Die ukrainische Tragödie

Anne Applebaum: Roter Hunger - Stalins Krieg gegen die Ukraine

Das Buch »Roter Hunger« von Anne Applebaum kaufte ich mir vor ein paar Jahren, um eine Wissenslücke zu schließen. Denn ich wusste bisher wenig über die große Hungersnot, die 1932 und 1933 die Ukraine heimsuchte – außer, dass sie von Stalin bewusst herbeigeführt wurde, um den ukrainischen Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft zu brechen. Der Holodomor war eines der vielen unmenschlichen Verbrechen, die den Weg des Stalinismus säumten und ist in seiner Dimension ungeheuerlich. Erst jetzt bin ich dazu gekommen, das Buch zu lesen und angesichts des brutalen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der seit Februar 2022 mitten in Europa tobt, erhält dieses Werk eine neue, beklemmende Aktualität. Denn neben den darin geschilderten Ereignissen vermittelt es das nötige historische Hintergrundwissen, mit dem dieser Krieg betrachtet werden muss. Um zu verstehen, dass der russische Despot Wladimir Putin nie Ruhe geben wird und dass Verhandlungen niemals einen dauerhaften Frieden schaffen werden.

Erschütternde Lektüre

»Roter Hunger« trägt den Untertitel »Stalins Krieg gegen die Ukraine« und es ist ein Buch, das mich zutiefst erschüttert hat. Denn dieser Krieg wurde mit äußerster Perfidie und Grausamkeit gegen Menschen geführt, die nicht die geringste Chance hatten, sich zu wehren. 

»Der Hungertod eines menschlichen Körpers nimmt immer denselben Verlauf. In der ersten Phase verbraucht der Körper seine Glukosevorräte. Extremes Hungergefühl setzt ein, dazu ständige Gedanken ans Essen. In der zweiten Phase, die mehrere Wochen andauern kann, beginnt der Körper, das eigene Fett zu verbrauchen, und der Organismus wird drastisch geschwächt. In der dritten Phase verbraucht der Körper sein eigenes Eiweiß und zehrt Gewebe und Muskeln auf. Schließlich wird die Haut dünn, die Augen werden größer, Beine und Bauch schwellen an, und das extreme Ungleichgewicht lässt den Körper Wasser ansammeln. Kleine Anstrengungen führen zur Erschöpfung. Daneben können verschiedene Krankheiten den Tod beschleunigen: Skorbut, Kwaschiorkor, Marasmus, Lungenentzündung, Typhus, Diphterie sowie zahlreiche Infektionen und Hautkrankheiten, die direkt oder indirekt durch Mangelernährung ausgelöst werden. Die Ukrainer auf dem Land, die im Herbst und Winter 1932 nichts zu essen hatten, erlebten all dieses Stadien des Hungers im Frühjahr 1933 – wenn nicht schon vorher.«

Für ihre Recherche hat die Autorin unzählige Augenzeugenberichte ausgewertet, die jahrelang unzugänglich in sowjetischen Archiven lagerten. Sie beschwören apokalyptische Bilder herauf. Tote in den Häusern der immer stiller werdenden Dörfer, auf den Plätzen, entlang der Straßen und schlammigen Wege; verhungernde Menschen, die sich mit letzter Hoffnung in die Städte schleppten, nur um dort zu sterben. Leichen überall, Tausende, Hunderttausende, Millionen. Nach dem neuesten Forschungsstand kamen durch die Hungersnot zwischen 3,9 Millionen und 4,5 Millionen Ukrainer ums Leben. Verhungerten, starben an Auszehrung, an Schwäche. Frauen, Kinder, Männer, ganze Familien wurden ausgerottet. 

