Der Weg in die Finsternis

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. 

Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt.

Bevor »Rath« als furioses Ende der Serie erschien, habe ich alle neun vorherigen Bände aus dem Regal geholt und sie einen nach dem anderen gelesen, am Stück, ohne andere Bücher dazwischen – um dann direkt mit dem zehnten abzuschließen. Es war wie ein Leserausch, knapp vier Wochen habe ich benötigt und war in jeder Minute, die ich erübrigen konnte, abgetaucht in der Vergangenheit, in einer Epoche, die prägend war für unsere Gegenwart. Seite für Seite verdichten sich die dunklen Vorzeichen bis das Licht ganz verschwunden ist, aus den ersten Hinweisen auf Kommendes werden ganze Handlungsstränge – liest man alle Bände am Stück ist das ein atemberaubendes Leseerlebnis. Und am Ende dieser literarischen Reise, 1938, weiß man, dass allen bisherigen Schrecken zum Trotz in der historischen Realität das Schlimmste erst noch bevorsteht. 

In »Der nasse Fisch«, dem ersten Band, in dem Gereon Rath 1929 gerade neu nach Berlin gekommen ist, spielt Politik nur am Rand eine Rolle. In einer Szene hängt an der Garderobe eines Hausmeisters eine SA-Uniform und in der Handlung geht es – unter anderem – um illegale Waffenverkäufe, die auch der SA zugutekommen.

In »Der stumme Tod«, dem zweiten Band, steht der Niedergang des Stummfilms im Mittelpunkt der Handlung. Aber nebenbei erfahren wir, dass die Beerdigung von Horst Wessel in Berlin für Tumulte sorgt und im Polizeipräsidium fällt die ein oder andere Bemerkung, dass die Nazis ja keinesfalls so schlimm seien wie die Kommunisten. Vereinzelt tauchen antisemitische Äußerungen in den Dialogen auf. Es ist das Jahr 1930.

Der dritte Band, »Goldstein«, führt ins Jahr 1931. Die Präsenz der Nazis in der Handlung nimmt deutlich zu: SA-Männer, die einen Juden attackieren, rechtsradikale Äußerungen von Kollegen, die beiläufig, aber immer auffälliger in die Handlung eingebaut sind, gegen Ende des Buches wird Gereon Rath Augenzeuge von organisierten SA-Krawallen auf dem Kurfürstendamm. Am Rande, wie zufällig eingestreut, erfahren wir von der deutschen Bankenkrise – die dramatische gesellschaftliche Folgen haben wird. Bei manchen von Raths Kollegen zeichnet sich – ohne dass wir es zu diesem Zeitpunkt ahnen – eine spätere Karriere in Gestapo und SS ab – im Nachhinein wirkt das alles ganz logisch, so geschickt bringt Volker Kutscher die Personen seiner Romane in Stellung. Und spätestens ab diesem dritten Band ist Charlotte Ritter, später Charlotte Rath, die andere Hauptfigur der Reihe. Außerdem schafft sich Gereon Rath einen Todfeind, aber das weiß er noch nicht. 

Bei Band vier, »Vaterland«, sind wir im Jahr 1932 angekommen. Das im April in Kraft getretene Verbot von SA und SS wurde im gleichen Jahr wieder aufgehoben, mit der Folge, dass sich gewalttätige Zwischenfälle bis hin zu Straßenschlachten mit Toten mehren. Das politische Hintergrundrauschen in der Handlung wird spürbar lauter, immer mehr von Raths Kollegen machen keinen Hehl mehr aus ihrer Sympathie für die Nationalsozialisten. Eine Mordserie führt Gereon Rath zu Ermittlungen in die ostpreußische Provinz – hier wird er vom »Preußenschlag« überrascht, mit dem die Reichsregierung die SPD-geführte preußische Landesregierung entmachtete – es war das letzte größere Bollwerk der Demokratie im Deutschen Reich. Zum ersten Mal grätscht die Politik massiv in Raths Ermittlungen hinein. 

