Lesend durch die Cafés der Stadt

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Manchmal, nicht sehr oft, gönne ich mir etwas Auszeit und ziehe einen Tag lang von Café zu Café. Mit einem Buch als Begleiter. Einen Tag lang lesen, schauen, sitzen, schlendern, lesen, schauen, lesen, lesen – es sind intensive Lektüreerlebnisse. Bei der letzten Kaffeehaustour, wie ich diese Tage hier im Blog nenne, war ich in Berlin unterwegs. Und mit dabei hatte ich das Buch »Die einsame Stadt« von Olivia Laing. »Vom Abenteuer des Alleinseins« lautet der Untertitel; perfekt passend für einen Leser alleine im Café, dachte ich. Und wurde nicht enttäuscht. Olivia Laing schickte mich auf eine inspirierende Reise durch die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Und durch die Straßen New Yorks, gleichzeitig schillernde Kulisse und Hauptprotagonistin des Buches.

Olivia Laing: Die einsame Stadt.

Den Beginn las ich im »Spreegold«, einem schmucklosen, funktionalen Café-Restaurant in der Rosa-Luxemburg-Straße, das darauf ausgerichtet ist, die zahlreichen Touristen aus aller Welt zu versorgen, die durch Berlin-Mitte ziehen. Es regnete, der Blick aus dem Fenster war auf eine urbane Weise trostlos schön. Olivia Laing schreibt: 

»Stellen Sie sich vor, Sie stehen abends am Fenster, in der sechsten, siebzehnten oder dreiundvierzigsten Etage eines Hauses. Die Stadt entpuppt sich als eine Anhäufung von Zellen, hunderttausend Fenster, einige verdunkelt, andere geflutet von grünem, weißem oder goldenem Licht. Hinter dem Glas schwimmen Fremde hin und her, gehen Privatbeschäftigungen nach. Sie sind deutlich zu sehen und sind doch unerreichbar, und so verursacht dieses ganz alltägliche urbane Phänomen, das sich jeden Abend in jeder Stadt der Welt erleben lässt, selbst den geselligsten unter den Menschen einen Schauder der Einsamkeit, jener unguten Mischung aus Vereinzelung und Ausgesetztheit.«

Und weiter: »Einsam sein kann man überall, doch die Art von Einsamkeit, die dem Leben der Stadt entspringt, inmitten von Millionen, ist eine Sache für sich.«

Ein starker Buchbeginn und Olivia Laing weiß, worüber sie redet. Sie war der Liebe wegen von England nach New York gezogen – und merkte nach kürzester Zeit, dass jene Liebe nicht mehr existierte, als sie dort ankam. Dann saß sie dort fest, pleite, entwurzelt. Und allein. Oder vielmehr einsam, der Unterschied zwischen diesen beiden Worten kann entscheidend sein. Denn wenn ich alleine einen Tag durch Cafés ziehe, dann kann ich dies vor allem deshalb genießen, weil ich dieses Alleinsein selbst gewählt habe. Hätte ich diese Wahl nicht, dann würde ich nicht alleine in Cafés sitzen, sondern einsam. Vor vielen Jahren habe ich mich bei einem knapp einwöchigen Kafka-Leseexperiment in Prag absolut verlassen gefühlt, aber das ist eine andere Geschichte. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich bereits bei der nächsten Station angekommen war, dem Café Bilderbuch in Berlin-Schöneberg. Ein Ort zum Wohlfühlen, zum Verweilen, zum Menschen beobachten und – natürlich – zum Lesen. 

Berlin-Schoeneberg: Cafe Bilderbuch

Olivia Laing beschreibt, wie erdrückend und deprimierend ihre Einsamkeit inmitten der pulsierenden Stadt war. Wie oft sie sich ausgeschlossen, fehl am Platz, an den Rand gedrängt fühlte. Wie ihre kaum vorhandenen sozialen Kontakte immer weniger wurden, sie sich immer mehr in sich selbst zurückzuziehen begann. Ihre Wohnungen zur Zwischenmiete immer schäbiger wurden. Und wie sie physische Veränderungen an sich beobachtete, ausgelöst durch das permanente Alleinsein.

