Ein Dutzend Jahre und ein Bücherpaket

Ein Dutzend Jahre Kaffeehaussitzer: Ein Dutzend Buecher

Das Dutzend ist voll: Vor zwölf Jahren, am 16. Juni 2013, ist der erste Beitrag hier im Blog Kaffeehaussitzer online gegangen. Dass dies ausgerechnet am Datum des Bloomsday geschah, ist ein nettes Detail, aber das war völliger Zufall. Jedenfalls habe ich an jenem Tag zum ersten Mal den Button »Veröffentlichen« angeklickt und war dabei neugierig und gespannt, ob auch alles funktionieren würde. Es hat funktioniert, aber was sich alles aus diesem Moment entwickeln sollte, hätte ich niemals für möglich gehalten – so viele Rückmeldungen, Kontakte, Erlebnisse, Projekte, Aktionen, Reisen, sogar ein neuer Job. Der Blog ist in kürzester Zeit ein wichtiger Teil meines Lebens geworden, die virtuelle und die analoge Welt sind in ihm untrennbar miteinander verbunden. Mit dem Schreiben über Bücher und Leseerlebnisse habe ich etwas gefunden, wofür ich brenne, etwas, worin – bitte entschuldigt die Plattitüde – unendlich viel Herzblut geflossen ist und weiter fließen wird. Aber ich will mich nicht wiederholen, denn einen ausführlichen Bericht darüber, wie hier alles begann, wie sich eines zum anderen fügte und was der Blog für mein Leben bedeutet, gab es bereits zum Zehnjährigen – wobei es faszinierend und ein wenig beunruhigend ist, wie schnell schon wieder zwei Jahre ins Land gegangen sind. 

Ein Dutzend Jahre – ein Dutzend Bücher: Buchpaket zu gewinnen

Aber langer Rede kurzer Sinn: Zum vollen Dutzend habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht – für Euch, die Leserinnen und Leser dieses Blogs. Denn zum ersten Mal findet hier im virtuellen Kaffeehaus eine Verlosung statt! Zu gewinnen gibt es – natürlich – Bücher. Und zwar ein ganzes Paket davon: Aus jedem Blog-Jahr seit dem ersten Beitrag 2013 habe ich einen der vorgestellten Titel herausgepickt – ein Dutzend Jahre ergeben ein Dutzend Bücher. 

Dieses Buchpaket verlose ich. Und zwar als Ganzes. Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält also zwölf Bücher von mir. Alle nigelnagelneu, erstanden in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens. Was ihr dafür tun müsst? Das erkläre ich gleich, hier kommt erst einmal die Titelliste.


Sven Regener: Herr Lehmann (vorgestellt 2013)
»Herr Lehmann« war die erste Buchbesprechung hier im Blog und das ist nicht verwunderlich: Dieses Buch begleitet mich seit seinem Erscheinungsjahr 2001 und seitdem lese ich es jedes Jahr aufs Neue. Das fühlt sich immer an, als würde ich alte Freunde treffen und jedes Mal freue ich mich auf die letzten beiden Sätze, die für mich die perfekte Lebensphilosophie beschreiben. 

Thomas Willmann: Das finstere Tal (vorgestellt 2014)
Ein einsames Dorf in den Bergen. Ein düsteres Geheimnis. Ein Fremder. Eine Abrechnung – das alles zusammen ergibt eine mitreißend erzählte Geschichte, sprachgewaltig, düster, einzigartig: Ein Buch, wie man es nicht oft findet in seinem Leserleben. Und das man nicht wieder vergisst.

Anne von Canal: Grund (vorgestellt 2015)
Als ein junger Mann beschließt, der Bevormundung durch seinen Vater zu entkommen, trifft er zum ersten Mal in seinem Leben eine eigene Entscheidung. Die dramatische Folgen haben wird und eine Kettenreaktion auslöst, bis er letztendlich vor den Trümmern seiner Existenz steht. Keine leichte Lektüre, aber ein wundervolles Buch, das mich tief berührt hat. Es gehört zum Vermächtnis von Anne von Canal, die eine brillante Autorin war und ein wunderbarer Mensch. Im Oktober 2022 ist sie viel zu jung gestorben. 