Band fünf. »Märzgefallene«. 1933. Zu Beginn des Romans ist Rosenmontag, den Gereon Rath in seiner Heimatstadt Köln etwas zu exzessiv feiert. In der gleichen Nacht brennt in Berlin der Reichstag. Die Handlung beschreibt Deutschland an einem Wendepunkt, Hitler ist Reichskanzler, schon die ersten Wochen nach seinem Amtsantritt haben genügt, um eine Diktatur zu etablieren – der Reichstagsbrand mit seinen Folgen ist der letzte Nagel im Sarg der Demokratie. Die Polizei wird mehr und mehr für politische Aufgaben eingesetzt, so unterstützt sie etwa die SA auf der Jagd nach Kommunisten oder anderen Menschen, die der neue Staat als Feinde betrachtet. Die Stimmung im Präsidium kippt immer weiter und immer schneller nach rechts; Gereon Rath will es lange nicht wahrhaben, ihm ist es egal, ob jemand Nazi ist oder nicht. Für ihn ist Polizeiarbeit unpolitisch und in dieser Lebenslüge richtet er sich ein, während Charlotte »Charlie« viel hellsichtiger ist, ihr ist es klar, was dem Land bevorsteht und sie verzweifelt Monat für Monat mehr. Inzwischen ist die Handlung geprägt von der Naziumgebung: Fahnen überall, Menschen, die von der nationalen Erneuerung reden und von Hitler schwärmen, die antisemitische Hetze wird schlimmer, es beginnen erste Ladenboykotte, der frühere Polizeivizepräsident Bernhard Weiß kann einer Horde SA-Leute gerade noch entkommen. In Köln wird Adenauer aus dem Amt geputscht. Am Ende dieses Bandes brennen Bücher

In Band sechs, »Lunapark«, 1934, hat sich die Situation massiv verändert: Die SA terrorisiert die Menschen, jeden kann es treffen. Misstrauen herrscht, kaum jemand traut sich noch ein offenes Wort zu reden. Trotzdem ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung über diesen Zustand spürbar. Gereons früherer Kollege Gräf ist jetzt bei der Gestapo, die beiden müssen zusammenarbeiten, um Morde an SA-Mitgliedern aufzuklären. Charlotte und Gereon sind inzwischen verheiratet; zu ihrem Haushalt gehört ihr Ziehsohn Fritze, ein ehemaliger Straßenjunge der seinen ersten Auftritt im Band fünf hatte. Als er der HJ beitritt, zu Hause mit Hakenkreuzbinde herumläuft und beginnt, sich mit »Heil Hitler« zu verabschieden, beginnt auch Gereon – der bislang die Hitlerjugend als eine Art harmlosen Pfadfinderclub abgetan hat – zu ahnen, was auf sie zukommt. Eine bleierne Stimmung liegt über allem. Prägend für die Handlung wird der Röhm-Putsch sein, es fließt viel Blut. 

Band sieben, »Marlow« ist dem titelgebenden Johann Marlow gewidmet, einem Gangster, der als dunkle Gestalt im Hintergrund fast der ganzen Reihe agiert. Er verkörpert das organisierte Verbrechen, das während der Weimarer Republik mehr oder weniger ungestört in Berlin agieren konnte. Jetzt trägt Marlow bei feierlichen Anlässen SS-Uniform und kooperiert mit Herrmann Göring. Gereons und Charlies Familienleben zerbröselt, Fritze wird zum jungen Nazi, Gereon erlebt beim Reichsparteitag 1935 in Nürnberg Hitlers berüchtigte Windhund-Rede live mit. Wie nebenbei erfahren wir im Verlauf der Handlung von der Wiederbewaffnung und der Aufstellung der Wehrmacht, von weiteren antisemitischen Gesetzen, erleben mit, wie das widerwärtige Hetzblatt »Der Stürmer« sein Gift versprüht. Die Stimmung im Land wird immer bedrohlicher für alle, die von den Nazis ausgegrenzt werden. Gereon lässt sich zum neugegründeten LKA versetzen und arbeitet nun für Arthur Nebe, einem überzeugten Nationalsozialisten. Schnell sitzt Rath zwischen allen Stühlen, gerät ins Visier der SS und eines alten Bekannten und kann nur durch einen tödlichen Trick sein Leben retten. Charlotte arbeitet inzwischen für Wilhelm Böhm, ihren früheren Chef und Förderer bei der Kripo, der inzwischen den Polizeidienst verlassen hat und als Privatdetektiv tätig ist.  

1936 fanden in Berlin die Olympischen Spiele statt, daher heißt Band acht: »Olympia«. Die Stadt ist im Olympiade-Rausch, gibt sich gastfreundlich und weltoffen. Aber das ist nur eine brüchige Fassade: Während die Menschen den Sport feiern, wird nur wenige Kilometer außerhalb Berlins das KZ Sachsenhausen gebaut. Der Band fängt diese widersprüchliche Stimmung sehr gelungen ein. Dabei führt ein Mordfall Gereon Rath ins olympische Dorf – als er die Zusammenhänge mit anderen Todesfällen begreift, ist es fast zu spät für ihn. In diesem Band ist der Punkt erreicht, an dem es für Gereon keine Zukunft mehr in Deutschland gibt. Auch nicht für Charlotte, eigentlich. 

