Über das Vergehen der Jahre

Elke Heidenreich: Altern

Manchmal kommt alles ganz anders, als man es sich vorstellen kann. Diese Erkenntnis ist sicherlich nicht neu, aber immer wieder wahr. Als bei mir 1989 das Ende der Schulzeit und damit der Zivildienst nahte, wollte ich auf keinen Fall meine kleine Stadt am Bodensee verlassen. Und noch weniger wollte ich eine Stelle im Pflegebereich antreten müssen. Da ich es aber nicht schaffte, etwas Passendes zu finden, wurde ich eingeteilt, zog 200 Kilometer weiter und begann am 1. August 1989 auf der Pflegestation eines Altenheims zu arbeiten. In Freiburg, am Rand des Schwarzwalds. Und beides, die Stadt und die Zivi-Stelle, haben mein weiteres Leben geprägt. Freiburg wurde für fast ein Jahrzehnt zu einem Zuhause und die Arbeit mit alten Menschen lag mir gut. So gut, dass ich mir nach dem Ende des Zivildienstes einen Job als Altenpflegehelfer suchte und weiter in der Pflege arbeitete. Bevor mich der Weg in die Buchbranche führte, aber das ist eine andere Geschichte.

Über vier Jahre hatte ich mit alten Menschen zu tun, manche noch rüstig, viele gebrechlich, einige kaum ansprechbar und alle in der Endphase ihres Lebens. Mehr als einmal saß ich neben einem Bett und hörte den letzten Atemzug – das sind Momente gewesen, die man nicht mehr vergisst. Ebenso wenig vergisst man, wie sehr die Arbeit im Pflegebereich ein Knochenjob ist, mit schlecht bezahltem Schichtdienst und großer Verantwortung. Und so manches Mal kam man physisch wie mental an seine Grenzen. Doch immer wieder gab es wunderbare Momente: Wenn sich ab und zu ein paar Minuten Zeit für ein Gespräch mit einem der alten Menschen ergaben – und das war oft so, als würde man durch ein Fenster in die Geschichte zurückblicken. Und manchmal bekam man als junger Mann mit Anfang zwanzig ein vages Gefühl davon, wie es sein würde, einmal selbst alt zu sein. Eines dieser Gespräche ist mir bis heute im Kopf geblieben. Ich unterhielt mich mit einer der Bewohnerinnen, einer alten Dame mit feinen Gesichtszügen, die ich sehr gerne mochte. An diesem einen Tag sagte sie zu mir: »Wissen sie, ich konnte mir nie vorstellen, alt zu sein. Und plötzlich bin ich es und das ging so schnell. Wo sind die ganzen Jahre nur hin?«

Damals verursachte der Satz ein wohliges Schauern, zu weit weg war das Thema für einen selbst. Und nun sind über dreißig Jahre vergangen und das ging wirklich verdammt schnell. Heute, mit Mitte fünfzig, beschäftigt man sich ganz anders mit dem Älterwerden. Eltern sterben oder sind zu Pflegefällen geworden, die eigene körperliche Fitness hat schon längst die ersten, manchmal sehr tiefen Schrammen abbekommen. Und angesichts von Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, die es nicht geschafft haben, die Fünfzig zu erreichen, weiß man, das Älterwerden nicht selbstverständlich ist. Ganz und gar nicht. Hier im Blog taucht das Thema an vielen Stellen auf. Denn hat es mich schon seit meiner Zeit in der Altenpflege beschäftigt, so kommt nun das Vergehen der eigenen Jahre hinzu. Daher ist es kaum verwunderlich, dass ich das Buch »Altern« von Elke Heidenreich mit großem Interesse gelesen habe. Und mit großer Begeisterung. 