»Ich wollte überall sein, nur nicht da, wo ich war. Was nicht zuletzt daran lag, dass ich im Grunde nirgends war. Mein Leben schien leer und irreal, und ich schämte mich seiner Armseligkeit, so wie man sich schämt, wenn man ein fleckiges oder zerschlissenes Kleidungsstück trägt.«

Berlin-Schoeneberg: Cafe Bilderbuch

Die Personen in Edward Hoppers Bildern

Sie beginnt, sich in den Personen in den Bildern von Edward Hopper wiederzuerkennen, der es wie kaum ein anderer Maler geschafft hat, das Gefühl der Einsamkeit auf der Leinwand festzuhalten. Laing nennt ein Beispiel nach dem anderen, beschreibt die melancholische Tristesse der Bilder »Automat«, »Morning Sun«, »Hotel Window« oder »New York Movie« – so gelungen, dass ich gar nicht anders konnte, als mir die Bilder direkt auf dem Smartphone anzuschauen.

Und sie schreibt über ihren Besuch einer Hopper-Ausstellung im New Yorker Whitney Museum, um dort die Ikone der Bild gewordenen Einsamkeit zu besichtigen: »Nighthawks«, ein Gemälde, das in der westlichen Welt wohl fast jedem Menschen bekannt sein dürfte. Doch die Erfahrung, es einmal in natura zu sehen, muss phänomenal sein – zumindest wäre ich nach der mehrere Seiten langen Schilderung am liebsten sofort in ein Flugzeug gestiegen, um selbst einmal vor der fast greifbaren Traurigkeit zu stehen, die dieses großartige Bild ausstrahlt. 

Laing beginnt, sich mit Edward Hoppers Leben zu beschäftigen, auch mit seinen düsteren Seiten, mit seinem Schaffen, seiner Art zu malen, taucht tief ein in seine Kunst, versucht herauszufinden, warum das Thema Einsamkeit sein gesamtes Werk prägt. In seinen unzähligen Wiederholungen findet sie etwas Tröstliches: »Obwohl sie ein Gefühl völliger Isolation mit sich bringt, eine persönliche Last, die einem niemand abnehmen und die man mit niemandem teilen kann, ist Einsamkeit in Wahrheit ein gemeinschaftlicher Zustand, in dem sich viele Menschen befinden.«

Berlin-Steglitz: Cafe Baier

Das Buchprojekt

Und sie beschließt, sich mit weiteren Künstlern auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben; Künstlern, deren Werke geprägt sind vom Gefühl des Alleinseins, der Ausgrenzung, des Nichtdazugehörens, einer unüberwindbaren Mauer der Einsamkeit. Es ist ein Projekt, das ihr einen Weg aus ihrer Antriebslosigkeit aufzeigen wird, die das Alleinsein ausgelöst hat. Ein Projekt, an dessen Ende das vorliegende Buch steht. Und so bin ich in den kommenden Kapiteln Andy Warhol, David Wojnarowicz, Klaus Nomi und Henry Darger begegnet. Aber da war ich schon weitergezogen nach Berlin-Steglitz ins Café Baier, einem Ort, an dem man noch den Charme des alten West-Berlins erahnen kann, weit weg von den Touristenmassen in Mitte.  

Die Recherche zu diesem Buch hat Olivia Laing durch Museen, Archive und Bibliotheken geführt, kreuz und quer durch New York. Sie beschreibt die Technikfixiertheit Andy Warhols, die er nutzte, um andere Menschen auf Abstand zu halten – obwohl es ihm für sein Schaffen eine Notwendigkeit war, sich mit ihnen zu umgeben; mit Bekannten und Fremden, sein Studio war immer offen. Doch trotz seiner Popularität war Warhol, einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, zutiefst einsam. Laing beschreibt, wie dies sein Schaffen – und seine Auftritte – prägte.

