Mein Lesejahr 2024: Die besten Bücher

Die besten Buecher 2024 | Kaffeehaussitzer

Von meinem Naturell her bin ich unverbesserlicher Optimist und glaube fest daran, dass sich Dinge zum Guten wenden. Irgendwie. Und auch wenn das vergangene Jahr mit seinen Kriegen, politischen Entwicklungen und Dauerkrisen diese Einstellung an ihre Grenzen gebracht haben mag, würde ich niemals aufhören zu hoffen. Das Lesen ist dabei für mich ein wichtiger, nein, der wichtigste Anker in trüben Zeiten, denn Bücher »lassen mich andere Lebensentwürfe kennenlernen, mich teilhaben an fremden Schicksalen; sie erschließen mir neue Horizonte in der Gegenwart und in der Vergangenheit, verflechten sie miteinander, um die Zukunft zu verstehen. Bücher lassen mich meinen Platz in der Welt finden. Immer wieder aufs Neue. In immer wieder neuen Welten.« Das schrieb ich vor einiger Zeit im Text »Warum ich lese«. Und darum könnte ich mir ein Leben ohne Literatur und Bücher nicht vorstellen. 

Wie immer zu Beginn des Jahres stelle ich die fünfzehn Bücher vor, die mich in den vergangenen zwölf Monaten besonders begeistert haben. Und wie immer ist es eine Mischung aus Werken, die in diesem Zeitraum erschienen sind, und solchen, die schon einige Jahre im Regal auf den passenden Lesemoment gewartet haben. Hier sind sie, die besten Bücher meines Lesejahres 2024.

Gaea Schoeters: Trophäe
Übersetzt von Lisa Mensing

Dass ein Roman die eigenen Grundfesten erschüttert und dabei bewirkt, dass man sich vor sich selbst erschrickt – das kommt nur selten vor. Gaea Schoeters Roman »Trophäe« – ein Buch, das schon durch sein phänomenales Cover besticht – ist ein schmaler Band mit gerade einmal 253 Seiten, aber die haben es in sich. Denn als die letzte Seite gelesen war, hatte ich das verstörende Gefühl, erst wieder zu mir selbst finden zu müssen. Es war, als hätte sich mein eigener moralischer Kompass während der Lektüre verschoben. Und das fühlte sich irritierend, erschreckend, und ja, erschütternd an. »Trophäe« ist ein Roman, der sich fest in das Gedächtnis einbrennt und ein beeindruckendes Beispiel dafür, zu was Literatur imstande ist. 

Barbara Kingsolver: Demon Copperhead
Übersetzt von Dirk van Gunsteren

Laut der Verlagswerbung ist »Demon Copperhead« als moderne Nacherzählung von Charles Dickens Klassiker »David Copperfield« angelegt. Da ich dieses weltberühmte Werk leider nicht kenne (Notiz an mich: Mehr Klassiker lesen!), sind mir die Bezüge verborgen geblieben – doch das hat dem bewegenden Leseerlebnis keinen Abbruch getan. Barbara Kingsolver schildert die Reise eines Kindes, eines jungen Mannes durch die Schattenseiten der USA. Eine Reise durch Armut und Perspektivlosigkeit, durch heruntergekommene Kleinstädte, von Arbeitslosigkeit und den Verheerungen der Opioid-Epidemie zerrüttete Landstriche. Permanent konfrontiert mit Gewalt, Ausgrenzung und Tod sucht jener Demon Copperhead seinen Platz im Leben. Und die Autorin schafft es meisterhaft, im Spagat zwischen ernsten Themen und schnoddrig-sarkastischen Dialogen und Gedanken stets so etwas wie Hoffnung aufblitzen zu lassen. Denn irgendwie geht es immer weiter. 

Paul Auster: Baumgartner
Übersetzt von Werner Schmitz

Es war ein seltsamer Zufall: An dem Tag, an dem ich mit »Baumgartner« beginnen wollte, kam die Nachricht vom Tod Paul Austers. Eines Autors, dessen Bücher mich schon seit vielen Jahren begleiten und die einige Spuren in meiner Leserbiographie hinterlassen haben. Als Paul Auster »Baumgartner« schrieb, wusste er wahrscheinlich bereits von seiner Krebserkrankung und es war ihm klar, dass es wohl sein letztes Werk sein würde, sein Abschiedsbuch. Es ist kurzer Roman über große Themen: Über das Älter- und Altwerden, über Verluste und den Umgang damit, über das Alleinsein, über Abschiede und Abschiedsschmerz. Über die Rückschau auf das eigene Leben mit all seinen Abzweigungen, einigen Tiefen und vielen Höhen. Über Zufriedenheit und Hoffnung. Und über das Weitermachen, so lange es geht. Ein Roman über das Menschsein und über die begrenzte Zeit, die wir auf dieser Erde haben. 