Elke Heidenreich ist für mich eine der besten Fürsprecherinnen der Literatur. Ich mag ihre Buchempfehlungen sehr, sie sind immer auf den Punkt und jedes Mal macht sie mich neugierig. Und so schreibt die mittlerweile über Achtzigjährige in ihrem eigenen Buch nicht nur über das eigene Leben, das eigene Älterwerden, sondern verknüpft dies mit einer Reise quer durch die Literaturgeschichte. Der Text ist gespickt voll mit Zitaten, Textstellen und Gedichten – von bekannten wie weniger bekannten Autoren oder Autorinnen gleichermaßen. Diese Zitate untermalen nicht nur den Text auf eine wunderbare Weise, sondern regen an, sich selbst mit den genannten Autoren zu beschäftigen. An einer Stelle, die mich besonders beeindruckt hat, erzählt sie von Jane Campbell (die 2022 im Alter von 75 Jahren ihren ersten Kurzgeschichtenband veröffentlicht hat): »Und auch ich wehre mich gegen das, was Campbell ›Enteignung‹ nennt: ›Das Altern wird oft als eine Phase der Kumulation dargestellt, der Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen.‹ Wir dürfen nicht zulassen, dass es uns genommen wird.«

Und dann kommt die Stelle, die am liebsten drei Mal in Rot unterstrichen hätte: »Wir dürfen uns nicht enteignen lassen, aber dazu gehört auch, in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit zu leben. Es stimmt, dass diese Vergangenheiten uns im Alter einholen, aber wir neigen auch dazu, sie zu beschönigen und zu verklären. Die Gegenwart wird nicht erträglicher durch rückblickende Vergleiche. Sie wird erträglich und sinnvoll durch waches an ihr Teilnehmen.«

Dieses kämpferische, trotzige Statement bringt perfekt auf den Punkt, wie ein erfülltes Leben gelingen kann: Sei im Hier und Jetzt. Immer! Sammle Erinnerungen, aber lebe nicht in diesen Erinnerungen! Bleibe neugierig! Wissbegierig! Stehe nicht still, niemals. Denn Stillstand bedeutet das Ende. Diese Botschaft zieht sich durch das ganze Buch, das gleichzeitig geprägt ist von einer durch und durch positiven Haltung. Elke Heidenreich blickt zurück auf ein ausgefülltes Leben mit Höhen und Tiefen; selbstkritische Passagen finden in ihrem Text genauso einen Platz wie der ein oder andere Seitenhieb auf aktuelle Entwicklungen im Kulturbetrieb. 

Und ein Rückblick bedeutet für sie noch längst nicht, ab jetzt die Hände in den Schoß zu legen: »Man definiert sich durch das, was man ist, und das heißt auch: was man tut. Nur herumsitzen und auf den Tod warten und in der Zwischenzeit über alles jammern, was zwickt und allen anderen die Schuld an der Misere geben, das kann’s nicht sein. So, wie wir uns als junge Menschen die Zukunft erträumten, so erinnern wir uns vielleicht im Alter die Vergangenheit zurecht und lackieren sie um, dann war auf einmal ›früher alles besser‹. War es nicht, böse Falle! Die Zukunft ist ja nicht irgendetwas Irreales, sie wohnt in uns, schon immer.«

Daher: Weitermachen, so lange es geht. Dabei ist ihr stets ihre privilegierte Situation vor Augen, materiell abgesichert, nicht von Krankheiten gezeichnet. Denn dieses »Weitermachen« sagt sich leicht, doch wenn man sein Leben lang körperlich hart gearbeitet hat, wenn man mit seiner Mini-Rente nicht über die Runden kommt, wenn man von einem Schlaganfall niedergestreckt wird, Demenz die eigene Identität auslöscht oder eine Krankheit den Köper zerfrisst – dann sieht das alles ganz anders aus. Elke Heidenreich weiß darum und kommt immer wieder darauf zurück, dass auch viel Glück dazu gehört, ein hohes Alter zu erreichen und dabei nicht irgendwann stehenzubleiben und in der Passivität zu verharren. Glück und ein Wille, auch im Alter an die kommenden Jahre zu denken und sie aktiv zu gestalten. Oder, wie sie es ausdrückt: »In einer aus den Fugen geratenen Welt meine eigene wenigstens zu strukturieren.«