In Band neun, »Transatlantik« sind wir im Jahr 1937 angekommen. Charlie wird darin zur Hauptperson, die sich mit aller Kraft dafür einsetzt, die Menschen, die ihr (und uns) im Laufe der letzten Bände ans Herz gewachsen sind, vor Schaden zu bewahren – in einem Staat, in dem Willkür herrscht und in dem es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt. Es wird ihr nicht gelingen, die Machtstrukturen, gegen die sie bestehen muss, sind undurchdringlich. Währenddessen muss auch Gereon sich wieder gegen einen Feind verteidigen, diesmal auf der anderen Seite des Atlantiks. Gegen Ende von »Transatlantik« beginnen die Fäden der immer komplexeren Handlung zusammenzulaufen und die Figuren werden in Position gebracht für ein düsteres Finale. 

Bahn zehn trägt den schlichten Titel »Rath«, er schließt die Reihe ab. Volker Kutscher hatte lange überlegt, bis zu welchem Jahr er schreiben soll. Ursprünglich war einmal 1936 angedacht, als die gesamte deutsche Polizei SS-Chef Himmler unterstellt wurde – spätestens da hätte es Gereon Rath klar sein müssen, wohin die Reise geht. Doch es war auch das Jahr der Olympiade und diese zwei Wochen im Sommer – auch wenn nur Fassade – sind der letzte Hauch an Normalität gewesen, die im »Dritten Reich« zu spüren war. Daher entschied er sich, weiterzuschreiben, bis zum Jahr 1938. Bis zur Pogromnacht. Bis zum Zeitpunkt, an dem die letzte Grenze auf dem Weg in die Finsternis überschritten wurde. In diesem Abschlussband befindet sich das »Dritte Reich« auf dem Höhepunkt, es ist ein tödlicher Unrechtsstaat, für etliche der Protagonisten geht es ums Überleben. Während gleichzeitig die gesellschaftliche Umgebung immer gnadenloser wird: überzeugte Nazis, Mitläufer, Spitzel, Denunzianten und misstrauische Nachbarn lassen kaum noch Luft zum Atmen. Andere Meinungen sind lebensgefährlich, Widerstand hat tödliche Konsequenzen. 

Die Ereignisse der Pogromnacht bilden einen dramatischen, einen entsetzlichen Höhepunkt. Es ist ein Moment, auf den die Handlung unaufhaltsam zusteuert – und auch wenn es lediglich einige Seiten sind, bleibt die barbarische Unmenschlichkeit der geschilderten Szenen im Gedächtnis haften. Gleichzeitig beginnt das große Wegschauen – und die Deutschen werden endgültig zum Tätervolk.

Und ohne zu viel zu verraten: Der Schluss von »Rath« ist so gelungen wie die gesamte Buchreihe. Ein dünner Rest Hoffnung bleibt, während Dunkelheit und Nebelschwaden alles verhüllen – wie ein prophetischer Blick auf das, was kommen wird. Und es gibt einen überraschenden Epilog, aus dem eine neue Reihe entstehen könnte.

Vielleicht.

Aber sie würde noch dunkler werden. 

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Eine Zeitreise in die Finsternis: Was macht die Rath-Reihe so besonders?

Volker Kutscher ist mit seiner Rath-Reihe ein literarisches Experiment geglückt. Mit den Mitteln des Kriminalromans schickt er uns auf eine Zeitreise in die Finsternis. Diesen Weg in die düsterste Epoche unserer Geschichte bringt er uns so nahe, wie das mit Worten nur möglich ist. Kein angelesenes Wissen wird präsentiert, sondern er folgt der ehernen Losung des Schreibens: Show, don’t tell. Und das gelingt Kutscher grandios: zeitgeschichtliche Details sind fließend in die Handlung eingebaut, historische Zusammenhänge werden nicht erklärt, sondern erlebt – von den Protagonisten und damit auch von uns, den Lesern. Dies verleiht den Büchern eine Authentizität, die ihresgleichen sucht. Dazu kommen die zahlreichen starken Figuren, die Volker Kutscher geschaffen hat, bis hinein in die kleinsten Nebenrollen. So entsteht ein Querschnitt der Gesellschaft, der von überzeugten Nationalsozialisten über Mitläufer, eingeschüchterten Wegsehern, Begeisterten und Zweiflern, stumpf gehorchenden Bürgern, Profiteuren der neuen Ordnung bis hin zu den Opfern des Nazi-Staats reicht. Und bis hin zu den wenigen Menschen, die ohnmächtig versuchen, Widerstand zu leisten oder sich zumindest nicht ganz verbiegen zu lassen. Dabei macht der Autor nicht den Fehler, die Welt in Gut und Böse einzuteilen – denn die Wahrheit liegt meistens dazwischen. Und Gereon Rath ist allzu oft auf genau diesem schmalen Grat unterwegs.