George Pelecanos: Hard Revolution
Übersetzt von Gottfried Röckelein

Dieses Buch hatte mir einst ein Buchhändler in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens empfohlen. Als ich es nun endlich gelesen habe, war ich restlos begeistert. Mit dem Mittel eines Kriminalromans gelingt George Pelecanos eine fesselnde Gesellschaftsstudie mit all den Bruchstellen, die die USA bis heute prägen: Rassismus, Gewalt, Drogenmissbrauch und die Kriegstraumata einer ganzen Nation. Es ist das Jahr 1968, es ist die Zeit Martin Luther Kings und seines Kampfes für Gerechtigkeit. Derek Strange ist Streifenpolizist in Washington und mit seiner afroamerikanischen Herkunft sitzt er zwischen allen Stühlen. Als nach der Ermordung Luther Kings im gesamten Land Unruhen ausbrechen, als in Washington ganze Straßenzüge brennen und Kriegszustand herrscht, als gleichzeitig Stranges Bruder einem Mord zum Opfer fällt, muss er sich entscheiden, ob ihm Gerechtigkeit oder Rache wichtiger ist. Oder ob es manchmal das Gleiche sein kann. Eine starke Geschichte mit brillant gezeichneten Figuren und einem perfekten Ende. 

Lovie Tidhar: Maror
Übersetzt von Conny Lösch

Die Geschichte des Staates Israel lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Als Geschichte des Aufbruchs nach den Grauen der Shoah. Als Geschichte eines kleinen Landes, das sich als einzige Demokratie des Nahen Ostens behauptet – umgeben von Todfeinden. Als Geschichte der Verwirklichung des Traums eines jüdischen Staates auf historischem jüdischem Boden. Als Geschichte einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft in permanentem Verteidigungszustand. Oder als Geschichte eines Landes, in dem sich Drogenkartelle und das organisierte Verbrechen ausbreiten, in dem die Korruption wuchert wie ein Geschwür und die Verstrickung zwischen Politik und Kriminalität zum Alltag gehört. Genau darum geht es in dem Roman »Maror« des israelischen Autors Lavie Tidhar. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und wie nebenbei tauchen historische Wegmarken und bekannte Namen auf, während sich viele kleine Tragödien in einem großen Drama abspielen – und alles ist miteinander aufs Engste verzahnt. Lavie Tidhars Roman fegt wie eine wuchtige Naturgewalt durch die Jahrzehnte israelischer Geschichte. Und im Buchregal gibt es eigentlich nur einen einzigen passenden Platz: Direkt neben Don Winslows »Tage der Toten«. 

Dennis Lehane: Im Aufruhr jener Tage
Übersetzt von Sky Nonhoff

Wäre mir bewusst gewesen, wie herausragend gut »Im Aufruhr jener Tage« ist, dann hätte ich das Buch nicht jahrelang im Regal warten lassen. Der Roman führt nach Boston in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Es brodelt, Gewalt liegt in der Luft. Eine Wirtschaftskrise deutet sich an; materielle Not, Korruption, Wut und Rassismus verbinden sich zu einer explosiven Mischung. Lehane erzählt die Geschichte dreier Menschen: Danny Coughlin, der aus einer irischen Polizistenfamilie stammt und der beginnt – aufgerüttelt von der Notlage der einfachen Polizisten, deren Gehälter schon längst nicht mehr reichen, um ihren Familien ein menschenwürdiges Dasein zu bieten – an der gewerkschaftlichen Organisation des Polizeikorps mitzuarbeiten. Und sich damit zahlreiche Feinde in Politik und Stadtverwaltung schafft. Luther Laurence, Afro-Amerikaner und Baseball-Talent, der aus der Stadt Tulsa fliehen musste, nachdem er sich dort mit dem örtlichen Gangsterboss angelegt und einige Leichen hinterlassen hat. Und Nora O’Shea, die einer erzwungenen Ehe in Irland entkommen ist und in Boston versucht, sich ein neues Leben zu schaffen. Vor dem Hintergrund einer Zeit gewaltsamer Umbrüche verknüpfen sich diese drei Lebensläufe zu einem grandios und mitreißend erzählten Drama.

