Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben.
Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt.
Bevor »Rath« als furioses Ende der Serie erschien, habe ich alle neun vorherigen Bände aus dem Regal geholt und sie einen nach dem anderen gelesen, am Stück, ohne andere Bücher dazwischen – um dann direkt mit dem zehnten abzuschließen. Es war wie ein Leserausch, knapp vier Wochen habe ich benötigt und war in jeder Minute, die ich erübrigen konnte, abgetaucht in der Vergangenheit, in einer Epoche, die prägend war für unsere Gegenwart. Seite für Seite verdichten sich die dunklen Vorzeichen bis das Licht ganz verschwunden ist, aus den ersten Hinweisen auf Kommendes werden ganze Handlungsstränge – liest man alle Bände am Stück ist das ein atemberaubendes Leseerlebnis. Und am Ende dieser literarischen Reise, 1938, weiß man, dass allen bisherigen Schrecken zum Trotz in der historischen Realität das Schlimmste erst noch bevorsteht.
In »Der nasse Fisch«, dem ersten Band, in dem Gereon Rath 1929 gerade neu nach Berlin gekommen ist, spielt Politik nur am Rand eine Rolle. In einer Szene hängt an der Garderobe eines Hausmeisters eine SA-Uniform und in der Handlung geht es – unter anderem – um illegale Waffenverkäufe, die auch der SA zugutekommen.
In »Der stumme Tod«, dem zweiten Band, steht der Niedergang des Stummfilms im Mittelpunkt der Handlung. Aber nebenbei erfahren wir, dass die Beerdigung von Horst Wessel in Berlin für Tumulte sorgt und im Polizeipräsidium fällt die ein oder andere Bemerkung, dass die Nazis ja keinesfalls so schlimm seien wie die Kommunisten. Vereinzelt tauchen antisemitische Äußerungen in den Dialogen auf. Es ist das Jahr 1930.
Der dritte Band, »Goldstein«, führt ins Jahr 1931. Die Präsenz der Nazis in der Handlung nimmt deutlich zu: SA-Männer, die einen Juden attackieren, rechtsradikale Äußerungen von Kollegen, die beiläufig, aber immer auffälliger in die Handlung eingebaut sind, gegen Ende des Buches wird Gereon Rath Augenzeuge von organisierten SA-Krawallen auf dem Kurfürstendamm. Am Rande, wie zufällig eingestreut, erfahren wir von der deutschen Bankenkrise – die dramatische gesellschaftliche Folgen haben wird. Bei manchen von Raths Kollegen zeichnet sich – ohne dass wir es zu diesem Zeitpunkt ahnen – eine spätere Karriere in Gestapo und SS ab – im Nachhinein wirkt das alles ganz logisch, so geschickt bringt Volker Kutscher die Personen seiner Romane in Stellung. Und spätestens ab diesem dritten Band ist Charlotte Ritter, später Charlotte Rath, die andere Hauptfigur der Reihe. Außerdem schafft sich Gereon Rath einen Todfeind, aber das weiß er noch nicht.
Bei Band vier, »Vaterland«, sind wir im Jahr 1932 angekommen. Das im April in Kraft getretene Verbot von SA und SS wurde im gleichen Jahr wieder aufgehoben, mit der Folge, dass sich gewalttätige Zwischenfälle bis hin zu Straßenschlachten mit Toten mehren. Das politische Hintergrundrauschen in der Handlung wird spürbar lauter, immer mehr von Raths Kollegen machen keinen Hehl mehr aus ihrer Sympathie für die Nationalsozialisten. Eine Mordserie führt Gereon Rath zu Ermittlungen in die ostpreußische Provinz – hier wird er vom »Preußenschlag« überrascht, mit dem die Reichsregierung die SPD-geführte preußische Landesregierung entmachtete – es war das letzte größere Bollwerk der Demokratie im Deutschen Reich. Zum ersten Mal grätscht die Politik massiv in Raths Ermittlungen hinein.
Band fünf. »Märzgefallene«. 1933. Zu Beginn des Romans ist Rosenmontag, den Gereon Rath in seiner Heimatstadt Köln etwas zu exzessiv feiert. In der gleichen Nacht brennt in Berlin der Reichstag. Die Handlung beschreibt Deutschland an einem Wendepunkt, Hitler ist Reichskanzler, schon die ersten Wochen nach seinem Amtsantritt haben genügt, um eine Diktatur zu etablieren – der Reichstagsbrand mit seinen Folgen ist der letzte Nagel im Sarg der Demokratie. Die Polizei wird mehr und mehr für politische Aufgaben eingesetzt, so unterstützt sie etwa die SA auf der Jagd nach Kommunisten oder anderen Menschen, die der neue Staat als Feinde betrachtet. Die Stimmung im Präsidium kippt immer weiter und immer schneller nach rechts; Gereon Rath will es lange nicht wahrhaben, ihm ist es egal, ob jemand Nazi ist oder nicht. Für ihn ist Polizeiarbeit unpolitisch und in dieser Lebenslüge richtet er sich ein, während Charlotte »Charlie« viel hellsichtiger ist, ihr ist es klar, was dem Land bevorsteht und sie verzweifelt Monat für Monat mehr. Inzwischen ist die Handlung geprägt von der Naziumgebung: Fahnen überall, Menschen, die von der nationalen Erneuerung reden und von Hitler schwärmen, die antisemitische Hetze wird schlimmer, es beginnen erste Ladenboykotte, der frühere Polizeivizepräsident Bernhard Weiß kann einer Horde SA-Leute gerade noch entkommen. In Köln wird Adenauer aus dem Amt geputscht. Am Ende dieses Bandes brennen Bücher.