Berlin-Steglitz: Cafe Baier

Sie beschreibt das kurze, aber heftige und intensive Leben von David Wojnarowicz, dessen Aufwachsen geprägt war von sexueller Ausbeutung, Gewalterfahrungen und permanenten Ausgrenzungserlebnissen aufgrund seiner Homosexualität – das Kapitel über ihn ist ein Blick in einen tiefen Abgrund voller Trostlosigkeit. Seiner Kunst hatte er es zu verdanken, dass ihn dieser Abgrund nicht völlig verschlang. Zugleich beschreibt Laing auf eine sehr beeindruckende Weise die subkulturelle Szene im New York der Siebziger- und beginnenden Achtzigerjahre, deren Hotspot das East Village und die heruntergekommene Hafengegend der Chelsea Piers war. Mit Wojnarowicz als einem der wichtigsten Künstler und Aktivisten jener kurzen Zeit. 1992 starb er an AIDS, er wurde 37 Jahre alt.

Sie beschreibt das Leben von Klaus Nomi, dessen einzigartiger Stil ihn zu einem Ausnahmemusiker in der New-Wave-Szene der Achtziger machte. Wobei die Genrezuordnung ihm nicht gerecht wird, er war unvergleichbar. Es muss 1987 oder 1988 gewesen sein, als mir eine Brieffreundin aus Österreich eine Kassette mit zweien seiner Alben schickte (viele Grüße, liebe Moni, falls Du das durch irgendeinen Zufall lesen solltest – wo immer Du sein magst). Ich wusste damals nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebte, er starb 1983 ebenfalls an AIDS und war eines der ersten prominenten Opfer dieser damals neuartigen Krankheit, die sich rasend schnell auszubreiten begann. Ich muss gestehen, dass ich mit seiner Musik nicht viel anfangen konnte, als ich mir die Kassette anhörte – doch als ich in diesem Buch nach so vielen Jahren wieder auf seinen Namen stieß und über die Hintergründe seines Schaffens, seiner Auftritte als Kunstfigur im Kontext seiner Lebenserfahrungen las – das war ein besonderer Moment. 

Berlin-Steglitz: Erker im Cafe Baier

Inzwischen war ich im nächsten Café angekommen, in der Buchkantine in Berlin-Moabit. Und bei Henry Darger, einem Menschen, der so einsam war, dass man es sich kaum vorstellen kann. Der jahrzehntelang als Hausmeister an einer Schule in Chicago arbeitete, jahrzehntelang in der gleichen, kleinen Wohnung lebte, keinerlei sozialen Kontakte hatte und durch die permanente Erfahrung gnadenlosen Alleinseins in eine Phantasiewelt abdriftete. Und – ohne dass jemals ein Mensch von seinem Talent erfahren hatte – nicht nur unzählige Bilder und Zeichnungen hinterließ, sondern ein 15.145 Seiten umfassendes Romanfragment – das längste Prosawerk der Welt. Texte und Bilder geben Einblick in die Gedanken eines vollkommen isolierten Menschen, der inmitten einer Millionenstadt in seiner eigenen – sehr dunklen – Welt lebte. 

Berlin-Steglitz: Zeitungen im Cafe Baier

Dieser grobe Überblick über den Inhalt des Buches berücksichtigt nicht die unzähligen Verästelungen und wunderbaren Abschweifungen, die Olivia Laing – ausgehend von den vier genannten Künstlern – in ihren Text eingebaut hat. Dazu beschreibt sie immer wieder die eigenen Erfahrungen mit ihrer Einsamkeit, streut wissenschaftliche Zitate über die Erforschung des Alleinseins und dessen Folgen für die Betroffenen ein, aber schreibt auch über das pulsierende Leben New Yorks und ihre Arbeit an dem Buch. Entstanden ist ein nachdenkliches, ein intensives, ein hochinformatives, ein erschreckendes, ein tröstliches, ein sehr persönliches, kurz: ein rundum gelungenes Werk.