Anna Burns: Milchmann
Übersetzt von Anna-Nina Kroll

Belfast, irgendwann in den Siebzigern, in einer Zeit, als Nordirland geprägt war von den Schrecken der »Troubles«: Durch ihr nonkonformes Verhalten – sie hat als junge Frau kein Interesse an einer frühen Ehe und einem Hausfrauendasein, dazu liest sie im Gehen – ist die Ich-Erzählerin eine Außenseiterin in ihrem katholischen Viertel. Das ist an sich schon keine angenehme Situation, aber als der »Milchmann«, der so heißt, weil er einen Milchlieferwagen fährt und der angeblich ein hohes Tier der IRA ist, beginnt sie zu stalken, wird ihre Situation gänzlich unerträglich. Wie ein Geschwür wuchern die Gerüchte durchs Viertel und beginnen, ihr die ohnehin schon dünne Luft zum Atmen immer weiter abzuschnüren. Eine fatale Entwicklung nimmt ihren Lauf. Dabei bleibt alles namenlos: Die Protagonistin, sämtliche Figuren der Handlung, selbst der Name der Stadt wird nie genannt. Dieser Kunstgriff macht den Roman zu einer zeitlosen Geschichte, die sich überall und jederzeit ereignen könnte. Und durch ihren ganz besonderen Stil schafft es Anna Burns, dass man als Leser selbst beginnt, Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben – ein spannender und beunruhigender Kunstgriff. »Milchmann« ist ein anstrengendes, faszinierendes und ungewöhnliches Buch, das uns viel über ein Leben in einer Gesellschaft mit totalitären Zwängen berichtet, in der nur das Angepasstsein zählt und das Anderssein zur tödlichen Gefahr werden kann. Gelesen habe ich den Roman gemeinsam mit Linda König, die auf Instagram als @linda.konigliest über Bücher schreibt.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte
Übersetzt von Hans-Joachim Hartstein

Leonardo Padura erzählt die Lebensgeschichte von Ramón Mercader, dem Mann, der am 20. August 1940 Leo Trotzki in seinem mexikanischen Exil ermordete. Auf drei Ebenen nähern wir uns dem dramatischen Ereignis an: Padura schildert minutiös, wie Mercader während des Spanischen Bürgerkriegs für den NKWD – Stalins Mordmaschinerie – rekrutiert, wie er ausgebildet und darauf getrimmt wurde, andere Identitäten anzunehmen. Wie er mit Hass auf den Dissidenten gefüttert wurde, um jegliches Mitleid oder gar Verständnis abzutöten. Parallel dazu beschreibt der Autor Trotzkis Weg in die Verbannung und die Eskalation von Stalins Terrorherrschaft, der unzählige Menschen zum Opfer fallen werden. Und wie sich der Ring der Einsamkeit und Ausgrenzung immer enger um Trotzki zieht, bis zum Ende. Die beiden Handlungsstränge laufen bei dem Ich-Erzähler Iván zusammen, einem Kubaner, der in den Siebzigerjahren einen Mann mit zwei wunderschönen Hunden am Strand kennenlernt. Einen todkranken Mann, der nicht mehr lange zu leben hat und ihm eine Geschichte erzählt, die sein Weltbild erschüttern wird. Ein großartiger Roman über die Schicksalsjahre des 20. Jahrhunderts.

Keanu Reeves & China Miéville: Das Buch Anderswo
Übersetzt von Jakob Schmidt

Was habe ich da eigentlich gelesen? Das war der erste Gedanke, nachdem die letzte Seite umgeblättert war. Und in der Tat sprengt dieser Roman alle Genregrenzen. Seit 80.000 Jahren lebt B. auf unserer Erde. Als Unsterblicher hat er unzählige Kulturen kommen und gehen sehen – und zieht eine blutige Spur durch die Menschheitsgeschichte. Es sind berserkerhafte Gewaltanfälle, die er nicht kontrollieren kann und nichts und niemand kann ihn in diesen Momenten aufhalten. Sobald er tödlich verwundet wird, erfolgt eine Wiederauferstehung. B., oder Unute, wie er einst hieß, hat nur einen Wunsch: Er möchte zu einem Sterblichen werden und seinem Schicksal entkommen. Das US-Militär forscht an und mit ihm, um das Geheimnis seiner Unvergänglichkeit zu ergründen – und nutzt seine mörderischen Talente für Spezialeinsätze. Der Roman ist ein Parforceritt durch tausende von Jahren echter und fiktiver Geschichte – mit dem Untergang von Zivilisationen als großer Konstante. Ein brachiales, düsteres, episches Buch, das mich vollkommen in seinen Bann gezogen hat. Und natürlich habe ich es als John-Wick-Fan vor allem gekauft, weil der Name von Keanu Reeves auf dem Cover steht – der, soviel zur Einordnung, die Idee für die grandiose Geschichte geliefert hat. Geschrieben wurde der Roman von China Miéville. 