Glück ist kein Zustand

Es macht großen Spaß, Elke Heidenreichs Gedanken zu folgen und mit ihr durch ihr Leben zu flanieren. Sie nimmt uns mit auf eine gleichermaßen persönliche wie literarische Reise – und, zumindest mir ging es so, man meint ihre Stimme zu hören, wenn man ihr Buch liest. Ich weiß nicht, ob und wie es mir vor dreißig Jahren gefallen hätte, als das Thema noch weit entfernt schien, aber nun kommt es genau zum richtigen Zeitpunkt. Denn das Älterwerden macht mir keine Angst, das Alt sein mit seinen Verfallserscheinungen aber durchaus schon. Doch das eine ist eben nicht ohne das andere zu haben und wenn mir eines klar geworden ist in den letzten Jahrzehnten: Älterwerden ist ein Privileg, denn wir haben nur dieses eine Leben. Mein Vater ist schon vor langer Zeit mit vierundfünfzig gestorben, und am 30. Januar 2023 war der Tag, an dem ich älter geworden bin als er es war. Das hat sich sehr seltsam angefühlt, aber auch daran musste ich beim Lesen von Elke Heidenreichs Buch denken. Es sind nur wenig mehr als hundert Seiten, doch ich habe sehr viele Textstellen darin markiert. Und nehme etliche Gedanken mit auf meinen Weg. Etwa die drei Sätze zum Glück: »Heute weiß ich, dass das Glück kein Zustand ist, nach dem man verzweifelt suchen muss. Es ist immer nur ein Augenblick, und ich habe gelernt, ihn zu erkennen und zu genießen. Aus der Summe glücklicher Augenblicke setzt sich das Glück des Lebens zusammen.«

Es tut gut, das so klar formuliert zu lesen, denn genau so ist es. Egal, wie alt wir sind. 

Buchinformation
Elke Heidenreich, Altern
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-27964-3

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Im Gefängnis der Geschichte

Matteo Melchiorre: Der letzte Cimamonte

Es war ein Zufallsfund, wie so oft. Beim Besuch einer Buchhandlung stand der Roman frontal präsentiert im Regal – ich sah das Titelbild und musste ihn haben. Der Klappentext, den ich nur kurz überflog, bestärkte mich in dieser Entscheidung. Und jetzt liegt das Buch »Der letzte Cimamonte« von Matteo Melchiorre gelesen neben mir und ich weiß, dass ich die Geschichte, die Stimmung und die Sprache noch sehr lange im Kopf behalten werde; es war ein großartiges Leseerlebnis. 

Im Zentrum der Handlung steht das Dorf Vallorgàna, hoch oben in den Ausläufern der Alpen. Und noch etwas weiter steht die alte Villa, der Adelssitz der Familie Cimamonte, der jahrhundertelang das Dorf und alles darum herum gehörte, Wiesen, Wälder und Berge. Doch diese Zeiten sind vorbei, Vallorgàna ist ein sterbender Ort, die Jungen sind gegangen, nicht wenige Häuser stehen leer. Aber noch ist Leben in den Höfen, die das Dorf prägen. Es gibt Tiere auf den Weiden, die Wiesen werden im Rhythmus der Jahreszeiten gemäht, ein Pfarrer hält die Messen und die Bar in der Ortsmitte ist nach wie vor das abendliche Wohnzimmer der alten Bauern. Während der alles umgebende Wald aufgegebene Wiesen wieder in Besitz nimmt, die Wölfe näher kommen und die Krähen wie Unglücksvögel über Vallorgàna kreisen, den Luftraum im Tal beherrschend. 

»Wir gehen. Die Krähen kommen. So sieht es aus.«  „Im Gefängnis der Geschichte“ weiterlesen

Ein Buch für Herrn Merz. Mit einem Brief

Jens Bisky, »Die Entscheidung«: Ein Buch für Herrn Merz

Im letzten Blogbeitrag ging es um das Buch »Die Entscheidung« von Jens Bisky. Es ist ein großartiges Werk, in dem das Scheitern und das blutige Ende der Weimarer Republik geschildert werden. Unzählige darin aufbereitete historische Details ergeben ein lebendiges Bild dieser Jahre, die unsere Welt geprägt haben, bis heute. Und es wird dabei klar, dass die faschistische Terrorherrschaft des »Dritten Reichs« kein Betriebsunfall der Geschichte war, sondern bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hätte verhindert werden können. Angesichts der Zunahme dumpfen rechtsradikalen Denkens und angesichts eines weltweit zu beobachtenden politischen Rechtsrucks hat das Buch einen aktuellen Bezug, der erschreckend ist. Besonders vor dem Hintergrund der Geschichtsvergessenheit des momentanen CDU-Kanzlerkandidaten, der aus wahlkampftaktischen Gründen den Schulterschluss mit Rechtsextremen sucht. Wie naiv kann man sein? Und wie wenig kann man aus der Geschichte gelernt haben? 