Jean-Michel Guenassia: Der Club der unverbesserlichen Optimisten (vorgestellt 2016)
Ein schönes Beispiel für den Spruch »Don’t judge a book by its cover«, denn das Umschlagbild mit dem Motiv eines verliebten Paares hat nicht viel mit der Handlung zu tun. Dies ist kein Liebesroman, sondern es geht um das Gefühl der Heimatlosigkeit und um Schicksale von Emigranten aus dem Ostblock zu Zeiten des Kalten Krieges. Um das Zerbrechen einer Pariser Oberschichten-Familie. Es geht um Literatur, um Ideologien, um den Existenzialismus. Um Schach. Um das Aufwachsen. Und – ja, natürlich doch – um die Liebe.

Hari Kunzru: White Tears (vorgestellt 2017)
Was ist das für ein Buch? Ein Krimi? Eine Bluesgeschichte? Eine Gesellschaftsstudie? Eine Schauergeschichte? Ein Roadmovie? Es ist nicht einzuordnen und diese Vielschichtigkeit macht den Roman zu einer außergewöhnlichen und ganz besonderen Lektüre.

Hilmar Klute: Was dann nachher so schön fliegt (vorgestellt 2018)
Ein wunderbarer Roman über das Erwachsenwerden und den Aufbruch ins Leben, in dem ich diese wunderbare Textstelle gefunden habe: 
»Und du?«, fragte er. »Schon Pläne?«
»Ja«, sagte ich, »ich will Gedichte schreiben und davon leben.«
Er überlegte kurz, justierte den Strohhalm an der Cola-Flasche mit dem Mund und sagte, bevor er daran zog: »Klingt ganz vernünftig.«

Guillermo Arriaga: Der Wilde (vorgestellt 2019)
Ein Buchhändler in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens drückte mir diesen Roman in die Hand und sagte: »Les das mal.« Habe ich dann gemacht – was für ein grandioser, atemberaubender Trip. Und Jahre später muss ich das Buch nur anschauen und bin wieder mitten in dieser perfekt komponierten Geschichte, in der souverän verschiedene Zeitebenen und Handlungsstränge miteinander verwoben sind. 

Donna Tartt: Der Distelfink (vorgestellt 2020)
Ich beneide alle Menschen, die dieses Buch noch nicht kennen und damit dieses überwältigende Leseerlebnis noch vor sich haben.

Steffen Kopetzky: Propaganda (vorgestellt 2021)
Die Handlung reicht vom Zweiten Weltkrieg und der blutigen Schlacht im Hürtgenwald bis zur Veröffentlichung der »Pentagon Papers«, die maßgeblich zur Beendigung des Vietnamkriegs beitrugen. Der Roman schildert dabei, wie staatliche Propaganda sich durch die öffentliche Meinung frisst, wie sie demokratische Strukturen zerstören und Gesellschaften verändern kann. Und damit ist er trotz des historischen Settings aktueller denn je.

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke (vorgestellt 2022)
Als ich fünfzig wurde, habe ich eine Liste erstellt mit den Büchern meines Lebens. »Gesammelte Werke« ist erst danach erschienen, aber wenn eines Tages die Liste weitergeführt wird, dann ist dieser Roman mit dabei. Genauso wie »Der Distelfink« von Donna Tartt. 

Graham Norton: Heimweh (vorgestellt 2023)
Es gibt diese Sätze, die etwas mit einem machen, die an Gefühle rühren, die man tief in sich trägt. In diesem Buch habe ich eine Textstelle gefunden, die für mich zum Besten gehört, was ich jemals über das Thema Heimat gelesen habe. Und die mir nie mehr aus dem Kopf gehen wird. 

Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock (vorgestellt 2024)
Eine jüdisch-deutsch-amerikanische Familiengeschichte zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Und für mich einer der besten Debütromane der letzten Jahre.


Die Verlosung des Buchpakets

So, das ist es also, das Dutzend Bücher, das es zu gewinnen gibt. Und so könnt ihr an der Verlosung teilnehmen: 

  • Kommentiert diesen Beitrag hier im Blog.
  • Lasst in dem Kommentar einen Buchtipp da.
  • Egal ob Lieblingsbuch oder aktuelle Lektüre oder ein Werk, das euch am Herzen liegt: einfach Buchtitel mit Namen des Autors oder der Autorin nennen und dazu – wenn ihr mögt – gerne ein, zwei Sätze zum Inhalt schreiben.
  • Unter allen Kommentierenden und Buchtippgebenden verlose ich das Buchpaket.
  • Die Teilnahmemöglichkeit an der Verlosung endet am 12. Juli 2025 

Seid ihr dabei? Ich wünsche es mir sehr. Denn je mehr Leserinnen und Leser sich beteiligen, desto mehr völlig unterschiedliche Buchtipps kommen zusammen – und darauf bin ich sehr gespannt.


Hier noch das Kleingedruckte

Unter den Kommentaren unter diesem Blogbeitrag wird ein Buchpaket mit allen zwölf Titeln, die in diesem Text genannt sind, verlost. In die Lostrommel kommen nur die Kommentare, die einen Buchtipp enthalten und die bis zum 12. Juli 2025 eingegangen sind. Teilnahme ab 18. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Es ist eine private Verlosung ohne gewerbliche Absichten, die Bücher sind von mir für diese Verlosung selbst gekauft. Ein Versand ist nur innerhalb Deutschlands oder nach Österreich möglich, die Portokosten trage ich. Die Benachrichtigung des Gewinners erfolgt per E-Mail. Sobald die postalische Gewinneradresse vorliegt, wird das Buchpaket versandt; die Adresse wird weder gespeichert noch weitergegeben.  


Dann bleibt mir nur noch, euch viel Glück zu wünschen. Ich freue mich auf Eure Kommentare. 

#SupportYourLocalBookstore

Das Leben feiern. Irgendwie

Miqui Otero: Simón

Beim Lesen des Romans »Simón« von Miqui Otero war ich mir etwa ab der Hälfte nicht ganz sicher, ob ich ihn hier im Blog vorstellen und empfehlen möchte. Das Buch hat einen starken Anfang, schnell entsteht ein Sog, der einen in die Geschichte hineinzieht. Aber in der Mitte zerfasert die Handlung, der Spannungsbogen droht verloren zu gehen. Doch dann, gerade rechtzeitig, schaffte es der Autor, mich zurückzuholen. Im letzten Drittel nimmt die Story wieder Fahrt auf, Kreise schließen sich, Handlungsstränge biegen auf die Zielgerade ein und ich war gespannt, wie alles enden würde. Es war dann mitten in der Nacht, als ich das Buch zugeklappt und mich über die Feier des Lebens gefreut habe, an der ich teilhaben durfte. Und so ist trotz der ein oder anderen erzählerischen Schwäche »Simón« ein Roman, der in Erinnerung bleiben wird. Und im Herzen. „Das Leben feiern. Irgendwie“ weiterlesen

Weit oben in den Bergen

Regina Denk: Die Schwarzgeherin

Als ich mir Gedanken darüber gemacht habe, wie ich die Vorstellung des Romans »Die Schwarzgeherin« von Regina Denk beginnen könnte, ist mir aufgefallen, dass hier im Blog inzwischen etliche Romane zusammengekommen sind, die weit oben in den Bergen spielen. Und es geht darin meist um Menschen, die in einer Umgebung, einer Landschaft überleben müssen, die keinen Fehler verzeiht. Oft um Einzelgänger, die versuchen, aus gesellschaftlichen Strukturen auszubrechen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihnen vielleicht sogar Risse zuzufügen. Es sind festgefügte Regeln des Zusammenlebens, die sich über die Jahrhunderte geformt haben und die – bedingt durch die Einsamkeit und Lebensfeindlichkeit der Berge – noch undurchdringlicher sind als anderswo. Ein weiterer Gedanke: Vielleicht hat die Faszination für Bücher, deren Handlung im Gebirge angesiedelt ist, auch damit zu tun, dass ich in Sichtweite der Alpen aufgewachsen bin, wer weiß.