Volker Kutscher: Rath

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt und die mich seit vielen Jahren begleitet hat. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 führte damals die Handlung – 2024 ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. Bevor »Rath« als furioses Ende der Serie erschien, habe ich alle neun vorherigen Bände aus dem Regal geholt und sie einen nach dem anderen gelesen, am Stück, ohne andere Bücher dazwischen – um dann direkt mit dem zehnten abzuschließen. Es war wie ein Leserausch, knapp vier Wochen habe ich benötigt und war in jeder Minute, die ich erübrigen konnte, abgetaucht in der Vergangenheit, in einer Epoche, die prägend war für unsere Gegenwart. Seite für Seite verdichten sich die dunklen Vorzeichen bis das Licht ganz verschwunden ist, aus den ersten Hinweisen auf Kommendes werden ganze Handlungsstränge – liest man alle Bände am Stück ist das ein atemberaubendes Leseerlebnis. Und am Ende dieser literarischen Reise, 1938, weiß man, dass allen bisherigen Schrecken zum Trotz in der historischen Realität das Schlimmste erst noch bevorsteht.

Regina Denk: Die Schwarzgeherin

Dieser Roman führt uns in ein Bergdorf, weit oben in den österreichischen Alpen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist das dort Leben hart und entbehrungsreich, das archaische gesellschaftliche Gefüge seit unzähligen Jahren wie in Stein gemeißelt. Die achtzehnjährige Theres sucht einen Weg aus der Enge der vorgezeichneten Lebenswege – doch sie kommt nur bis zu einer Jagdhütte, die so weit oben am Berg liegt, dass sie schwer zu erreichen ist. Dort zieht sie ihre uneheliche Tochter groß, wird als Heilerin und Geburtshelferin geduldet, aber misstrauisch beäugt von der Dorfgemeinschaft. Von Beginn an herrscht eine geradezu klaustrophobische Stimmung in diesem sprachmächtigen Buch, das vieles in sich vereint: Die Geschichte eines Ausbruchs und eines selbstgewählten Lebens, die Geschichte der gnadenlosen Strukturen eines Dorfes in lebensfeindlicher Umgebung, die Geschichte einer großen Liebe und eines tragischen Scheiterns und die Geschichte einer Rache. Denn am Ende wird Blut fließen. Wer Romane wie »Das finstere Tal« von Thomas Willmann oder »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod« von Gerhard Jäger mochte, sollte sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen. Wobei das nicht ganz stimmt: Eigentlich sollte sich niemand diesen grandiosen Roman entgehen lassen. 

Elke Heidenreich: Altern

Das Thema Älterwerden und Altsein kehrt hier im Blog regelmäßig wieder. Und das ist nicht verwunderlich, denn mit Mitte Fünfzig, wenn man die Eltern beerdigt hat und mehrmals miterleben musste, wie Menschen gleichen Alters gehen mussten, ist einem die Endlichkeit des Lebens mehr als bewusst. Daher kam das Buch von Elke Heidenreich genau zum richtigen Zeitpunkt. Es ist eine wunderbare Mischung aus persönlichen Erinnerungen, Gedanken über das Altern und mal feinen, mal sarkastischen Beobachtungen der uns umgebenden Gesellschaft – und ein Streifzug durch die Literaturgeschichte mit zahllosen Zitaten, Buchempfehlungen und Auszügen aus Gedichten. Dabei ist die Autorin so präsent, dass man meint, beim Lesen ihre wohlbekannte Stimme zu hören. Ein Buch, das gleichzeitig zum Nachdenken anregt und Trost spendet. Und Mut macht für die – hoffentlich – kommenden Jahrzehnte. 