Beendet hatte ich die Buchvorstellung mit den Worten: »Vielleicht sollte ich Herrn Merz dieses Buch schicken. Und am besten beginnt er die Lektüre mit dem letzten Satz: ›Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.‹«

Und genau das habe ich nun gemacht: Herrn Merz dieses Buch geschickt. Der Rowohlt Verlag hat mir freundlicherweise ein Exemplar dafür zur Verfügung gestellt, das ich nun per Post auf den Weg nach Berlin gebracht habe. Zusammen mit einem Brief, den ich hier wiedergebe. „Ein Buch für Herrn Merz. Mit einem Brief“ weiterlesen

Das Buch der Stunde

Jens Bisky: Die Entscheidung

Über den Untergang der Weimarer Republik ist viel diskutiert, geforscht und geschrieben worden. Und doch kann man sich nicht oft genug damit befassen, denn auch wenn immer wieder beteuert wird, dass man Weimars Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, stimmt das lediglich bedingt. Denn nur wenn wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen, nur, wenn wir uns immer wieder vor Auge führen, welche verhängnisvollen Entscheidungen den Weg in die Barbarei des »Dritten Reiches« ebneten – nur dann sind wir gefeit davor, diese Fehler erneut zu begehen. Und in einem Moment, in dem konservative Politiker eine Geschichtsvergessenheit an den Tag legen, die erschreckend ist, kommt dieses Buch genau richtig: »Die Entscheidung« von Jens Bisky. „Das Buch der Stunde“ weiterlesen

God Bless America

Jussi Adler-Olsen: Das Washington-Dekret

Ich liebe überquellende Bücherregale und die Stapel davor. Sehr sogar. Trotzdem ist irgendwann eine Kapazitätsgrenze erreicht. Daher habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, ein gelesenes Buch nur dann zu behalten, wenn ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen. Irgendwann. Ansonsten verschenke ich es oder stelle es in einen öffentlichen Bücherschrank. Daher war ich etwas überrascht, als ich kürzlich ganz unten in einem Stapel den Thriller »Das Washington Dekret« von Jussi Adler-Olsen entdeckt habe. Es ist ein Buch, das ich vor etwa zehn Jahren gelesen habe, als mir wieder einmal der Sinn nach Spannungsliteratur stand. Sprachlich ohne jegliche Finesse mit ein paar überraschenden Wendungen, aber nicht wenigen Logiklücken hätte es nach meiner Aussortier-Gewohnheit gar nicht mehr da sein sollen. Eigentlich. 

Ich weiß noch, dass mich die Grundidee des Romans damals fasziniert hat. Ein neuer US-Präsident, Bruce Jansen, übernimmt nach einem überragenden Gewinn der Wahl die Regierung der Vereinigten Staaten. Durch Gewalterfahrungen und Schicksalsschläge hoch traumatisiert möchte er das Land sicherer machen. Und beginnt einen Law-and-Order-Feldzug, der die USA in einen autoritären Unrechtsstaat verwandeln und sie an den Rand eines Bürgerkriegs bringen wird. Seine Ziele klingen dabei auf den ersten Blick nachvollziehbar: Abschaffung der Arbeitslosigkeit, rücksichtslose Bekämpfung der Drogenkriminalität, entschlossenes Vorgehen gegen Korruption und Schwarzarbeit, hundertprozentige Kontrolle der Einwanderung, Entwaffnung der Zivilbevölkerung. „God Bless America“ weiterlesen