Ausklang

Mein Tag in Berlin war aber noch nicht zu Ende, er ging direkt über in die lange Nacht der Museen. Ich ließ mich durch die Straßen treiben, saß später mit einem Bier irgendwo auf der Museumsinsel und beobachtete die zahllosen flanierenden Menschen. Und dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass nicht wenige alleine unterwegs waren. So wie ich an diesem Abend. 

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Buchinformation
Olivia Laing, Die einsame Stadt – Vom Abenteuer des Alleinseins
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
btb Verlag
ISBN 978-3-442-76232-3

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Mit fünf Büchern in die Marmorstadt

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023: Die Nominierten

Eine Reise steht bevor, auf die ich mich schon sehr freue und die Überschrift deutet an, um was es gehen wird: Mit fünf Büchern in die Marmorstadt. Die Marmorstadt ist Laas in Südtirol. Der Marmor, das »weiße Gold«, das dort seit der Antike abgebaut wird, findet weltweit Verwendung; Beispiele sind das Queen-Victoria-Denkmal in London oder die U-Bahn-Station World Trade Center in New York

Die fünf Bücher, die mich auf der Reise begleiten, sind: »Drama« von Arad Dabiri, »oft manchmal nie« von Cornelia Hülmbauer, »Sommer in Odessa« von Irina Kilimnik, »Alpha Bravo Charlie« von Tine Melzer und »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes« von Magdalena Saiger. Es sind fünf Debütromane und sie alle sind nominiert für den Franz-Tumler-Literaturpreis, der alle zwei Jahre in Laas vergeben wird. So auch diesen September und ich habe das große Vergnügen, als Gast dabei zu sein. In diesem Beitrag erzähle ich vorab über die fünf Bücher, die Jury und den Preis. Nach der Verleihung wird es einen Bericht darüber geben – mit Photos natürlich. „Mit fünf Büchern in die Marmorstadt“ weiterlesen

#dbp23: Ein Longlist-Gespräch

Deutscher Buchpreis 2023: Die Longlist

Am 22. August war es soweit: Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 wurde veröffentlicht. Es ist immer wieder spannend, welche zwanzig Titel dort aufgeführt werden; die diesjährige Liste hatte ein paar Überraschungen auf Lager und bietet einen gelungenen Querschnitt durch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Und sie ist wie jedes Jahr das Ergebnis einer intensiven Juryarbeit; ein Ergebnis, in das die unterschiedlichen Lesevorlieben der sieben Mitglieder eingeflossen sind. Die diesjährige Jury besteht aus Shila Behjat (Journalistin und Publizistin), Heinz Drügh (Goethe-Universität Frankfurt am Main), Melanie Mühl (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Lisa Schumacher (Inhaberin Steinmetz’sche Buchhandlung in Offenbach), Katharina Teutsch (freie Kritikerin), Florian Valerius (Buchblogger, Gegenlicht Buchhandlung Trier) und Matthias Weichelt (Zeitschrift Sinn und Form).

Zwei Tage nach der Veröffentlichung war ich unterwegs nach Hamburg, denn die Buchhandlung stories! veranstaltete einen Longlist-Abend. Zusammen mit Frank Menden und Simone Finkenwirth sollte ich über die ausgewählten Titel reden, plaudern, diskutieren. „#dbp23: Ein Longlist-Gespräch“ weiterlesen

F wie Faschismus. Ein Textbaustein*

Simon Stranger: Vergesst unsere Namen nicht

Es ist schon ein paar Jahre her, ich war damals erst seit kurzem für den Eichborn Verlag tätig und begleitete den norwegischen Autor Simon Stranger auf einer Lesereise. Im Gepäck hatte er seinen gerade auf Deutsch erschienenen Roman »Vergesst unsere Namen nicht«. Es gibt einen Satz in diesem Buch, der sich mir besonders eingeprägt hat und über den ich hier schreiben möchte. Denn er fühlt sich auf eine bedrohliche Art hochaktuell an. 

