Ein Sohn seiner Zeit

Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt

Auch über ein Jahrhundert später umgibt die Texte von Franz Kafka eine Aura von geheimnisvoller Eleganz. Sie stammen aus der Feder eines Menschen, für den das Schreiben alles bedeutete, der sich über die Literatur definierte und allen Widrigkeiten zum Trotz jene Texte schuf, die uns heute noch faszinieren. Dabei war er kein einzelgängerischer Außenseiter. Denn auch wenn er zu seiner Familie ein gespaltenes, zu seinem Vater ein zerrüttetes Verhältnis hatte und es ihm schwerfiel, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen oder Beziehungen einzugehen, so war er gleichzeitig fest eingebunden im intellektuellen Leben Prags, hatte Freunde und Bekannte, verbrachte gerne Zeit in Kaffeehäusern und Buchhandlungen, diskutierte leidenschaftlich über Literatur und die Themen der Zeit. Wie haben all diese äußeren Einflüsse sein Schaffen geprägt? Und ist es möglich, Spuren davon in seinen Texten zu finden? Diesen Fragen geht der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher in seinem Buch »Kafkas Werkstatt« nach und nimmt uns mit auf eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche und neuer Gedanken. „Ein Sohn seiner Zeit“ weiterlesen

Samsa. Gregor Samsa.

Franz Kafka: Die Verwandlung

»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Diese Worte sind einer der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte. Sie haben sich schon längst verselbständigt und ähnlich wie »Call me Ishmael« oder »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen« muss man nichts weiter dazu sagen; jeder weiß, welcher Text auf diese Weise beginnt. Und das ist nicht weiter verwunderlich, denn dieser eine Satz, mit dem uns Gregor Samsa vorgestellt wird, ist perfekt. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich ihn vor etlichen Jahren das erste Mal gelesen habe: Ich war irritiert, fasziniert und wurde voller Neugier sofort in diesen ungewöhnlichen Text hineingezogen. Und habe ihn – wie so viele andere Leser – nie wieder vergessen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogbeitrag mit drei unterschiedlichen Ausgaben der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka beschäftigen. Mit drei ganz besonderen Ausgaben. „Samsa. Gregor Samsa.“ weiterlesen

Zwei Bücher, drei Jahrzehnte

Franz Kafka: Erzaehlungen

Ich konnte nicht widerstehen. Als ich in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens die Neuausgabe der Erzählungen von Franz Kafka sah, musste ich sie einfach haben. Ein leinengebundenes Buch – das findet man heute außerhalb der Programme der Büchergilde und des Manesse-Verlags nur noch selten. Und ich liebe Leineneinbände, deshalb konnte ich gar nicht anders. Nun habe ich den neu erworbenen Band neben dem alten Taschenbuch photographiert und beim Blick auf die beiden Bücher wird mir bewusst, dass über dreiunddreißig Jahre zwischen ihnen liegen. Das Taschenbuch ist die Ausgabe, von der ich hier im Blog schön öfters erzählt habe, vergilbt, zerkratzt und zerknickt begleitet es mich schon seit dem Herbst 1990; es ist mit all seinen Narben und Blessuren ein Teil meines Lebens. Mit ihm verbinde ich viele Monate der Lektüre und viele Stunden in Cafés und Kneipen, es begleitete mich durch die Zeit, als der Aufbruch ins Erwachsenenleben von einer großen Ungewissheit geprägt war. „Zwei Bücher, drei Jahrzehnte“ weiterlesen

»Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes«

Ruediger Safranski: Kafka - Um sein Leben schreiben

Denkt man darüber nach, wirkt es wie eine schräge Laune des Schicksals: Ausgerechnet Franz Kafka, ein hochgradig introvertierter Mensch, der Zeit seines Lebens mit sich haderte, der sein Schaffen immer wieder in Frage stellte, so sehr, dass er seinen besten Freund darum bat, seinen gesamten Nachlass zu verbrennen, ausgerechnet dieser Franz Kafka ist heute einer der meistinterpretiertesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Kein Halbsatz, kein Brief, kein Tagebucheintrag, keine Notiz blieb unkommentiert, die stetig anwachsende Sekundärliteratur füllt ganze Bibliotheken. Buchstäblich jede Minute seines viel zu kurzen Lebens wurde erforscht, so gut wie nichts blieb im Dunkel der Geschichte verborgen. Und gleichzeitig gibt es keine allgemeingültige Deutung seines Werkes und wird es auch niemals geben – denn das ist das Faszinierende an Kafkas Romanen und Erzählungen: Geschrieben in einer präzisen Sprache, der man die juristische Schulung anmerkt, bleibt der Inhalt ungewiss, angesiedelt irgendwo zwischen Realität und Traum. Angstgefühle und Fragen der Schuld prägen seine Werke, doch jeder liest sie anders, jeder nähert sich auf seine Weise an die irrlichternden und doch glasklaren Texte an. Und bei jedem Menschen lösen sie andere Empfindungen aus. Gleichzeitig sind seine Texte nicht nur ein Teil seiner Identität, nein, sie sind seine Identität, sind sein Leben. Wie kaum ein anderer Autor hat Franz Kafka seine Gefühle so unmittelbar und doch so verschlüsselt zu Papier gebracht. Sein berühmter Satz ist die Essenz seines Lebens: »Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein«. „»Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes«“ weiterlesen