Mein Lesejahr 2024: Die besten Bücher

Die besten Buecher 2024 | Kaffeehaussitzer

Von meinem Naturell her bin ich unverbesserlicher Optimist und glaube fest daran, dass sich Dinge zum Guten wenden. Irgendwie. Und auch wenn das vergangene Jahr mit seinen Kriegen, politischen Entwicklungen und Dauerkrisen diese Einstellung an ihre Grenzen gebracht haben mag, würde ich niemals aufhören zu hoffen. Das Lesen ist dabei für mich ein wichtiger, nein, der wichtigste Anker in trüben Zeiten, denn Bücher »lassen mich andere Lebensentwürfe kennenlernen, mich teilhaben an fremden Schicksalen; sie erschließen mir neue Horizonte in der Gegenwart und in der Vergangenheit, verflechten sie miteinander, um die Zukunft zu verstehen. Bücher lassen mich meinen Platz in der Welt finden. Immer wieder aufs Neue. In immer wieder neuen Welten.« Das schrieb ich vor einiger Zeit im Text »Warum ich lese«. Und darum könnte ich mir ein Leben ohne Literatur und Bücher nicht vorstellen. 

Wie immer zu Beginn des Jahres stelle ich die fünfzehn Bücher vor, die mich in den vergangenen zwölf Monaten besonders begeistert haben. Und wie immer ist es eine Mischung aus Werken, die in diesem Zeitraum erschienen sind, und solchen, die schon einige Jahre im Regal auf den passenden Lesemoment gewartet haben. Hier sind sie, die besten Bücher meines Lesejahres 2024. „Mein Lesejahr 2024: Die besten Bücher“ weiterlesen

Durch ein Blog-Jahrzehnt flanieren

Durch ein Blog-Jahrzehnt flanieren

Seit mehr als elfeinhalb Jahren schreibe ich hier im Blog Kaffeehaussitzer über Bücher, Literatur und Leseerlebnisse. In dieser Zeit ist der Blog zu einem festen Teil meines Lebens und zu einem virtuellen Zuhause geworden. Wobei die virtuelle und die »reale« Welt sich durch das Bloggen so eng miteinander verzahnt haben, dass diese Unterscheidung nicht mehr notwendig ist. Ein Zuhause also. Eines, das stets für Besucher offen steht. Und in diesem Zuhause sind einige hundert Texte zusammengekommen. Ein paar davon habe ich hier zusammengestellt – als Einladung, um durch die vergangenen Jahre zu stromern und sich auf eine kleine Zeitreise zu begeben. Wer also mag: Viel Spaß beim Flanieren durch eine Blog-Dekade. „Durch ein Blog-Jahrzehnt flanieren“ weiterlesen

Schemenhafte Gestalten, unnahbar

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Lange Zeit stand der Roman »Die Unschärfe der Welt« von Iris Wolff in meinem Bücherregal und wartete darauf, gelesen zu werden. Und ich war mir sicher, dass er mir gefallen würde. Die ersten paar Seiten kannte ich bereits und deren poetische Sprache hatte für eine jahrelange Vorfreude gesorgt – allein der richtige Zeitpunkt, um dieses Buch zu lesen, wollte sich nie einstellen. Doch als er kürzlich gekommen schien, war alles ganz anders als gedacht: Das Buch liegt nun gelesen neben mir und die Erinnerung an die Handlung beginnt bereits zu verblassen. Ich merke, dass es keinen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, ja, dass ich ein wenig enttäuscht bin – und warum das so ist, versuche ich nun herauszufinden. „Schemenhafte Gestalten, unnahbar“ weiterlesen

Der Weg in die Finsternis

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. 

Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt. „Der Weg in die Finsternis“ weiterlesen

Ein Sohn seiner Zeit

Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt

Auch über ein Jahrhundert später umgibt die Texte von Franz Kafka eine Aura von geheimnisvoller Eleganz. Sie stammen aus der Feder eines Menschen, für den das Schreiben alles bedeutete, der sich über die Literatur definierte und allen Widrigkeiten zum Trotz jene Texte schuf, die uns heute noch faszinieren. Dabei war er kein einzelgängerischer Außenseiter. Denn auch wenn er zu seiner Familie ein gespaltenes, zu seinem Vater ein zerrüttetes Verhältnis hatte und es ihm schwerfiel, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen oder Beziehungen einzugehen, so war er gleichzeitig fest eingebunden im intellektuellen Leben Prags, hatte Freunde und Bekannte, verbrachte gerne Zeit in Kaffeehäusern und Buchhandlungen, diskutierte leidenschaftlich über Literatur und die Themen der Zeit. Wie haben all diese äußeren Einflüsse sein Schaffen geprägt? Und ist es möglich, Spuren davon in seinen Texten zu finden? Diesen Fragen geht der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher in seinem Buch »Kafkas Werkstatt« nach und nimmt uns mit auf eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche und neuer Gedanken. „Ein Sohn seiner Zeit“ weiterlesen

Happy Birthday! Herr Lehmann wird 65

Sven Regener: Herr Lehmann

Kürzlich bin ich über ein Zitat der Autorin Marie von Ebner-Eschenbach gestolpert. Es stammt aus der 1880 veröffentlichten Novelle »Lotti, die Uhrmacherin« (die laut Wikipedia die erste deutschsprachige Erzählung über eine Handwerkerin ist) und darin lässt sie die Protagonistin sagen: »Ein schönes Buch nicht wiederlesen, weil man es schon gelesen hat, das ist, als ob man einen teuren Freund nicht wieder besuchen würde, weil man ihn schon kennt.« Wunderbar auf den Punkt gebracht, finde ich, denn es gibt so einige Bücher, die ich immer wieder lese und jedes Mal stellt sich dabei eine wunderbare Vertrautheit ein, man beginnt sich auf bestimmte Szenen oder Dialoge zu freuen, entdeckt neue Details und genießt die Sprache. Und manchmal verändert sich auch die eigene Rezeption im Laufe der Jahre – das ist spannend zu beobachten

Ein Buch erneut zu lesen, ist wie einen Freund zu besuchen: Vermutlich trifft das bei mir auf keinen Roman so sehr zu wie auf »Herr Lehmann« von Sven Regener. Ich habe hier im Blog schon an verschiedenen Stellen über dieses Buch geschrieben und wer hier schon etwas länger mitliest, der weiß, wie wichtig es mir ist. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Werk, in dem ich so viel von mir selbst, so viel eigenes Lebensgefühl der Dekade zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Geburtstag wiederfinde. In die Hände bekommen habe ich das Buch im Jahr 2001 und es hat mich beim ersten Mal – kurz vor Abschluss der Diplomarbeit, als ich eigentlich gar keine Zeit dafür hätte haben sollen – so begeistert, dass ich es gleich noch einmal gelesen habe, direkt am nächsten Tag. Und nicht lange danach ein weiteres Mal. Seitdem besuche ich Herrn Lehmann und seine liebenswert chaotischen Freunde im Kreuzberg des Jahres 1989 Jahr für Jahr erneut. Und seitdem freue ich mich bei jeder Lektüre auf die letzten beiden Sätze, die für mich die vollkommen perfekte Lebensphilosophie darstellen: »Ich gehe erst einmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.«  „Happy Birthday! Herr Lehmann wird 65“ weiterlesen

Samsa. Gregor Samsa.

Franz Kafka: Die Verwandlung

»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Diese Worte sind einer der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte. Sie haben sich schon längst verselbständigt und ähnlich wie »Call me Ishmael« oder »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen« muss man nichts weiter dazu sagen; jeder weiß, welcher Text auf diese Weise beginnt. Und das ist nicht weiter verwunderlich, denn dieser eine Satz, mit dem uns Gregor Samsa vorgestellt wird, ist perfekt. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich ihn vor etlichen Jahren das erste Mal gelesen habe: Ich war irritiert, fasziniert und wurde voller Neugier sofort in diesen ungewöhnlichen Text hineingezogen. Und habe ihn – wie so viele andere Leser – nie wieder vergessen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogbeitrag mit drei unterschiedlichen Ausgaben der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka beschäftigen. Mit drei ganz besonderen Ausgaben. „Samsa. Gregor Samsa.“ weiterlesen