Wie eingangs bereits erwähnt: Das »Dritte Reich« ist kein Betriebsunfall der Geschichte gewesen. Es war eine langsame Entwicklung, eine erst schleichende, dann immer schnellere Radikalisierung der Gesellschaft. Vor einigen Jahren durfte ich Volker Kutscher interviewen. Und mit einem Zitat aus diesem Gespräch möchte ich diesen Text beenden: 

»Die Lehren, die man aus der Geschichte ziehen kann, sind eigentlich ganz einfach. Unser freiheitliches Leben kann schnell zerstört werden. Und Demokratie ist das, was wir daraus machen. Deshalb gilt es, unsere Lebensweise zu verteidigen, egal ob gegen neue Nazis, Salafisten oder globale Konzerne. Unsere Augen müssen in alle Richtungen geöffnet bleiben, um zu erkennen, woher die Gefahr kommt. Und unsere Demokratie muss die Fäuste oben halten.«

Dem ist nichts hinzuzufügen. 

Buchinformation
Volker Kutscher, Rath
Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07410-0

#SupportYourLocalBookstore

Ein Sohn seiner Zeit

Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt

Auch über ein Jahrhundert später umgibt die Texte von Franz Kafka eine Aura von geheimnisvoller Eleganz. Sie stammen aus der Feder eines Menschen, für den das Schreiben alles bedeutete, der sich über die Literatur definierte und allen Widrigkeiten zum Trotz jene Texte schuf, die uns heute noch faszinieren. Dabei war er kein einzelgängerischer Außenseiter. Denn auch wenn er zu seiner Familie ein gespaltenes, zu seinem Vater ein zerrüttetes Verhältnis hatte und es ihm schwerfiel, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen oder Beziehungen einzugehen, so war er gleichzeitig fest eingebunden im intellektuellen Leben Prags, hatte Freunde und Bekannte, verbrachte gerne Zeit in Kaffeehäusern und Buchhandlungen, diskutierte leidenschaftlich über Literatur und die Themen der Zeit. Wie haben all diese äußeren Einflüsse sein Schaffen geprägt? Und ist es möglich, Spuren davon in seinen Texten zu finden? Diesen Fragen geht der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher in seinem Buch »Kafkas Werkstatt« nach und nimmt uns mit auf eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche und neuer Gedanken. „Ein Sohn seiner Zeit“ weiterlesen

Happy Birthday! Herr Lehmann wird 65

Sven Regener: Herr Lehmann

Kürzlich bin ich über ein Zitat der Autorin Marie von Ebner-Eschenbach gestolpert. Es stammt aus der 1880 veröffentlichten Novelle »Lotti, die Uhrmacherin« (die laut Wikipedia die erste deutschsprachige Erzählung über eine Handwerkerin ist) und darin lässt sie die Protagonistin sagen: »Ein schönes Buch nicht wiederlesen, weil man es schon gelesen hat, das ist, als ob man einen teuren Freund nicht wieder besuchen würde, weil man ihn schon kennt.« Wunderbar auf den Punkt gebracht, finde ich, denn es gibt so einige Bücher, die ich immer wieder lese und jedes Mal stellt sich dabei eine wunderbare Vertrautheit ein, man beginnt sich auf bestimmte Szenen oder Dialoge zu freuen, entdeckt neue Details und genießt die Sprache. Und manchmal verändert sich auch die eigene Rezeption im Laufe der Jahre – das ist spannend zu beobachten

Ein Buch erneut zu lesen, ist wie einen Freund zu besuchen: Vermutlich trifft das bei mir auf keinen Roman so sehr zu wie auf »Herr Lehmann« von Sven Regener. Ich habe hier im Blog schon an verschiedenen Stellen über dieses Buch geschrieben und wer hier schon etwas länger mitliest, der weiß, wie wichtig es mir ist. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Werk, in dem ich so viel von mir selbst, so viel eigenes Lebensgefühl der Dekade zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Geburtstag wiederfinde. In die Hände bekommen habe ich das Buch im Jahr 2001 und es hat mich beim ersten Mal – kurz vor Abschluss der Diplomarbeit, als ich eigentlich gar keine Zeit dafür hätte haben sollen – so begeistert, dass ich es gleich noch einmal gelesen habe, direkt am nächsten Tag. Und nicht lange danach ein weiteres Mal. Seitdem besuche ich Herrn Lehmann und seine liebenswert chaotischen Freunde im Kreuzberg des Jahres 1989 Jahr für Jahr erneut. Und seitdem freue ich mich bei jeder Lektüre auf die letzten beiden Sätze, die für mich die vollkommen perfekte Lebensphilosophie darstellen: »Ich gehe erst einmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.«  „Happy Birthday! Herr Lehmann wird 65“ weiterlesen

Samsa. Gregor Samsa.