In Band sechs, »Lunapark«, 1934, hat sich die Situation massiv verändert: Die SA terrorisiert die Menschen, jeden kann es treffen. Misstrauen herrscht, kaum jemand traut sich noch ein offenes Wort zu reden. Trotzdem ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung über diesen Zustand spürbar. Gereons früherer Kollege Gräf ist jetzt bei der Gestapo, die beiden müssen zusammenarbeiten, um Morde an SA-Mitgliedern aufzuklären. Charlotte und Gereon sind inzwischen verheiratet; zu ihrem Haushalt gehört ihr Ziehsohn Fritze, ein ehemaliger Straßenjunge der seinen ersten Auftritt im Band fünf hatte. Als er der HJ beitritt, zu Hause mit Hakenkreuzbinde herumläuft und beginnt, sich mit »Heil Hitler« zu verabschieden, beginnt auch Gereon – der bislang die Hitlerjugend als eine Art harmlosen Pfadfinderclub abgetan hat – zu ahnen, was auf sie zukommt. Eine bleierne Stimmung liegt über allem. Prägend für die Handlung wird der Röhm-Putsch sein, es fließt viel Blut.
Band sieben, »Marlow« ist dem titelgebenden Johann Marlow gewidmet, einem Gangster, der als dunkle Gestalt im Hintergrund fast der ganzen Reihe agiert. Er verkörpert das organisierte Verbrechen, das während der Weimarer Republik mehr oder weniger ungestört in Berlin agieren konnte. Jetzt trägt Marlow bei feierlichen Anlässen SS-Uniform und kooperiert mit Herrmann Göring. Gereons und Charlies Familienleben zerbröselt, Fritze wird zum jungen Nazi, Gereon erlebt beim Reichsparteitag 1935 in Nürnberg Hitlers berüchtigte Windhund-Rede live mit. Wie nebenbei erfahren wir im Verlauf der Handlung von der Wiederbewaffnung und der Aufstellung der Wehrmacht, von weiteren antisemitischen Gesetzen, erleben mit, wie das widerwärtige Hetzblatt »Der Stürmer« sein Gift versprüht. Die Stimmung im Land wird immer bedrohlicher für alle, die von den Nazis ausgegrenzt werden. Gereon lässt sich zum neugegründeten LKA versetzen und arbeitet nun für Arthur Nebe, einem überzeugten Nationalsozialisten. Schnell sitzt Rath zwischen allen Stühlen, gerät ins Visier der SS und eines alten Bekannten und kann nur durch einen tödlichen Trick sein Leben retten. Charlotte arbeitet inzwischen für Wilhelm Böhm, ihren früheren Chef und Förderer bei der Kripo, der inzwischen den Polizeidienst verlassen hat und als Privatdetektiv tätig ist.
1936 fanden in Berlin die Olympischen Spiele statt, daher heißt Band acht: »Olympia«. Die Stadt ist im Olympiade-Rausch, gibt sich gastfreundlich und weltoffen. Aber das ist nur eine brüchige Fassade: Während die Menschen den Sport feiern, wird nur wenige Kilometer außerhalb Berlins das KZ Sachsenhausen gebaut. Der Band fängt diese widersprüchliche Stimmung sehr gelungen ein. Dabei führt ein Mordfall Gereon Rath ins olympische Dorf – als er die Zusammenhänge mit anderen Todesfällen begreift, ist es fast zu spät für ihn. In diesem Band ist der Punkt erreicht, an dem es für Gereon keine Zukunft mehr in Deutschland gibt. Auch nicht für Charlotte, eigentlich.
In Band neun, »Transatlantik« sind wir im Jahr 1937 angekommen. Charlie wird darin zur Hauptperson, die sich mit aller Kraft dafür einsetzt, die Menschen, die ihr (und uns) im Laufe der letzten Bände ans Herz gewachsen sind, vor Schaden zu bewahren – in einem Staat, in dem Willkür herrscht und in dem es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt. Es wird ihr nicht gelingen, die Machtstrukturen, gegen die sie bestehen muss, sind undurchdringlich. Währenddessen muss auch Gereon sich wieder gegen einen Feind verteidigen, diesmal auf der anderen Seite des Atlantiks. Gegen Ende von »Transatlantik« beginnen die Fäden der immer komplexeren Handlung zusammenzulaufen und die Figuren werden in Position gebracht für ein düsteres Finale.