Menschen in Ausnahmesituationen, auf sich allein gestellt; Menschen die kämpfen müssen, um ihren eigenen Weg zu gehen – das ist eines der klassischen literarischen Themen, von denen ich nie genug bekomme. In den Bergen angesiedelt entsteht dabei eine Situation, in der es kein Ausweichen geben kann und in der alles auf ein Drama hinausläuft. Hinauslaufen muss. Und trotz der ähnlichen Rahmenbedingungen erzählt jeder dieser Romane seine Geschichte auf eine einzigartige Weise. So, dass man sie nicht wieder vergisst. »Die Schwarzgeherin« ist eines dieser Bücher. „Weit oben in den Bergen“ weiterlesen

Was wurde aus all den Träumen?

Beatriz Serrano: Geht so

Man stelle sich folgende Situation vor: Im Ruhebereich eines ICE sitzt ein Typ, der alle paar Minuten laut auflacht und ab und zu vor sich hin kichert. Klingt nervig, oder? Mich jedenfalls hätte das gehörig auf die Palme gebracht, da ich in Ruheabteilen sehr empfindlich auf laute Geräusche reagiere. In diesem Fall allerdings, na ja, was soll ich sagen – dieser Typ war ich und ich möchte mich bei allen unbekannten Mitreisenden entschuldigen. Der Grund für dieses seltsame Verhalten liegt gerade neben mir, es ist der Roman »Geht so« von Beatriz Serrano. Und eigentlich ist er gar nicht lustig, und genau das ist das Grandiose daran. „Was wurde aus all den Träumen?“ weiterlesen

Wohnzimmerlesung mit Pierre Jarawan

Pierre Jarawan: Frau im Mond

Was mit einer spontanen Aktion begann, ist zu einer festen Veranstaltungsreihe geworden: Bereits zum fünften Mal fand unsere Leipziger Wohnzimmerlesung statt, immer während der Buchmesse, immer im Wohnzimmer meines guten Freundes Hannes. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und bei ihm komme ich jedes Mal unter, wenn ich in Leipzig bin. 2018 hatte er die Idee, sein Wohnzimmer für eine Lesung zur Verfügung zu stellen und am Procedere hat sich bis heute nichts geändert: die Anmeldung dafür erfolgt per E-Mail und in der Antwort erhält man die Adresse. Etwa 30 Personen sitzen dann eng gedrängt auf Bierbänken in dem leer geräumten Raum, eine Autorin oder ein Autor ist zu Gast und ich habe das Vergnügen, das Gespräch zu moderieren. Dieses Mal war Pierre Jarawan bei uns und im Gepäck hatte er seinen neuen Roman »Frau im Mond«. „Wohnzimmerlesung mit Pierre Jarawan“ weiterlesen

Im Gefängnis der Geschichte

Matteo Melchiorre: Der letzte Cimamonte

Es war ein Zufallsfund, wie so oft. Beim Besuch einer Buchhandlung stand der Roman frontal präsentiert im Regal – ich sah das Titelbild und musste ihn haben. Der Klappentext, den ich nur kurz überflog, bestärkte mich in dieser Entscheidung. Und jetzt liegt das Buch »Der letzte Cimamonte« von Matteo Melchiorre gelesen neben mir und ich weiß, dass ich die Geschichte, die Stimmung und die Sprache noch sehr lange im Kopf behalten werde; es war ein großartiges Leseerlebnis. 