Franz Kafka: Die Verwandlung

»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Diese Worte sind einer der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte. Sie haben sich schon längst verselbständigt und ähnlich wie »Call me Ishmael« oder »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen« muss man nichts weiter dazu sagen; jeder weiß, welcher Text auf diese Weise beginnt. Und das ist nicht weiter verwunderlich, denn dieser eine Satz, mit dem uns Gregor Samsa vorgestellt wird, ist perfekt. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich ihn vor etlichen Jahren das erste Mal gelesen habe: Ich war irritiert, fasziniert und wurde voller Neugier sofort in diesen ungewöhnlichen Text hineingezogen. Und habe ihn – wie so viele andere Leser – nie wieder vergessen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogbeitrag mit drei unterschiedlichen Ausgaben der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka beschäftigen. Mit drei ganz besonderen Ausgaben. „Samsa. Gregor Samsa.“ weiterlesen

Das geht doch schnell vorbei

Simone de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich

Es gibt sie, diese besonderen Bücher, die einen das Leben lang begleiten. Die fester Bestandteil der eigenen Biographie und mit wertvollen Erinnerungen verbunden sind. Die man unzählige Male gelesen hat. Die vergilbt, zerfleddert und mit losen Seiten im Regal stehen – und von denen man sich nie, niemals und unter keinen Umständen trennen würde. Jahre- und jahrzehntelang erinnern sie einen an längst vergangene, prägende Zeiten – und wenn man sie eines Tages wieder einmal in die Hand nimmt, sie nach einer langen Pause erneut liest, dann ist das wie eine Zeitschleuse zurück in die eigene Vergangenheit. Und es kann geschehen, dass eine Textstelle, die man damals zwar schon angestrichen hat, beim Wiederlesen vollkommen anders wirkt. Intensiver. Wuchtiger. Einen frösteln lässt. Und man sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt. So geschehen bei dem Roman »Alle Menschen sind sterblich« von Simone de Beauvoir. Und das schreibe ich jetzt auf. „Das geht doch schnell vorbei“ weiterlesen

Herbstliche Melancholie

Rainer Maria Rilke: Herbsttag

Wahrscheinlich kennt jeder dieses Gedicht, es gehört zu den meistzitiertesten. Und für mich zu den schönsten. Vor über einem Jahrhundert verfasst, hat es nichts von seiner nachdenklichen Eleganz verloren, in der die Schönheit der Natur im Jahreslauf mit der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins verknüpt wird. Ich liebe die Melancholie, die aus den Versen spricht und die mich jedes Mal aufs neue berührt – und daher möchte ich diesem zeitlosen Werk deutschsprachiger Poesie auch hier im Blog einen Platz geben. „Herbstliche Melancholie“ weiterlesen

»Ich las oft im Gehen«

Anna Burns: Milchmann

Belfast. Ich muss nur dieses Wort, diesen Städtenamen schreiben – schon sind Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf. Bilder einer regennassen Straße, über die ein Panzerwagen fährt. Eines belebten Platzes in der Innenstadt, der von einer schwerbewaffneten Einheit britischer Soldaten schnell durchquert wird. Eines hohen Zaunes, dem Peacewall, und zweier Uniformierter, die an einem Tor stehen und angespannt schauen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Bilder von Mauern, übersät mit martialischen Graffiti, von trostlosen, grauen Straßen, von ausgebrannten Ruinen inmitten der Häuserzeilen, fehlenden Zähnen gleich. Und über allem das unterschwellige Gefühl von Gewalt, die jederzeit ausbrechen kann. Ich war im März 1993 nur drei Tage in Belfast, aber ich werde diesen kurzen Besuch nie vergessen. Die Schwarzweißbilder in diesem Beitrag sind während dieses Aufenthalts entstanden. Sie sind etwas körnig, da ich keine Negative dazu habe und sie abphotographieren musste.