Das geht doch schnell vorbei

Simone de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich

Es gibt sie, diese besonderen Bücher, die einen das Leben lang begleiten. Die fester Bestandteil der eigenen Biographie und mit wertvollen Erinnerungen verbunden sind. Die man unzählige Male gelesen hat. Die vergilbt, zerfleddert und mit losen Seiten im Regal stehen – und von denen man sich nie, niemals und unter keinen Umständen trennen würde. Jahre- und jahrzehntelang erinnern sie einen an längst vergangene, prägende Zeiten – und wenn man sie eines Tages wieder einmal in die Hand nimmt, sie nach einer langen Pause erneut liest, dann ist das wie eine Zeitschleuse zurück in die eigene Vergangenheit. Und es kann geschehen, dass eine Textstelle, die man damals zwar schon angestrichen hat, beim Wiederlesen vollkommen anders wirkt. Intensiver. Wuchtiger. Einen frösteln lässt. Und man sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt. So geschehen bei dem Roman »Alle Menschen sind sterblich« von Simone de Beauvoir. Und das schreibe ich jetzt auf. „Das geht doch schnell vorbei“ weiterlesen

Herbstliche Melancholie

Rainer Maria Rilke: Herbsttag

Wahrscheinlich kennt jeder dieses Gedicht, es gehört zu den meistzitiertesten. Und für mich zu den schönsten. Vor über einem Jahrhundert verfasst, hat es nichts von seiner nachdenklichen Eleganz verloren, in der die Schönheit der Natur im Jahreslauf mit der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins verknüpt wird. Ich liebe die Melancholie, die aus den Versen spricht und die mich jedes Mal aufs neue berührt – und daher möchte ich diesem zeitlosen Werk deutschsprachiger Poesie auch hier im Blog einen Platz geben. „Herbstliche Melancholie“ weiterlesen

»Ich las oft im Gehen«

Anna Burns: Milchmann

Belfast. Ich muss nur dieses Wort, diesen Städtenamen schreiben – schon sind Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf. Bilder einer regennassen Straße, über die ein Panzerwagen fährt. Eines belebten Platzes in der Innenstadt, der von einer schwerbewaffneten Einheit britischer Soldaten schnell durchquert wird. Eines hohen Zaunes, dem Peacewall, und zweier Uniformierter, die an einem Tor stehen und angespannt schauen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Bilder von Mauern, übersät mit martialischen Graffiti, von trostlosen, grauen Straßen, von ausgebrannten Ruinen inmitten der Häuserzeilen, fehlenden Zähnen gleich. Und über allem das unterschwellige Gefühl von Gewalt, die jederzeit ausbrechen kann. Ich war im März 1993 nur drei Tage in Belfast, aber ich werde diesen kurzen Besuch nie vergessen. Die Schwarzweißbilder in diesem Beitrag sind während dieses Aufenthalts entstanden. Sie sind etwas körnig, da ich keine Negative dazu habe und sie abphotographieren musste.

Dabei waren zu Beginn der Neunziger die allerschlimmsten Jahre schon vorbei; in den Siebzigern oder Achtzigern herrschte Bürgerkrieg in Belfast und in Nordirland – Katholiken gegen Protestanten, die IRA gegen die britische Armee und die Milizen des Oranierordens. Dabei ging es schon längst nicht mehr um Freiheit oder Unabhängigkeit; die IRA war zu einer Organisation mit mafiaartigen Strukturen mutiert, die von Schutzgeldern und Erpressungen lebte und die Briten vergalten Terror mit Gegenterror, mit Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und flächendeckender Überwachung. Und zwischen den Fronten saßen die Menschen fest, die in einem permanenten Ausnahmezustand lebten und deren Alltag bestimmt war von totalitären Strukturen und strengkonservativen gesellschaftlichen Zwängen. Mitten hinein in diese Zeit, mitten hinein in das Belfast der Siebzigerjahre führt uns der Roman »Milchmann« von Anna Burns. Ohne Belfast, Nordirland oder Großbritannien auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen. „»Ich las oft im Gehen«“ weiterlesen