Der norwegische Originaltitel des Romans lautet »Leksikon om lys og mørke«, frei übersetzt: Lexikon des Lichts und der Finsternis. Simon Stranger erzählt darin die Geschichte der jüdischen Familie seiner Frau im von Nazi-Deutschland besetzten Norwegen. Jedes Kapitel beginnt wie in einem Lexikon mit einem Buchstaben und den passenden Worten, die sich daraus ergeben – von A wie Anklage bis Z wie Zugvögel. Für den Übersetzer Thorsten Alms war dies eine echte Herausforderung, die er souverän gelöst hat. Und beim Kapitel zum Buchstaben F steht er, der Satz, den ich nicht vergessen kann:

»F wie früher, die Vergangenheit, die es immer noch gibt, und wie der Faschismus, der sich hineinfrisst, wie ein Furunkel in die Kultur.«  „F wie Faschismus. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Abgebrochene Bücher

Abgebrochene Buecher

Damals, als junger Leser, habe ich niemals ein Buch abgebrochen. Alle habe ich zu Ende gelesen, egal wie langweilig oder uninteressant ich sie fand oder wie wenig ich mit ihnen anfangen konnte. Warum? Ich weiß es nicht. Irgendwie war da immer die Hoffnung, dass mich das Buch – vielleicht auch erst gegen Ende – doch noch packen würde oder der Gedanke, dass ich Angefangenes auch zu Ende bringen müsse. Was für eine Verschwendung an Leselebenszeit! Bei manchen Büchern passt es einfach nicht, der Funke springt nicht über und heute breche ich sie ohne zu zögern nach den ersten Kapiteln, den ersten hundert Seiten ab. Denn es warten so viele andere darauf, entdeckt zu werden. Und schließlich gehört »das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen« zu den zehn »unantastbaren Rechten des Lesers«, die der französische Schriftsteller Daniel Pennac vor über drei Jahrzehnten formulierte. 

Bei einigen Büchern weiß ich noch genau die Stellen, die dafür sorgten, dass ich sie nicht beendet habe. Entweder waren sie – nach genereller Unzufriedenheit mit dem bisher Gelesenen – der endgültige Grund für den Leseabbruch. Oder sie machten mir schon nach den ersten paar Seiten klar, dass Buch und Leser in diesem Fall nicht zusammenpassen würden. Das alles ist natürlich höchst subjektiv, so wie eben jeder Leser, jede Leserin einen eigenen Lesegeschmack hat. Hier kommen ein paar ganz persönliche Abbruch-Beispiele aus den letzten Jahren. „Abgebrochene Bücher“ weiterlesen

Die Lebensreise des Joe McGrady

James Kestrel: Fuenf Winter

»Ein Krimi-Epos für die Ewigkeit.« Dieses überschwängliche Urteil von Dennis Lehane ziert den Einband des Buches. Angesichts des schnelllebigen Buchmarkts mag die Formulierung »Ewigkeit« etwas zu hoch gegriffen sein. Doch »Fünf Winter« von James Kestrel ist in der Tat ein Roman, bei dem alles stimmt. Ein nahezu perfekter Spannungsbogen, ein großartig komponierter Plot, ein markanter Protagonist in einem überzeugenden Figurenensemble und gut recherchierte historische Details ergeben zusammen mit der passenden Buchgestaltung und einem einprägsamen Titel ein Werk, das vielleicht nicht in alle Ewigkeit existieren wird. Aber nach dem Lesen wird man noch sehr lange an diesen Roman denken – zumindest mir ging und geht es so. Denn die Lektüre liegt schon einige Monate zurück, doch der Inhalt steht mir so klar vor Augen, als hätte ich das Buch erst gestern spätabends zugeklappt. „Die Lebensreise des Joe McGrady“ weiterlesen