Flaneur der Dämmerung

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos - eine photographische Spurensuche

»Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen.« Diese häufig zitierten Sätze schrieb Franz Kafka als Neunzehnjähriger, es sind klarsichtige Worte eines jungen Mannes, der den Großteil seines viel zu kurzen Lebens in dieser Stadt verbringen wird. Sie ist sein Geburtsort, der Platz seiner Familie, von der er sich durch die dominante Präsenz seines Vaters nie wirklich lösen kann. Und so wird Prag sein gesamtes Schaffen prägen; die prachtvollen Plätze und düsteren Gassen, die erleuchteten Kaffeehäuser und dunklen Hinterhöfe, die Nebelschwaden, die aus der Moldau aufsteigen, eine mystische, unterschwellig bedrohliche Stimmung, die nachts in den leeren Straßen liegt, das Morbide einer jahrhundertealten Stadt – all das finden wir in Kafkas Werk wieder. »Das Charakteristische der Stadt ist ihre Leere« – eine Notiz aus seinem Nachlass. Heute, ein Jahrhundert nach seinem Tod, kommt einem dieser Satz surreal vor angesichts der Touristenmassen, die sich tagein, tagaus durch die Stadt an der Moldau schieben und sie schon längst zu einer Kulisse degradiert haben. Oder doch nicht? Hat Kafkas Prag im Verborgenen überlebt? Gibt es sie noch, jene Atmosphäre, die sein Leben prägte? Der Photograph Helmut Schlaiß hat sich auf eine Spurensuche begeben – und herausgekommen ist ein prachtvoller Bildband mit dem Titel »Kafkas Kosmos«. „Flaneur der Dämmerung“ weiterlesen

Der Brief mit der Axt

Franz Kafkas Brief mit der Axt

Franz Kafkas Satz mit der Axt und dem Buch und dem gefrorenen Meer kennt wahrscheinlich jeder literaturinteressierte Mensch; er wurde so oft zitiert, dass er fast zu einem Gemeinplatz geworden ist. Leider, muss man sagen, denn es gibt kaum eine Formulierung, mit der sich die Macht der Literatur, des geschriebenen Wortes besser ausdrücken lässt. Besonders, wenn man sich nicht nur diesen einen Satz anschaut, sondern den gesamten Brief, aus dem er stammt. Der zwanzigjährige Franz Kafka berichtet darin von einem überwältigenden Leseerlebnis und der Abschnitt, in dem sich der Axt-Satz befindet, ist nur ein kleiner Teil davon. Es ist sehr leicht, diesen Brief online zu finden, eine schnelle Recherche genügt. Geschrieben wurde er von Kafka in Prag im Januar 1904 an seinen gleichaltrigen Schul- und Studienfreund Oskar Pollak, der zu dieser Zeit ein Semester pausierte. Hier ist er in Gänze. „Der Brief mit der Axt“ weiterlesen

Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr

Das Kafka-Jahr

Als ich zum ersten Mal etwas von Franz Kafka las, stand ich im Licht einer Straßenlaterne. Es ist lange her und muss im Herbst des Jahres 1990 gewesen sein, aber ich habe diesen Moment, diesen Abend nie vergessen. Vielleicht, weil dabei einiges zusammenkam. Es war kurz nach dem Ende meines Zivildienstes, und beim Start ins Leben war ich gleich in einer Sackgasse gestrandet. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, keine Idee, was die Zukunft bringen könnte, keine Perspektive. Ich wohnte zur Untermiete bei einer Kollegin; nicht ganz legal, denn laut Mietvertrag war dies nicht erlaubt – was dazu führte, dass ich immer schnell durch das Treppenhaus huschte und möglichst wenig zu Hause war. Falls man es unter diesen Umständen überhaupt ein Zuhause nennen konnte. Der Zivildienst war gegen einen Job als Altenpflegehelfer eingetauscht worden, das Geld genügte, um jeden Abend auszugehen oder die freien Nachmittage in Cafés zu verbringen. Die nagende Unzufriedenheit wurde dabei durch ständiges Unterwegssein und viel zu wenig Schlaf mehr oder weniger erfolgreich übertüncht. Doch nach einer langjährigen Pause hatte ich einige Monate zuvor das Lesen wieder entdeckt – und in dieser Zeit wurde es mir zur Gewohnheit, immer ein Buch bei mir zu tragen. Eine Gewohnheit, die ich nie wieder abgelegt habe. „Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr“ weiterlesen