Die Ukraine und die Sowjetunion

Die ukrainische Geschichte ist seit hunderten von Jahren tief eingebettet in die europäische Vergangenheit. »Seit dem späten Mittelalter gibt es eine eigene ukrainische Sprache mit slawischen Wurzeln, die mit dem Polnischen und Russischen verwandt, aber eigenständig ist, ähnlich wie das Italienische mit dem Spanischen und Französischen verwandt, aber eigenständig ist. Die Ukrainer hatten eine eigene Küche, eigene Sitten und lokale Traditionen, eigene Bösewichte, Helden und Legenden. … Während des größten Teils seiner Geschichte war aber das Gebiet, das wir heute Ukraine nennen, eine Kolonie anderer europäischer Reiche.«

Im Laufe der Jahre gehörten Teile des Gebietes zu Russland und Polen und nach den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert auch zu Österreich-Ungarn – Joseph Roths Galizien ist der ukrainische Teil des Habsburgerreiches gewesen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein ukrainisches Nationalbewusstsein, doch erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – in dessen Verlauf große Teile der Ukraine von deutsch-österreichischen Heeren erobert wurden – und dem Zerfall der mitteleuropäischen Staatenordnung war die Chance da: Im Januar 1919 betrat die Ukraine als eigenständiger Staat die Bühne Europas. Doch der Auftritt war nur von kurzer Dauer, der russische Bürgerkrieg schwappte über die Grenzen, es war eine Zeit, in der die alte Welt in einem Strudel auch Chaos versank. Die Truppen des wiedergegründeten Polen kämpften gegen Ukrainer, Polen kämpften gegen Russen, Ukrainer gegen Russen, Anhänger des Zaren gegen die Bolschewisten, dazu gab es ukrainische Nationalisten, ukrainische Anarchisten und weitere Splittergruppen. Die Rote Armee ging siegreich aus den Kriegswirren hervor, die Sowjetunion konsolidierte sich und griff nach dem Nachbarland. Die Ukraine wurde besetzt, 1922 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik gegründet und der Sowjetunion angegliedert. Der Traum der Unabhängigkeit war zerstoben. 

Anne Applebaum gibt zu Beginn ihres Buches einen wahren Crashkurs in ukrainischer Geschichte und das ist wichtig, um die geschilderten Ereignisse zu verstehen. Denn es gab eine Kontinuität, egal ob in St. Petersburg ein Zar regierte oder in Moskau das bolschewistische Regime: die russischen Herrschenden sahen die Ukraine stets als Teil Russlands an, sie ignorierten deren Eigenständigkeit, unterdrückten die ukrainische Kultur oder sorgten dafür, dass sie in der russischen Wahrnehmung als minderwertig galt, bekämpften die ukrainischen Bestrebungen nach Unabhängigkeit. Zu wichtig war das äußerst fruchtbare Land für die Versorgung des russischen, später des sowjetischen Reiches. Auch diese Kontinuität in der russischen Denkweise schildert die Autorin ausführlich und anhand zahlreicher Beispiele – sie reicht bis in unsere Gegenwart, bis hin zu Putins barbarischem Angriffskrieg. 

Die Ukraine jener Zeit war Agrarland. Von den Industriegebieten im Osten und den wichtigen Städten wie etwa Kiew, Odessa, Charkiw, Lemberg bzw. Lwiw, Poltawa oder Tscherkassy abgesehen, bestand die größte Fläche des Landes aus Feldern. Und die größte Bevölkerungsgruppe waren die Bauernfamilien, die sie seit vielen Generationen bestellten. Diese stark in ihren Traditionen verwurzelten Menschen wurden von den Herrschenden als zentrales Hindernis auf dem Weg der Ukraine in den Sozialismus ausgemacht. Der Weg, diesen Widerstand zu beseitigen, war für die kommunistische Partei die Zwangskollektivierung, also die gegen die Interessen der Bauern gerichtete Auflösung aller großen und kleinen Höfe, das Verbot des privaten Besitzes von Geräten, Fahrzeugen und – bis auf kleine Restbände – Tieren. Alles wurde in Kolchosen zusammengelegt, mit denen die Landwirtschaft zentral organisiert werden sollte. Was bedeutet, dass die Bauern wirtschaftlich abhängig vom Staat wurden, denn niemand konnte mehr mit seiner Arbeit Geld verdienen – von der Kolchosleitung erhielten sie nun Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs gemäß der Qualität der Arbeit, die sie auf den Feldern verrichteten. Felder, die einst ihnen gehörten. Wer sich von seinem Wohnort entfernte, verlor den Anspruch auf die tägliche Ration: Durch die Kollektivierung schuf das kommunistische System neue Leibeigene. Und man kann sich vorstellen, dass die Produktivität massiv darunter litt. 