Heimkommen. Ein Textbaustein*

Graham Norton: Heimweh

Es gibt diese Textstellen, die einen beim Lesen innehalten lassen. Über die man geradezu stolpert, die man noch einmal liest und ein weiteres Mal. Und die einem danach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Eine solche Stelle ist mir im Roman »Heimweh« von Graham Norton begegnet. Es ist eine Schlüsselszene des Romans: Der über fünfzigjährige Connor Hayes kehrt nach jahrzehntelanger Abwesenheit nach Mullinmore zurück; es ist ein kleiner Ort in Irland, irgendwo in der Gegend von Cork. Als er sich in seinem Mietwagen langsam der Landschaft nähert, in der er aufgewachsen ist, als die Straßen, die Felder, die in der Luft liegende Stimmung immer vertrauter werden und trotzdem vage fremd bleiben, als er das Städtchen vor sich sieht, in dem vor langer Zeit sein unstetes Leben den Anfang nahm – da fallen sie, die beiden Sätze. „Heimkommen. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Zehn Jahre Kaffeehaussitzer

Zehn Jahre Kaffeehaussitzer

Der Literaturblog Kaffeehaussitzer wird zehn Jahre alt und mit einer Mischung aus Freude, Dankbarkeit und ungläubigem Staunen denke ich an den Juni 2013 zurück, als ich das allererste Mal auf den »Veröffentlichen«-Button geklickt habe – ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, was daraus entstehen würde. Jedenfalls erinnere ich mit gut daran, wie faszinierend ich es fand, dass mit diesem ersten Klick meine eigene Seite, mein Literaturblog zum Leben erweckt wurde. Geplant war das alles nicht, irgendwie hat es sich zufällig ergeben. Wie so oft. „Zehn Jahre Kaffeehaussitzer“ weiterlesen

Melancholische Eleganz

Arturo Pérez-Reverte: Dreimal im Leben

Der spanische Autor Arturo Pérez-Reverte ist ein Meister der melancholischen Erzählungen. Oft sind die Protagonisten seiner Romane Menschen in der zweiten Hälfte ihres Lebens. Menschen, die realisiert haben, dass die Welt dabei ist, sich zu verändern und dass ihr Platz darin nach und nach an den Rand gerückt wird. Und denen klar geworden ist, dass die Zeit zwar sanft, aber gnadenlos vergeht – und mit ihr all die Träume, die Pläne und die Wünsche. Das alles erdulden sie ohne darüber zu klagen, mit Würde und mit all der Eleganz, die ihnen möglich ist. Denn besiegt von der Vergänglichkeit sind sie noch lange nicht, zumindest nicht vollständig. Ein Roman, in dem Pérez-Reverte all dies in höchster Vollendung einfließen lässt, ist »Dreimal im Leben«. Es geht darin um die abenteuerliche Lebensgeschichte von Max Costa, einem Dieb, Betrüger und Hochstapler, äußerst stilsicher und mit den besten Umgangsformen. „Melancholische Eleganz“ weiterlesen

Every move you make

Anthony McCarten: Going Zero

Es war ein seltsamer Zufall: Beim Einkaufen dachte ich darüber nach, mit welchen Sätzen ich die Buchvorstellung des Romans »Going Zero« von Anthony McCarten beginnen könnte. Und während ich den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts schob, lief im Hintergrund der alte Police-Song »Every Breath You Take«. Ausgerechnet. »Every breath you take | And every move you make | Every bond you break | Every step you take | I’ll be watching you«: Auch wenn es darin eigentlich um das Psychogramm eines Stalkers geht, beschreiben diese fünf Songzeilen den perfekten Überwachungsstaat. Und genau davon erzählt »Going Zero«. Von der totalen Überwachung. Das ist natürlich kein neuer Romanstoff, da die Brisanz dieses Themas spätestens seit Edward Snowden allen Menschen klar sein dürfte. Doch Anthony McCarten wählt einen eher spielerischen Ansatz, um sich damit zu beschäftigen, zumindest zu Beginn der Handlung. Bevor einiges aus dem Ruder läuft. Na ja, eigentlich alles. „Every move you make“ weiterlesen