Stephen Greenblatt: Die Wende
Übersetzt von Klaus Binder

Die Renaissance ist eine der spannendsten Epochen unserer Geschichte, sie war Europas Aufbruch in die Moderne. Ihre Geburtshelfer waren die Texte antiker Autoren, die nach vielen hundert Jahren des Vergessens wiederentdeckt wurden – und wirkten wie das entfernte und inspirierende Echo längst vergangener Hochkulturen. Einer jener verschollenen Schlüsseltexte war »De rerum natura« von Lukrez, der 1417 durch den Bücherjäger (ich liebe dieses Wort) Poggio Bracciolini in einer Klosterbibliothek aufgespürt und kopiert wurde. Wo genau ist bis heute nicht bekannt, vermutlich war es in Fulda. In Lukrez‘ Text geht es zusammengefasst um Folgendes: »Die Welt besteht aus Atomen und Leere. Die Seele stirbt mit dem Körper. Es gibt nach dem Tod kein Jüngstes Gericht. Das Universum wurde nicht aus göttlicher Macht für uns geschaffen, die Vorstellung eines Lebens nach dem Tode ist abergläubische Phantasie.« Und das alles formuliert in einem außergewöhnlich elegant-poetischen Latein. Man kann sich vorstellen, welche Sprengkraft diese damals bereits tausend Jahre alten und heute noch höchst modern wirkenden Thesen hatten – sie hoben das Denken auf eine neue Ebene, losgelöst von klerikalen Schranken. Stephen Greenblatt beschreibt in seinem Buch die Suche nach dem Text, der bislang nur rudimentär bekannt war, er schildert das außergewöhnliche Leben Poggio Bracciolinis, schreibt über das Denken des Lukrez als Schüler Epikurs und geht auf die Rezeptionsgeschichte von »De rerum natura« ein, die bis weit in die Neuzeit reicht. Das alles ist mitreißend geschrieben und ein äußerst bereicherndes Lesevergnügen. 

Jens Bisky: Die Entscheidung

Die Beteuerung, dass man die Weimarer Republik und deren Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, liest man regelmäßig. Auch ich habe das hier schon geschrieben und finde den Gedanken korrekt. Allerdings nur, solange wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen. Jens Bisky beschäftigt sich in seinem Buch »Die Entscheidung« mit den Jahren von 1929 bis 1934 und schildert gleichermaßen akribisch wie spannend, welche Geschehnisse, welche Personen und welche Gedankenwelten dazu beitrugen, den Weg in den Faschismus zu ebnen. Mit dem Wissen, was alles noch geschehen würde, bleibt man als Leser fassungslos zurück. Und beginnt, mehr Parallelen zu unserer heutigen Zeit zu erkennen, als einem lieb ist. Das Fazit des Buches steht im letzten Satz: »Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.« Große und dringende Leseempfehlung!

William Martin: Dezember 41
Übersetzt von Thomas Gunkel und Tobias Rothenbücher

In William Martins Roman geht es um die Planung und Durchführung eines Attentats auf Franklin D. Roosevelt im Dezember 1941, kurz nach Pearl Harbor und kurz nach dem Eintritt der USA in den Krieg gegen Japan und Deutschland. Aber warum sollte man einen historischen Thriller lesen, dessen Ausgang durch die geschichtlichen Ereignisse ja klar ist? Nun, schon der 1971 erschienene Roman »Der Schakal« von Frederik Forsyth, ein berühmter Klassiker des Genres, der die geplante Ermordung von Charles de Gaulle schildert, hat eindrucksvoll gezeigt, dass auch gescheiterte Anschlagsversuche Stoff für spannende Pageturner bieten. Und genau dies schafft auch Martin mit »Dezember 41«, in dem es um ein Netz deutscher Nazi-Spione in den USA geht, um die faschistische Gesinnung nicht weniger eingewanderter Deutscher, um ein Untergrund-Netzwerk, um eine Reise von Los Angeles nach Washington, quer durch ein Land in Schockstarre, Wut und Kriegsvorbereitungen. Um eine Verfolgungsjagd, um sich verdichtende Gerüchte und um einen gerissenen Attentäter, der Menschen manipuliert, lügt, betrügt und mordet, um seinem Ziel näher und näher zu kommen. Das alles perfekt vermischt mit der Alltagskultur jener Zeit, von den damals aktuellen Hollywood-Filmen über die Hitparade im Radio bis hin zur Fahrt im legendären Super Chief Train (mit ein paar Mord-im-Orientexpress-Vibes). Und im Nachwort erfährt man, was an dieser Geschichte wahr ist (eine ganze Menge) und was Fiktion. 

Das sind sie also, die besten fünfzehn Bücher meines Lesejahres 2024. Das neue Jahr steht in den Startlöchern und ich bin gespannt, was es bringen wird. Wird es besser? Wir leben in unruhigen Zeiten und es liegt an uns, was wir daraus machen. Im Leitartikel der ZEIT-Neujahrsausgabe schreibt Giovanni di Lorenzo: »Es hilft nichts: Auf der Überzeugung, dass nichts läuft, nichts besser wird, nichts zu verändern ist, lässt sich nichts, aber auch wirklich nichts aufbauen. Die eigenen Kinder und Enkelkinder so in die Welt zu schicken, heißt letztlich, sie um ihre Zukunft zu betrügen. ›Du bist so jung wie deine Zuversicht, so alt wie deine Zweifel‹, schrieb einst der Philosoph, Arzt und Menschenfreund Albert Schweitzer. Man kann es auf eine noch kürzere Formel bringen: Wir haben eine Pflicht zur Zuversicht! Trotz alledem.«

Und mit diesem Zitat wünsche ich uns allen Mut, Hoffnung und Energie für ein neues Jahr 2025. Und viele wunderbare Leseerlebnisse.