Im Zentrum der Handlung steht das Dorf Vallorgàna, hoch oben in den Ausläufern der Alpen. Und noch etwas weiter steht die alte Villa, der Adelssitz der Familie Cimamonte, der jahrhundertelang das Dorf und alles darum herum gehörte, Wiesen, Wälder und Berge. Doch diese Zeiten sind vorbei, Vallorgàna ist ein sterbender Ort, die Jungen sind gegangen, nicht wenige Häuser stehen leer. Aber noch ist Leben in den Höfen, die das Dorf prägen. Es gibt Tiere auf den Weiden, die Wiesen werden im Rhythmus der Jahreszeiten gemäht, ein Pfarrer hält die Messen und die Bar in der Ortsmitte ist nach wie vor das abendliche Wohnzimmer der alten Bauern. Während der alles umgebende Wald aufgegebene Wiesen wieder in Besitz nimmt, die Wölfe näher kommen und die Krähen wie Unglücksvögel über Vallorgàna kreisen, den Luftraum im Tal beherrschend. 

»Wir gehen. Die Krähen kommen. So sieht es aus.«  „Im Gefängnis der Geschichte“ weiterlesen

Der Weg in die Finsternis

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. 

Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt. „Der Weg in die Finsternis“ weiterlesen

»Ich las oft im Gehen«

Anna Burns: Milchmann

Belfast. Ich muss nur dieses Wort, diesen Städtenamen schreiben – schon sind Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf. Bilder einer regennassen Straße, über die ein Panzerwagen fährt. Eines belebten Platzes in der Innenstadt, der von einer schwerbewaffneten Einheit britischer Soldaten schnell durchquert wird. Eines hohen Zaunes, dem Peacewall, und zweier Uniformierter, die an einem Tor stehen und angespannt schauen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Bilder von Mauern, übersät mit martialischen Graffiti, von trostlosen, grauen Straßen, von ausgebrannten Ruinen inmitten der Häuserzeilen, fehlenden Zähnen gleich. Und über allem das unterschwellige Gefühl von Gewalt, die jederzeit ausbrechen kann. Ich war im März 1993 nur drei Tage in Belfast, aber ich werde diesen kurzen Besuch nie vergessen. Die Schwarzweißbilder in diesem Beitrag sind während dieses Aufenthalts entstanden. Sie sind etwas körnig, da ich keine Negative dazu habe und sie abphotographieren musste.

Dabei waren zu Beginn der Neunziger die allerschlimmsten Jahre schon vorbei; in den Siebzigern oder Achtzigern herrschte Bürgerkrieg in Belfast und in Nordirland – Katholiken gegen Protestanten, die IRA gegen die britische Armee und die Milizen des Oranierordens. Dabei ging es schon längst nicht mehr um Freiheit oder Unabhängigkeit; die IRA war zu einer Organisation mit mafiaartigen Strukturen mutiert, die von Schutzgeldern und Erpressungen lebte und die Briten vergalten Terror mit Gegenterror, mit Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und flächendeckender Überwachung. Und zwischen den Fronten saßen die Menschen fest, die in einem permanenten Ausnahmezustand lebten und deren Alltag bestimmt war von totalitären Strukturen und strengkonservativen gesellschaftlichen Zwängen. Mitten hinein in diese Zeit, mitten hinein in das Belfast der Siebzigerjahre führt uns der Roman »Milchmann« von Anna Burns. Ohne Belfast, Nordirland oder Großbritannien auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen. „»Ich las oft im Gehen«“ weiterlesen