Fünfzehn Bücherfragen

Fuenfzehn Buecherfragen

»Ein Buch, das außer dir alle gemocht haben?« Oder: »Ein Buch, in dem du gern leben würdest?« Beim Flanieren durch die Literaturblogs bin ich auf der Seite Wissenstagebuch auf fünfzehn Bücherfragen gestoßen. Es ist ein Beitrag, der zum Mitmachen einlädt und schon beim Lesen ratterten die Gedanken los – ich konnte gar nicht anders, als mir diese Fragen zu schnappen und selbst zu beantworten. Und wer sich ebenfalls beteiligen mag: Lasst beim Wissenstagebuch in den Kommentaren einen Link da, so entsteht eine schöne Sammlung mit vielen Buchempfehlungen. Die Fragen stammen ursprünglich von der amerikanischen YouTuberin Steph Borer, um als book recommendation tag mehr Literatur in die Timelines zu bringen. Aber langer Rede kurzer Sinn: Hier sind sie, die Bücherfragen. Und meine Antworten. „Fünfzehn Bücherfragen“ weiterlesen

Geschichte und Geschichten

Stefan Ineichen: Principessa Mafalda | Leipziger Wohnzimmerlesung 2023

Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ein Abend, der für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden ist. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen. „Geschichte und Geschichten“ weiterlesen

Apokalypse, Sinnsuche und Literatur

Manesse Verlag: Die Apokalypse

Schon seit sieben Jahren möchte ich diesen Beitrag schreiben. Und seit sieben Jahren suche ich dafür die passenden Worte, denn es geht um einen sehr persönlichen Blick auf die Welt: Um Glauben, Religion und Spiritualität. Auch jetzt, in dem Moment, in dem ich beschlossen habe, damit zu beginnen, weiß ich nicht, wohin der entstehende Text mich führen wird. Wieder einmal hat alles mit einem Buch zu tun, diesmal mit einem ganz besonderen: 2016 ist im Manesse Verlag eine Neuübersetzung der Apokalypse erschienen. Ein spannendes Projekt, denn die Offenbarung des Johannes – wie der offizielle Name ja lautet – ist in dieser aufwendig gestalteten Ausgabe eine Art Auskopplung aus der Bibel. Und wird zu einem literarischen Text, kraftvoll, wuchtig, finster und rätselhaft; auf eine surreale Weise dystopisch wie ein fiebriger Traum. Die Übersetzung aus dem Altgriechischen stammt von Kurt Steinmann, der dazu in einem Interview sagte: »Für mich ist die Apokalypse in erste Linie ein bildhaftes und wortgewaltiges Sprachkunstwerk. In seinen ungeheuren Bildern wirkt es beinahe wie eine Antizipation, eine Vorwegnahme der expressionistischen Literatur etwa von Trakl oder Heym.«  „Apokalypse, Sinnsuche und Literatur“ weiterlesen

An der Schwelle einer neuen Zeit

Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen

Seele zu verkaufen

»Wenn das Internet der Buchdruck wäre, würden wir gerade im Jahr 1460 leben.« Dieses Zitat habe ich schon einmal hier im Blog verwendet, ohne zu wissen, von wem es stammt. Aber es beschreibt, so finde ich, ziemlich gut die Dimension der technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, in denen wir uns befinden und die uns ein Leben lang begleiten werden. Ebenso wie die Leben der kommenden Generationen. Seit ich den Satz das erste Mal zitiert habe, sind inzwischen fast zehn Jahre vergangen; ich weiß immer noch nicht, woher ich ihn habe, aber wir wären nun im Jahr 1470 – und stehen gerade an der Schwelle zur nächsten Stufe der technischen Entwicklungen. Entwicklungen, die vermutlich drastische Auswirkungen auf unsere Zukunft und unser Verhalten haben werden. Der Roman »Candy Haus« von Jennifer Egan passt perfekt in unsere sich rasant verändernde Welt und ich habe ihn nicht nur mit großer Begeisterung, sondern auch mit einem leichten Gruseln gelesen. Denn die nahe Zukunft, in der er zum großen Teil spielt, könnte bald auch unsere Gegenwart sein – so eng liegen beide zusammen. „Seele zu verkaufen“ weiterlesen

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