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Durch ein Blog-Jahrzehnt flanieren

Durch ein Blog-Jahrzehnt flanieren

Seit mehr als elfeinhalb Jahren schreibe ich hier im Blog Kaffeehaussitzer über Bücher, Literatur und Leseerlebnisse. In dieser Zeit ist der Blog zu einem festen Teil meines Lebens und zu einem virtuellen Zuhause geworden. Wobei die virtuelle und die »reale« Welt sich durch das Bloggen so eng miteinander verzahnt haben, dass diese Unterscheidung nicht mehr notwendig ist. Ein Zuhause also. Eines, das stets für Besucher offen steht. Und in diesem Zuhause sind einige hundert Texte zusammengekommen. Ein paar davon habe ich hier zusammengestellt – als Einladung, um durch die vergangenen Jahre zu stromern und sich auf eine kleine Zeitreise zu begeben. Wer also mag: Viel Spaß beim Flanieren durch eine Blog-Dekade. „Durch ein Blog-Jahrzehnt flanieren“ weiterlesen

Schemenhafte Gestalten, unnahbar

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Lange Zeit stand der Roman »Die Unschärfe der Welt« von Iris Wolff in meinem Bücherregal und wartete darauf, gelesen zu werden. Und ich war mir sicher, dass er mir gefallen würde. Die ersten paar Seiten kannte ich bereits und deren poetische Sprache hatte für eine jahrelange Vorfreude gesorgt – allein der richtige Zeitpunkt, um dieses Buch zu lesen, wollte sich nie einstellen. Doch als er kürzlich gekommen schien, war alles ganz anders als gedacht: Das Buch liegt nun gelesen neben mir und die Erinnerung an die Handlung beginnt bereits zu verblassen. Ich merke, dass es keinen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, ja, dass ich ein wenig enttäuscht bin – und warum das so ist, versuche ich nun herauszufinden. „Schemenhafte Gestalten, unnahbar“ weiterlesen

Der Weg in die Finsternis

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. 

Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt. „Der Weg in die Finsternis“ weiterlesen

Ein Sohn seiner Zeit

Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt

Auch über ein Jahrhundert später umgibt die Texte von Franz Kafka eine Aura von geheimnisvoller Eleganz. Sie stammen aus der Feder eines Menschen, für den das Schreiben alles bedeutete, der sich über die Literatur definierte und allen Widrigkeiten zum Trotz jene Texte schuf, die uns heute noch faszinieren. Dabei war er kein einzelgängerischer Außenseiter. Denn auch wenn er zu seiner Familie ein gespaltenes, zu seinem Vater ein zerrüttetes Verhältnis hatte und es ihm schwerfiel, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen oder Beziehungen einzugehen, so war er gleichzeitig fest eingebunden im intellektuellen Leben Prags, hatte Freunde und Bekannte, verbrachte gerne Zeit in Kaffeehäusern und Buchhandlungen, diskutierte leidenschaftlich über Literatur und die Themen der Zeit. Wie haben all diese äußeren Einflüsse sein Schaffen geprägt? Und ist es möglich, Spuren davon in seinen Texten zu finden? Diesen Fragen geht der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher in seinem Buch »Kafkas Werkstatt« nach und nimmt uns mit auf eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche und neuer Gedanken. „Ein Sohn seiner Zeit“ weiterlesen

Happy Birthday! Herr Lehmann wird 65

Sven Regener: Herr Lehmann

Kürzlich bin ich über ein Zitat der Autorin Marie von Ebner-Eschenbach gestolpert. Es stammt aus der 1880 veröffentlichten Novelle »Lotti, die Uhrmacherin« (die laut Wikipedia die erste deutschsprachige Erzählung über eine Handwerkerin ist) und darin lässt sie die Protagonistin sagen: »Ein schönes Buch nicht wiederlesen, weil man es schon gelesen hat, das ist, als ob man einen teuren Freund nicht wieder besuchen würde, weil man ihn schon kennt.« Wunderbar auf den Punkt gebracht, finde ich, denn es gibt so einige Bücher, die ich immer wieder lese und jedes Mal stellt sich dabei eine wunderbare Vertrautheit ein, man beginnt sich auf bestimmte Szenen oder Dialoge zu freuen, entdeckt neue Details und genießt die Sprache. Und manchmal verändert sich auch die eigene Rezeption im Laufe der Jahre – das ist spannend zu beobachten

