zweitausendfünfhundertachtzig Seiten lang tief hinein in die Welt Zafóns und habe mich wochenlang darin aufgehalten, mich durch die Straßen und Gassen, über die Plätze, durch die Cafés und Restaurants Barcelonas treiben lassen und die brillant komponierten Handlungsstränge genossen. Abends bin ich mit den Geschichten im Kopf eingeschlafen, morgens habe ich beim ersten Kaffee weitergelesen. Und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das noch für lange Zeit fortsetzen können – als dann die letzte Seite des vierten Buches umgeblättert war, umgab mich diese seltsame Leere, die jeder Leser kennt. Und leider wird es keinen weiteren Roman aus diesem Zyklus mehr geben, denn Carlos Ruiz Zafón ist 2020 fünfundfünfzigjährig gestorben, viel zu früh; das Barcelona seiner Romane ist sein Vermächtnis. Ein Vermächtnis, dass ihn noch lange überdauern wird. „Eine Stadt, in der Zeit verschwunden“ weiterlesen

Die Zerrissenheit jener Jahre

Szczepan Twardoch: Demut

»Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.« Das ist der Wunsch von Alois Pokora, als er inmitten einer revolutionären Menge auf das Berliner Polizeipräsidium, die »Rote Burg« zustürmt, um Gefangene zu befreien. Es ist die Zeitenwende 1918/1919, die politische Ordnung und gesellschaftliche Normen zerbröseln. Chaos herrscht auf den Straßen und Szczepan Twardoch schickt uns mit seinem Roman »Demut« mitten hinein in diese Zeit des Umbruchs. Eine Zeit, in der vieles möglich schien. Eine Zeit voller Aufbruchsstimmung inmitten unzähliger Dramen am Ende des Ersten Weltkriegs. Eine Zeit der Kämpfe, des Hasses und des Beginns einer tiefen Spaltung der Gesellschaft. Und in der Figur jenes Alois Pokora spiegelt sich die ganze Zerrissenheit jener Jahre wider, denn er ist ein Mensch, der zwischen allen denkbaren Stühlen sitzt und droht, daran zugrunde zu gehen. Dabei hat er nur einen großen Wunsch: irgendwo dazuzugehören. »Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.«  „Die Zerrissenheit jener Jahre“ weiterlesen