Kürzlich bin ich über ein Zitat der Autorin Marie von Ebner-Eschenbach gestolpert. Es stammt aus der 1880 veröffentlichten Novelle »Lotti, die Uhrmacherin« (die laut Wikipedia die erste deutschsprachige Erzählung über eine Handwerkerin ist) und darin lässt sie die Protagonistin sagen: »Ein schönes Buch nicht wiederlesen, weil man es schon gelesen hat, das ist, als ob man einen teuren Freund nicht wieder besuchen würde, weil man ihn schon kennt.« Wunderbar auf den Punkt gebracht, finde ich, denn es gibt so einige Bücher, die ich immer wieder lese und jedes Mal stellt sich dabei eine wunderbare Vertrautheit ein, man beginnt sich auf bestimmte Szenen oder Dialoge zu freuen, entdeckt neue Details und genießt die Sprache. Und manchmal verändert sich auch die eigene Rezeption im Laufe der Jahre – das ist spannend zu beobachten.
Ein Buch erneut zu lesen, ist wie einen Freund zu besuchen: Vermutlich trifft das bei mir auf keinen Roman so sehr zu wie auf »Herr Lehmann« von Sven Regener. Ich habe hier im Blog schon an verschiedenen Stellen über dieses Buch geschrieben und wer hier schon etwas länger mitliest, der weiß, wie wichtig es mir ist. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Werk, in dem ich so viel von mir selbst, so viel eigenes Lebensgefühl der Dekade zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Geburtstag wiederfinde. In die Hände bekommen habe ich das Buch im Jahr 2001 und es hat mich beim ersten Mal – kurz vor Abschluss der Diplomarbeit, als ich eigentlich gar keine Zeit dafür hätte haben sollen – so begeistert, dass ich es gleich noch einmal gelesen habe, direkt am nächsten Tag. Und nicht lange danach ein weiteres Mal. Seitdem besuche ich Herrn Lehmann und seine liebenswert chaotischen Freunde im Kreuzberg des Jahres 1989 Jahr für Jahr erneut. Und seitdem freue ich mich bei jeder Lektüre auf die letzten beiden Sätze, die für mich die vollkommen perfekte Lebensphilosophie darstellen: »Ich gehe erst einmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.«
Heute habe ich den Roman bei einer längeren Zugfahrt gelesen, ich glaube, es war das fünfundzwanzigste Mal. Aber nicht nur das machte diesen Besuch bei Frank Lehmann – wie er eigentlich heißt – zu etwas Besonderem. Denn der Kern der Handlung ist Franks dreißigster Geburtstag am 9. November 1989. An diesem Tag fällt die Berliner Mauer und sie lässt gleichzeitig Franks Kreuzberger Biotop einstürzen. Die kleine Parallelwelt der Menschen, die sich in einem anarchischen Provisorium häuslich eingerichtet haben; Möchtegernkünstler und Kneipengänger, Gescheiterte, die es nur noch nicht wissen, aber zufrieden damit sind, in den Tag hineinzuleben und chaotisch durch das Leben zu stolpern. Aber von diesem Moment an würde alles anders werden.
An dieses Gefühl erinnere ich mich gut. Die Schulzeit lag hinter uns, der Zivildienst, das Studium oder die Ausbildung hatten begonnen – und wir saßen im Zimmer eines Freundes vor dem Fernseher, sahen die Menschen auf der Berliner Mauer stehen, die Trabis durch die Übergänge in den Westen fahren. Fassungslos starrten wir auf die Bilder, und auch wir wussten, dass von diesem Moment an alles anders werden würde. Und genau so war es: Hätte mir noch im Oktober 1989 jemand gesagt, dass ich ein paar Jahre später in Leipzig studieren und dort wunderbare Freundschaften schließen würde – es wäre vollkommen unvorstellbar gewesen. Leipzig lag bis zu jenem Novembertag in einem anderen Land, in einer anderen Welt, zu der es keinen Zutritt gab.
Der 9. November 1989 ist auf den Tag genau fünfunddreißig Jahre her. Dreieinhalb Jahrzehnte – was für eine lange Zeit. Und als ich darüber nachdachte, ist mir auch klar geworden, was das für Frank Lehmann bedeutet: Er wird heute 65 und ich habe für ihn eine Geburtstagskerze angezündet. Happy Birthday, alter Freund, wie schnell die Zeit vergeht. »Ich gehe erst einmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.« Mir haben diese beiden Sätze Glück gebracht und ich hoffe, dir auch. Wo immer du auch sein magst – wir lesen uns nächstes Jahr wieder. Ich freue mich schon.
Die Kerze auf dem Beitragsphoto war ein Geschenk: Carmen Böhm, die auf Instagram unter dem Namen @carmancia unterwegs ist und wunderbar über Bücher schreibt, treffe ich jedes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse. Dieses Mal hatte sie diese Kerze für mich dabei. Und gesagt, dass ich sie bloß nicht aufheben, sondern anzünden soll, dafür seien Kerzen ja schließlich da. Das hier war der perfekte Anlass dafür.
Buchinformation
Sven Regener, Herr Lehmann
Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8218-0705-8
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