Ein Buch erneut zu lesen, ist wie einen Freund zu besuchen: Vermutlich trifft das bei mir auf keinen Roman so sehr zu wie auf »Herr Lehmann« von Sven Regener. Ich habe hier im Blog schon an verschiedenen Stellen über dieses Buch geschrieben und wer hier schon etwas länger mitliest, der weiß, wie wichtig es mir ist. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Werk, in dem ich so viel von mir selbst, so viel eigenes Lebensgefühl der Dekade zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Geburtstag wiederfinde. In die Hände bekommen habe ich das Buch im Jahr 2001 und es hat mich beim ersten Mal – kurz vor Abschluss der Diplomarbeit, als ich eigentlich gar keine Zeit dafür hätte haben sollen – so begeistert, dass ich es gleich noch einmal gelesen habe, direkt am nächsten Tag. Und nicht lange danach ein weiteres Mal. Seitdem besuche ich Herrn Lehmann und seine liebenswert chaotischen Freunde im Kreuzberg des Jahres 1989 Jahr für Jahr erneut. Und seitdem freue ich mich bei jeder Lektüre auf die letzten beiden Sätze, die für mich die vollkommen perfekte Lebensphilosophie darstellen: »Ich gehe erst einmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.«  „Happy Birthday! Herr Lehmann wird 65“ weiterlesen

Samsa. Gregor Samsa.

Franz Kafka: Die Verwandlung

»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Diese Worte sind einer der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte. Sie haben sich schon längst verselbständigt und ähnlich wie »Call me Ishmael« oder »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen« muss man nichts weiter dazu sagen; jeder weiß, welcher Text auf diese Weise beginnt. Und das ist nicht weiter verwunderlich, denn dieser eine Satz, mit dem uns Gregor Samsa vorgestellt wird, ist perfekt. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich ihn vor etlichen Jahren das erste Mal gelesen habe: Ich war irritiert, fasziniert und wurde voller Neugier sofort in diesen ungewöhnlichen Text hineingezogen. Und habe ihn – wie so viele andere Leser – nie wieder vergessen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogbeitrag mit drei unterschiedlichen Ausgaben der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka beschäftigen. Mit drei ganz besonderen Ausgaben. „Samsa. Gregor Samsa.“ weiterlesen

Das geht doch schnell vorbei

Simone de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich

Es gibt sie, diese besonderen Bücher, die einen das Leben lang begleiten. Die fester Bestandteil der eigenen Biographie und mit wertvollen Erinnerungen verbunden sind. Die man unzählige Male gelesen hat. Die vergilbt, zerfleddert und mit losen Seiten im Regal stehen – und von denen man sich nie, niemals und unter keinen Umständen trennen würde. Jahre- und jahrzehntelang erinnern sie einen an längst vergangene, prägende Zeiten – und wenn man sie eines Tages wieder einmal in die Hand nimmt, sie nach einer langen Pause erneut liest, dann ist das wie eine Zeitschleuse zurück in die eigene Vergangenheit. Und es kann geschehen, dass eine Textstelle, die man damals zwar schon angestrichen hat, beim Wiederlesen vollkommen anders wirkt. Intensiver. Wuchtiger. Einen frösteln lässt. Und man sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt. So geschehen bei dem Roman »Alle Menschen sind sterblich« von Simone de Beauvoir. Und das schreibe ich jetzt auf. „Das geht doch schnell vorbei“ weiterlesen

Herbstliche Melancholie

Rainer Maria Rilke: Herbsttag

Wahrscheinlich kennt jeder dieses Gedicht, es gehört zu den meistzitiertesten. Und für mich zu den schönsten. Vor über einem Jahrhundert verfasst, hat es nichts von seiner nachdenklichen Eleganz verloren, in der die Schönheit der Natur im Jahreslauf mit der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins verknüpt wird. Ich liebe die Melancholie, die aus den Versen spricht und die mich jedes Mal aufs neue berührt – und daher möchte ich diesem zeitlosen Werk deutschsprachiger Poesie auch hier im Blog einen Platz geben. „Herbstliche Melancholie“ weiterlesen