Anne Applebaum schreibt: »Für sich genommen hätte die Kollektivierung nicht zu einer so großen Hungersnot wie der von 1932/33 führen müssen, aber die dabei angewandten Methoden zerstörten die moralische Struktur des Landlebens ebenso wie die wirtschaftliche Ordnung. Alte Werte, wie der Respekt vor dem Eigentum, der Würde, dem menschlichen Leben verschwanden. An ihre Stelle setzten die Bolschewiki die Rudimente einer Ideologie, die sich als tödlich erweisen sollte.« 

Die Partei hat immer recht – mit tödlichen Konsequenzen

Die Anzeichen einer aufziehenden Hungersnot waren nicht zu übersehen, denn die Erntemengen in der zwangskollektivierten Ukraine blieben weit hinter den unrealistischen staatlichen Vorgaben zurück. Oder vielmehr: Eigentlich waren sie nicht zu übersehen. Doch in einem Staat mit einer totalitären Ideologie kann nicht sein, was nicht sein darf. Zudem war Stalin einer der größten Verfechter der Zwangskollektivierung und er durfte sich keine Blöße geben, sich keinen Irrtum erlauben. 

Mit Zwang und Gewalt sollte die landwirtschaftliche Produktion angekurbelt werden. Wer zu wenig lieferte, wurde bestraft – auch wenn er aufgrund der kollektivistischen Misswirtschaft oder der klimatischen Rahmenbedingungen nichts für eine Minderleistung konnte. Entsprechend instruierte Einheiten durchkämmten monatelang jedes noch so kleine Dorf, suchten diese Bauern auf und nahmen ihnen die allerletzten Besitztümer weg: Hühner, Schweine, Saatgetreide für den eigenen Bedarf, die wenigen letzten Vorräte, mit der die Familie gerade so überlebt hätte – bis hin zu Tischen, Stühlen, Betten, Töpfen, Pfannen und dem bisschen Geschirr, das eine Bauernfamilie besaß. Häuser wurden durchsucht, verwüstet und oft bewusst zerstört, Familien hinausgetrieben – auch im Winter. Als »Volksfeinde« denunzierte Bauern wurden durch Schnellgerichte direkt verurteilt und liquidiert. Es entstand ein künstlich erzeugter Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg gab. Die vollstreckenden Einheiten selbst bestanden zum einen aus fanatischen Parteikadern – die von der Ideologie so verblendet waren, dass sie keinerlei Mitleid mit den Menschen hatten, die sie als Feinde des Kommunismus sahen. Und zum anderen aus dem Abschaum der Gesellschaft, denen, die es genossen, Macht ausüben zu können, nachdem sie ihr bisheriges Leben am Rand verbringen mussten – es war die übliche Mischung, die jedes totalitäre System hervorbringt. 

Die in dem Buch gesammelten Berichte über diese brutalen Zwangsmaßnahmen, über das bewusste Verurteilen tausender Familien zum Hungertod, sind schwer zu ertragen. Umso wichtiger ist es, dass sie mit ihrer Veröffentlichung dem jahrzehntelangen Schweigen und Vertuschen entrissen werden. 

Und während die Menschen starben, schafften Stalins Helfershelfer Tonne um Tonne an Nahrungsmitteln aus der Ukraine hinaus. Während es erste Fälle von Kannibalismus gab, liefen voll befüllte Schiffe aus den Häfen des Schwarzen Meeres aus – denn der Getreideexport war eine wichtige Einnahmequelle der Sowjetunion. Während sich zerlumpte Gestalten die Straßen entlangschleppten und irgendwann liegenblieben, unterdrückte das Regime jede Pressemeldung über das Verhängnis, das die ukrainische Bevölkerung ereilt hatte. Nur Gerüchte erreichten das Ausland – die so unfassbar klangen, dass sie lange Zeit nicht geglaubt wurden. Zumindest nicht in ihrer tatsächlichen Dimension.