Das Reisen und das Lesen

Das Reisen und das Lesen: Mit Dennis Lehane, Joan Sales und Leonardo Padura

Eine der wichtigsten Ferienvorbereitungen – wenn nicht sogar die allerwichtigste – ist die Auswahl der Bücher, die einen auf der Reise begleiten werden. Schon Wochen vor dem Urlaubsstart beginne ich darüber nachzudenken; vor dem Buchregal stehend treffe ich nach und nach meine Auswahl. Und das ist nicht einfach, denn zum einen steht nur ein begrenzter Platz im Gepäck zur Verfügung und zum anderen warten zahllose Bücher darauf, endlich gelesen zu werden. Nicht davon zu reden, dass auch in der Vorbereitungszeit neue Bücher Einzug ins Regal halten. Dazu kommt die Befürchtung, dass der Lesestoff nicht reichen könnte; ein furchtbarer Gedanke. Und tatsächlich gingen mir vor fünfundzwanzig Jahren einmal die Buchvorräte aus, auf einem abgelegenen Campingplatz mitten in Andalusien. Eine traumatische Erfahrung, die dazu geführt hat, dass ich ganz bewusst mehr Bücher mitnehme, als ich in der Urlaubszeit schaffen kann – aber man braucht ja auch eine kleine Auswahl, oder nicht? Geht es mit dem Auto in die Ferien, ist auch schon mal ein extra Buchkoffer mit circa zwanzig Büchern dabei; eine Art Reisebibliothek. Und ja, ich weiß, dass ein Tolino viel platzsparender wäre und dass ich mir zur Not auch ein Buch auf das iPhone laden könnte (was auch schon vorkam, da es genau der eine Titel in genau diesem Moment sein musste). Aber außerhalb von Notfällen kommen E-Books für mich nicht in Frage, es fehlt ihnen alles, was zum Lesen gehört: Der Geruch, die Haptik, das Rascheln der umgeblätterten Seiten, die Markierungen mit dem Bleistift – und im Urlaub die Sandkörner, die noch Wochen oder Jahre später im Buch zu finden sind. 

Diesen Sommer ging es für knapp drei Wochen in die Region zwischen Porto und Salamanca. Es war ein wunderbarer Roadtrip, der in menschenleere Bergregionen führte und in den Trubel wunderschöner, alter Städte. Und in viele Cafés, natürlich. Sieben Bücher hatte ich im Gepäck, drei davon habe ich während der Reise gelesen. Alle drei standen schon seit Jahren im Regal und alle drei haben mich vollkommen begeistert. Es sind die Romane »Im Aufruhr jener Tage« von Dennis Lehane, »Flüchtiger Glanz« von Joan Sales und »Der Mann, der Hunde liebte« von Leonardo Padura. Es werden noch ausführliche Texte zu diesen Büchern folgen, hier kommen schon einmal die Kurzvorstellungen. „Das Reisen und das Lesen“ weiterlesen

Das Abschiedsbuch

Paul Auster: Baumgartner

Ein seltsamer Zufall, falls es so etwas gibt. Am 30. April 2024 stand ich spätabends vor dem Bücherregal und überlegte, was ich als nächstes lesen möchte. Es ist eines meiner liebsten Rituale, ich schaue die Buchrücken entlang, lese hier kurz hinein und dort, bei manchen Büchern ist es sofort klar, dass sie gerade nicht passen, bei anderen bin ich unschlüssig, stelle oder lege sie dann doch zurück und schaue weiter. Irgendwann kommen zwei, drei Titel in die engere Wahl, ein Favorit kristallisiert sich heraus – und die Entscheidung ist getroffen. Da es inzwischen sehr spät geworden war, wollte ich mich am nächsten Morgen endgültig für die nächste Lektüre entscheiden. Mit in die engere Wahl gekommen war der Roman »Baumgartner« von Paul Auster, das zuletzt erschienene Buch eines meiner Lieblingsautoren, dessen Werke einige Spuren in meiner Leserbiographie hinterlassen haben. Am nächsten Morgen dann verbreitete sich weltweit die Nachricht von Paul Austers Tod, er war 77jährig an einer schweren Krebserkrankung gestorben. Und »Baumgartner« ist zu seinem Abschiedsbuch geworden. „Das Abschiedsbuch“ weiterlesen