Dabei waren zu Beginn der Neunziger die allerschlimmsten Jahre schon vorbei; in den Siebzigern oder Achtzigern herrschte Bürgerkrieg in Belfast und in Nordirland – Katholiken gegen Protestanten, die IRA gegen die britische Armee und die Milizen des Oranierordens. Dabei ging es schon längst nicht mehr um Freiheit oder Unabhängigkeit; die IRA war zu einer Organisation mit mafiaartigen Strukturen mutiert, die von Schutzgeldern und Erpressungen lebte und die Briten vergalten Terror mit Gegenterror, mit Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und flächendeckender Überwachung. Und zwischen den Fronten saßen die Menschen fest, die in einem permanenten Ausnahmezustand lebten und deren Alltag bestimmt war von totalitären Strukturen und strengkonservativen gesellschaftlichen Zwängen. Mitten hinein in diese Zeit, mitten hinein in das Belfast der Siebzigerjahre führt uns der Roman »Milchmann« von Anna Burns. Ohne Belfast, Nordirland oder Großbritannien auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen. „»Ich las oft im Gehen«“ weiterlesen

Sieben Jahre später

J.D. Vance: Hillbilly-Elegie | Sieben Jahre später

Es geschieht nicht oft, dass ich sieben Jahre nach einem Blogbeitrag noch einmal über das gleiche Buch schreibe. Es geschieht allerdings auch nicht oft, dass ein Autor als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten in den US-Wahlkampf zieht – und dabei mit grotesk reaktionären Sprüchen den blondierten Psychopathen unterstützt, der eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie und die freie Welt darstellt. Natürlich ist die Rede von J.D. Vance und seinem autobiographischen Werk »Hillbilly-Elegie«. Ein Werk, das mich sehr beeindruckt hat, als ich es 2017 gelesen habe. Damals schrieb ich hier im Blog: »Ein Buch über das Verschwinden einer Arbeiterklasse, über die Verlogenheit des amerikanischen Traums und über den steinigen Weg zu einem bürgerlichen Leben: J.D. Vance zeigt uns in »Hillbilly-Elegie« eine für uns kaum vorstellbare Welt und beschreibt anschaulich den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft. Außerdem ist es ein Buch, das mir eine Türe zu längst vergessen geglaubten Erinnerungen aufgestoßen hat.«  „Sieben Jahre später“ weiterlesen

»But then you read.« Ein Textbaustein* von James Baldwin

»But then you read.« Ein Textbaustein von James Baldwin

Seit Jahren nehme ich es mir vor, aber tatsächlich habe ich noch kein einziges Buch von James Baldwin gelesen. Irgendwie hat es nie gepasst oder ein anderer Titel kam dazwischen. Jetzt wäre er hundert Jahre alt geworden und anlässlich dieses Jubiläums sind die Werke des Ausnahmeautors noch einmal präsenter in meiner Wahrnehmung – sehr lesenswert ist zum Beispiel der Beitrag im Blog intellectures über sein Leben, seine Bücher und deren Rezeption bis heute. Ein Text, der deutlich macht wie untrennbar Baldwins Schreiben und Leben miteinander verbunden sind. Schreiben, um zu leben. Und nicht zuletzt ist es diese Intensität, die ihn nach seinem Tod zu einer ikonischen Figur werden ließ. „»But then you read.« Ein Textbaustein* von James Baldwin“ weiterlesen

Das Reisen und das Lesen

Das Reisen und das Lesen: Mit Dennis Lehane, Joan Sales und Leonardo Padura

Eine der wichtigsten Ferienvorbereitungen – wenn nicht sogar die allerwichtigste – ist die Auswahl der Bücher, die einen auf der Reise begleiten werden. Schon Wochen vor dem Urlaubsstart beginne ich darüber nachzudenken; vor dem Buchregal stehend treffe ich nach und nach meine Auswahl. Und das ist nicht einfach, denn zum einen steht nur ein begrenzter Platz im Gepäck zur Verfügung und zum anderen warten zahllose Bücher darauf, endlich gelesen zu werden. Nicht davon zu reden, dass auch in der Vorbereitungszeit neue Bücher Einzug ins Regal halten. Dazu kommt die Befürchtung, dass der Lesestoff nicht reichen könnte; ein furchtbarer Gedanke. Und tatsächlich gingen mir vor fünfundzwanzig Jahren einmal die Buchvorräte aus, auf einem abgelegenen Campingplatz mitten in Andalusien. Eine traumatische Erfahrung, die dazu geführt hat, dass ich ganz bewusst mehr Bücher mitnehme, als ich in der Urlaubszeit schaffen kann – aber man braucht ja auch eine kleine Auswahl, oder nicht? Geht es mit dem Auto in die Ferien, ist auch schon mal ein extra Buchkoffer mit circa zwanzig Büchern dabei; eine Art Reisebibliothek. Und ja, ich weiß, dass ein Tolino viel platzsparender wäre und dass ich mir zur Not auch ein Buch auf das iPhone laden könnte (was auch schon vorkam, da es genau der eine Titel in genau diesem Moment sein musste). Aber außerhalb von Notfällen kommen E-Books für mich nicht in Frage, es fehlt ihnen alles, was zum Lesen gehört: Der Geruch, die Haptik, das Rascheln der umgeblätterten Seiten, die Markierungen mit dem Bleistift – und im Urlaub die Sandkörner, die noch Wochen oder Jahre später im Buch zu finden sind. 