Bahn zehn trägt den schlichten Titel »Rath«, er schließt die Reihe ab. Volker Kutscher hatte lange überlegt, bis zu welchem Jahr er schreiben soll. Ursprünglich war einmal 1936 angedacht, als die gesamte deutsche Polizei SS-Chef Himmler unterstellt wurde – spätestens da hätte es Gereon Rath klar sein müssen, wohin die Reise geht. Doch es war auch das Jahr der Olympiade und diese zwei Wochen im Sommer – auch wenn nur Fassade – sind der letzte Hauch an Normalität gewesen, die im »Dritten Reich« zu spüren war. Daher entschied er sich, weiterzuschreiben, bis zum Jahr 1938. Bis zur Pogromnacht. Bis zum Zeitpunkt, an dem die letzte Grenze auf dem Weg in die Finsternis überschritten wurde. In diesem Abschlussband befindet sich das »Dritte Reich« auf dem Höhepunkt, es ist ein tödlicher Unrechtsstaat, für etliche der Protagonisten geht es ums Überleben. Während gleichzeitig die gesellschaftliche Umgebung immer gnadenloser wird: überzeugte Nazis, Mitläufer, Spitzel, Denunzianten und misstrauische Nachbarn lassen kaum noch Luft zum Atmen. Andere Meinungen sind lebensgefährlich, Widerstand hat tödliche Konsequenzen.
Die Ereignisse der Pogromnacht bilden einen dramatischen, einen entsetzlichen Höhepunkt. Es ist ein Moment, auf den die Handlung unaufhaltsam zusteuert – und auch wenn es lediglich einige Seiten sind, bleibt die barbarische Unmenschlichkeit der geschilderten Szenen im Gedächtnis haften. Gleichzeitig beginnt das große Wegschauen – und die Deutschen werden endgültig zum Tätervolk.
Und ohne zu viel zu verraten: Der Schluss von »Rath« ist so gelungen wie die gesamte Buchreihe. Ein dünner Rest Hoffnung bleibt, während Dunkelheit und Nebelschwaden alles verhüllen – wie ein prophetischer Blick auf das, was kommen wird. Und es gibt einen überraschenden Epilog, aus dem eine neue Reihe entstehen könnte.
Vielleicht.
Aber sie würde noch dunkler werden.
Eine Zeitreise in die Finsternis: Was macht die Rath-Reihe so besonders?
Volker Kutscher ist mit seiner Rath-Reihe ein literarisches Experiment geglückt. Mit den Mitteln des Kriminalromans schickt er uns auf eine Zeitreise in die Finsternis. Diesen Weg in die düsterste Epoche unserer Geschichte bringt er uns so nahe, wie das mit Worten nur möglich ist. Kein angelesenes Wissen wird präsentiert, sondern er folgt der ehernen Losung des Schreibens: Show, don’t tell. Und das gelingt Kutscher grandios: zeitgeschichtliche Details sind fließend in die Handlung eingebaut, historische Zusammenhänge werden nicht erklärt, sondern erlebt – von den Protagonisten und damit auch von uns, den Lesern. Dies verleiht den Büchern eine Authentizität, die ihresgleichen sucht. Dazu kommen die zahlreichen starken Figuren, die Volker Kutscher geschaffen hat, bis hinein in die kleinsten Nebenrollen. So entsteht ein Querschnitt der Gesellschaft, der von überzeugten Nationalsozialisten über Mitläufer, eingeschüchterten Wegsehern, Begeisterten und Zweiflern, stumpf gehorchenden Bürgern, Profiteuren der neuen Ordnung bis hin zu den Opfern des Nazi-Staats reicht. Und bis hin zu den wenigen Menschen, die ohnmächtig versuchen, Widerstand zu leisten oder sich zumindest nicht ganz verbiegen zu lassen. Dabei macht der Autor nicht den Fehler, die Welt in Gut und Böse einzuteilen – denn die Wahrheit liegt meistens dazwischen. Und Gereon Rath ist allzu oft auf genau diesem schmalen Grat unterwegs.
Wie eingangs bereits erwähnt: Das »Dritte Reich« ist kein Betriebsunfall der Geschichte gewesen. Es war eine langsame Entwicklung, eine erst schleichende, dann immer schnellere Radikalisierung der Gesellschaft. Vor einigen Jahren durfte ich Volker Kutscher interviewen. Und mit einem Zitat aus diesem Gespräch möchte ich diesen Text beenden:
»Die Lehren, die man aus der Geschichte ziehen kann, sind eigentlich ganz einfach. Unser freiheitliches Leben kann schnell zerstört werden. Und Demokratie ist das, was wir daraus machen. Deshalb gilt es, unsere Lebensweise zu verteidigen, egal ob gegen neue Nazis, Salafisten oder globale Konzerne. Unsere Augen müssen in alle Richtungen geöffnet bleiben, um zu erkennen, woher die Gefahr kommt. Und unsere Demokratie muss die Fäuste oben halten.«
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Buchinformation
Volker Kutscher, Rath
Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07410-0
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