Der Holodomor und die Folgen

Der Holodomor war eines der größten Verbrechen der Menschheit. Und die ukrainische Eigenständigkeit auszulöschen dabei eines der wichtigen Ziele des sowjetischen Regimes. Die menschenverachtende Vorgehensweise brach dem Land und seiner Kultur beinahe das Rückgrat; ein paar Jahre später brachte die deutsche Wehrmacht Tod und Verderben auf ihrem Weg in Richtung Osten und hinterließ ein Trümmerfeld. Nach dem Zweiten Weltkrieg war im Bewusstsein der Welt und vor allem im Bewusstsein der russischen Bevölkerung die Ukraine als als ein Gebiet mit einer eigenen Sprache, Geschichte und Kultur fast verschwunden. 

Im letzten Kapitel des Buches schreibt Anne Applebaum über Stalins Angst, die Ukraine zu verlieren, eine Angst, die sich zu einer regelrechten Paranoia auswuchs und eine der Ursachen für die Millionen Hungertote war. Und die in der russischen Politik nachwirkt bis heute.

»Stalin war besessen von der Vorstellung, er könne in der Ukraine die Kontrolle verlieren und fürchtete, polnische oder andere ausländische Verschwörungen würden das Land unterwandern. Er wusste, dass die Ukrainer der zentralisierten Herrschaft misstrauten, dass die Kollektivierung bei den Bauern, die eng mit ihrem Land und ihren Traditionen verbunden waren, unpopulär sein würde und dass der ukrainische Nationalismus eine elektrisierende Kraft war, die den Bolschewismus herausfordern und sogar zerstören könnte. Eine souveräne Ukraine konnte das sowjetische Projekt torpedieren, indem sie der UdSSR nicht nur ihr Getreide vorenthielt, sondern ihr auch die Legitimation raubte. Jahrhundertelang war die Ukraine eine russische Kolonie gewesen, ukrainische und russische Kultur blieben eng verknüpft, russische und ukrainische Sprache waren eng verwandt. Wenn die Ukraine das Sowjetssystem und seine Ideologie zurückwies, konnte sie Zweifel am gesamten Sowjetprojekt wecken. 1991 tat sie genau das.«

Dies ist eine Schlüsselstelle des Buches, insbesondere der letzte Satz. Denn als die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, war dies einer der entscheidenden Impulse für den Zerfall der Sowjetunion. Ein Ereignis, das viele in Russland bis heute als Niederlage ansehen, allen voran Wladimir Wladimirowitsch Putin. Und nachdem sich 2014 die Ukraine endgültig aus dem russischen Einfluss zu verabschieden begann, schlug er los. Seitdem herrschte nach der Annektierung der Krim und den Kämpfen in der Donbass-Region ein latenter Kriegszustand – bis am 24. Februar 2022 die letzten Masken fielen und Putins Revanchismus zu einem Vernichtungskrieg geführt hat, der bis dahin in Europa nicht mehr vorstellbar gewesen war.

In einem Interview wurde der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow gefragt, welche Publikationen dem europäischen Lesepublikum helfen könnten, die Wissenslücken über die Geschichte seines Landes zu schließen. Er nennt daraufhin die Werke von Anne Applebaum, Timothy Snyder und Sergei Plokhia. Wörtlich sagt er: »Ihre Texte helfen, den Ursprung des Hasses Putins und der Sowjets auf die Ukraine zu verstehen und ihre Haltung gegenüber der Idee der Unabhängigkeit der Ukraine.«

Daher empfehle ich das vorgestellte Buch »Roter Hunger« zur unbedingten Lektüre. Insbesondere allen Offene-Briefe-Schreibern, die tatsächlich glauben, dass Putin an Verhandlungen interessiert sei. Denn das ist er nicht. Wird er niemals sein. Und es liegt es an uns, dem freien Westen, die Ukraine in ihrem Kampf zu unterstützen – mit allem, was nötig ist. 

#StandWithUkraine

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt über die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert.

Buchinformation
Anne Applebaum, Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine
Aus dem Englischen von Martin Richter
Siedler Verlag
ISBN 978-3-8275-0052-6

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3 Antworten auf „Die ukrainische Tragödie“

  1. Lieber Uwe, danke für diesen Tipp! Werde ich mit umgehend besorgen. (Natürlich im Siebten Himmel, Köln, kein Weg ist zu weit). Von der Autorin hatte ich schon mal gehört, das Buch war mir unbekannt. Jetzt aber… Lg. Klaus

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