Diesen Sommer ging es für knapp drei Wochen in die Region zwischen Porto und Salamanca. Es war ein wunderbarer Roadtrip, der in menschenleere Bergregionen führte und in den Trubel wunderschöner, alter Städte. Und in viele Cafés, natürlich. Sieben Bücher hatte ich im Gepäck, drei davon habe ich während der Reise gelesen. Alle drei standen schon seit Jahren im Regal und alle drei haben mich vollkommen begeistert. Es sind die Romane »Im Aufruhr jener Tage« von Dennis Lehane, »Flüchtiger Glanz« von Joan Sales und »Der Mann, der Hunde liebte« von Leonardo Padura. Es werden noch ausführliche Texte zu diesen Büchern folgen, hier kommen schon einmal die Kurzvorstellungen. „Das Reisen und das Lesen“ weiterlesen

Berlin – Chicago – Jerusalem

Dana Vowinckel: Gewaesser im Ziplock

Der Roman »Gewässer im Ziplock« von Dana Vowinckel wurde schon einmal hier erwähnt, gehört er doch zu den fünfzehn besten Büchern, die ich im letzten Jahr gelesen habe. Nun durfte ich die Autorin bei einer Veranstaltung des Kölner Literaturhauses live erleben und das ist eine gute Gelegenheit, ihr Buch endlich ausführlich vorzustellen. »Gewässer im Ziplock« ist eine Familiengeschichte. Eine Familiengeschichte, durch die sich Risse ziehen; manche sind unübersehbar, andere ganz fein und im täglichen Leben kaum wahrzunehmen. Doch gerade die feinen Risse sind es, aus denen die Schatten der Geschichte hervorquellen und die sich jederzeit in aufplatzende, tiefe Furchen verwandeln können. „Berlin – Chicago – Jerusalem“ weiterlesen

Zwei Bücher, drei Jahrzehnte

Franz Kafka: Erzaehlungen

Ich konnte nicht widerstehen. Als ich in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens die Neuausgabe der Erzählungen von Franz Kafka sah, musste ich sie einfach haben. Ein leinengebundenes Buch – das findet man heute außerhalb der Programme der Büchergilde und des Manesse-Verlags nur noch selten. Und ich liebe Leineneinbände, deshalb konnte ich gar nicht anders. Nun habe ich den neu erworbenen Band neben dem alten Taschenbuch photographiert und beim Blick auf die beiden Bücher wird mir bewusst, dass über dreiunddreißig Jahre zwischen ihnen liegen. Das Taschenbuch ist die Ausgabe, von der ich hier im Blog schön öfters erzählt habe, vergilbt, zerkratzt und zerknickt begleitet es mich schon seit dem Herbst 1990; es ist mit all seinen Narben und Blessuren ein Teil meines Lebens. Mit ihm verbinde ich viele Monate der Lektüre und viele Stunden in Cafés und Kneipen, es begleitete mich durch die Zeit, als der Aufbruch ins Erwachsenenleben von einer großen Ungewissheit geprägt war. „Zwei Bücher, drei Jahrzehnte“ weiterlesen

Ein Buch wie ein Flächenbrand

Lavie Tidhar: Maror

Die Geschichte des Staates Israel lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Als Geschichte des Aufbruchs nach den Grauen der Shoah. Als Geschichte eines kleinen Landes, das sich als einzige Demokratie des Nahen Ostens behauptet – umgeben von Todfeinden. Als Geschichte der Verwirklichung des Traums eines jüdischen Staates auf historischem jüdischen Boden. Als Geschichte einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft in permanentem Verteidigungszustand. Oder als Geschichte eines Landes, in dem sich Drogenkartelle und das organisierte Verbrechen ausbreiten, in dem die Korruption wuchert wie ein Geschwür und die Verstrickung zwischen Politik und Kriminalität zum Alltag gehört. Genau darum geht es in dem Roman »Maror« des israelischen Autors Lavie Tidhar. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und wie nebenbei tauchen historische Wegmarken und bekannte Namen auf, während sich viele kleine Tragödien in einem großen Drama abspielen – und alles ist miteinander aufs Engste verzahnt. „Ein Buch wie ein Flächenbrand“ weiterlesen

»Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes«

Ruediger Safranski: Kafka - Um sein Leben schreiben

Denkt man darüber nach, wirkt es wie eine schräge Laune des Schicksals: Ausgerechnet Franz Kafka, ein hochgradig introvertierter Mensch, der Zeit seines Lebens mit sich haderte, der sein Schaffen immer wieder in Frage stellte, so sehr, dass er seinen besten Freund darum bat, seinen gesamten Nachlass zu verbrennen, ausgerechnet dieser Franz Kafka ist heute einer der meistinterpretiertesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Kein Halbsatz, kein Brief, kein Tagebucheintrag, keine Notiz blieb unkommentiert, die stetig anwachsende Sekundärliteratur füllt ganze Bibliotheken. Buchstäblich jede Minute seines viel zu kurzen Lebens wurde erforscht, so gut wie nichts blieb im Dunkel der Geschichte verborgen. Und gleichzeitig gibt es keine allgemeingültige Deutung seines Werkes und wird es auch niemals geben – denn das ist das Faszinierende an Kafkas Romanen und Erzählungen: Geschrieben in einer präzisen Sprache, der man die juristische Schulung anmerkt, bleibt der Inhalt ungewiss, angesiedelt irgendwo zwischen Realität und Traum. Angstgefühle und Fragen der Schuld prägen seine Werke, doch jeder liest sie anders, jeder nähert sich auf seine Weise an die irrlichternden und doch glasklaren Texte an. Und bei jedem Menschen lösen sie andere Empfindungen aus. Gleichzeitig sind seine Texte nicht nur ein Teil seiner Identität, nein, sie sind seine Identität, sind sein Leben. Wie kaum ein anderer Autor hat Franz Kafka seine Gefühle so unmittelbar und doch so verschlüsselt zu Papier gebracht. Sein berühmter Satz ist die Essenz seines Lebens: »Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein«. „»Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes«“ weiterlesen

Eine Botschaft vom Tiefpunkt

Vaterland, Muttersprache: Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit 75 Jahren und natürlich ist dies ein Grund zum Feiern. Denn allen Baustellen zum Trotz, die wir in unserem Land gerade zu bewältigen haben, ist es die Grundlage für unser Leben in einer der freiesten Gesellschaften auf dieser Erde. Aber unsere Demokratie und unsere Freiheit sind keine Selbstverständlichkeiten – ganz im Gegenteil, sie sind permanent von außen wie von innen bedroht und müssen stets aufs Neue verteidigt werden. Und niemals darf dabei vergessen werden, dass auch unser Grundgesetz aus Asche, Ruinen und Zerstörung geboren wurde. Aus millionenfachem Tod und unsäglichem Leid, mit dem Deutschland einst die halbe Welt überzogen hatte. Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zumindest in Europa zu Ende war, und erst allmählich die Dimensionen der Vernichtung und das Grauen der Konzentrationslager sichtbar wurden, war die deutsche Geschichte an ihrem Tiefpunkt angelangt – und dass das Land der Täter jemals wieder zum Kreis der zivilisierten Völker gehören würde, in diesem Moment kaum vorstellbar. Trotzdem ist es gelungen. Und heute, viele Jahrzehnte später, sind die Ereignisse jener Jahre in weite Ferne gerückt, die letzten Zeitzeugen sind alte Menschen geworden und bald wird niemand mehr von ihnen leben. Genau deshalb ist es so wichtig, die Erinnerungen an diesen Tiefpunkt, an diese Stunde Null wachzuhalten. Denn wir Nachgeborene haben keine Schuld an den Verbrechen, die in deutschem Namen verübt wurden – aber wir tragen die Verantwortung dafür, dass sie sich niemals wiederholen. Das ist unser historisches Erbe. 

Ich möchte in diesem Blogbeitrag einen Text des Dichters Franz Werfel vorstellen, den er am 25. Mai 1945 geschrieben hat, also nur etwas mehr als zwei Wochen nach Kriegsende. Gefunden habe ich ihn in dem Sammelband »Vaterland, Muttersprache«, der 1994 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und immer noch lieferbar ist – und der eine grandiose Zusammenstellung von Texten aller Art enthält, in denen sich deutsche Autoren und Autorinnen seit 1945 mit ihrem Staat auseinandersetzen. Eine wahre Fundgrube und ein Stück Zeitgeschichte. „Eine Botschaft vom Tiefpunkt“ weiterlesen