»Ich las oft im Gehen«

Anna Burns: Milchmann

Belfast. Ich muss nur dieses Wort, diesen Städtenamen schreiben – schon sind Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf. Bilder einer regennassen Straße, über die ein Panzerwagen fährt. Eines belebten Platzes in der Innenstadt, der von einer schwerbewaffneten Einheit britischer Soldaten schnell durchquert wird. Eines hohen Zaunes, dem Peacewall, und zweier Uniformierter, die an einem Tor stehen und angespannt schauen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Bilder von Mauern, übersät mit martialischen Graffiti, von trostlosen, grauen Straßen, von ausgebrannten Ruinen inmitten der Häuserzeilen, fehlenden Zähnen gleich. Und über allem das unterschwellige Gefühl von Gewalt, die jederzeit ausbrechen kann. Ich war im März 1993 nur drei Tage in Belfast, aber ich werde diesen kurzen Besuch nie vergessen. Die Schwarzweißbilder in diesem Beitrag sind während dieses Aufenthalts entstanden. Sie sind etwas körnig, da ich keine Negative dazu habe und sie abphotographieren musste.

Dabei waren zu Beginn der Neunziger die allerschlimmsten Jahre schon vorbei; in den Siebzigern oder Achtzigern herrschte Bürgerkrieg in Belfast und in Nordirland – Katholiken gegen Protestanten, die IRA gegen die britische Armee und die Milizen des Oranierordens. Dabei ging es schon längst nicht mehr um Freiheit oder Unabhängigkeit; die IRA war zu einer Organisation mit mafiaartigen Strukturen mutiert, die von Schutzgeldern und Erpressungen lebte und die Briten vergalten Terror mit Gegenterror, mit Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und flächendeckender Überwachung. Und zwischen den Fronten saßen die Menschen fest, die in einem permanenten Ausnahmezustand lebten und deren Alltag bestimmt war von totalitären Strukturen und strengkonservativen gesellschaftlichen Zwängen. Mitten hinein in diese Zeit, mitten hinein in das Belfast der Siebzigerjahre führt uns der Roman »Milchmann« von Anna Burns. Ohne Belfast, Nordirland oder Großbritannien auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen. „»Ich las oft im Gehen«“ weiterlesen

Sieben Jahre später

J.D. Vance: Hillbilly-Elegie | Sieben Jahre später

Es geschieht nicht oft, dass ich sieben Jahre nach einem Blogbeitrag noch einmal über das gleiche Buch schreibe. Es geschieht allerdings auch nicht oft, dass ein Autor als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten in den US-Wahlkampf zieht – und dabei mit grotesk reaktionären Sprüchen den blondierten Psychopathen unterstützt, der eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie und die freie Welt darstellt. Natürlich ist die Rede von J.D. Vance und seinem autobiographischen Werk »Hillbilly-Elegie«. Ein Werk, das mich sehr beeindruckt hat, als ich es 2017 gelesen habe. Damals schrieb ich hier im Blog: »Ein Buch über das Verschwinden einer Arbeiterklasse, über die Verlogenheit des amerikanischen Traums und über den steinigen Weg zu einem bürgerlichen Leben: J.D. Vance zeigt uns in »Hillbilly-Elegie« eine für uns kaum vorstellbare Welt und beschreibt anschaulich den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft. Außerdem ist es ein Buch, das mir eine Türe zu längst vergessen geglaubten Erinnerungen aufgestoßen hat.«  „Sieben Jahre später“ weiterlesen

»But then you read.« Ein Textbaustein* von James Baldwin

»But then you read.« Ein Textbaustein von James Baldwin

Seit Jahren nehme ich es mir vor, aber tatsächlich habe ich noch kein einziges Buch von James Baldwin gelesen. Irgendwie hat es nie gepasst oder ein anderer Titel kam dazwischen. Jetzt wäre er hundert Jahre alt geworden und anlässlich dieses Jubiläums sind die Werke des Ausnahmeautors noch einmal präsenter in meiner Wahrnehmung – sehr lesenswert ist zum Beispiel der Beitrag im Blog intellectures über sein Leben, seine Bücher und deren Rezeption bis heute. Ein Text, der deutlich macht wie untrennbar Baldwins Schreiben und Leben miteinander verbunden sind. Schreiben, um zu leben. Und nicht zuletzt ist es diese Intensität, die ihn nach seinem Tod zu einer ikonischen Figur werden ließ. „»But then you read.« Ein Textbaustein* von James Baldwin“ weiterlesen

Das Reisen und das Lesen

Das Reisen und das Lesen: Mit Dennis Lehane, Joan Sales und Leonardo Padura

Eine der wichtigsten Ferienvorbereitungen – wenn nicht sogar die allerwichtigste – ist die Auswahl der Bücher, die einen auf der Reise begleiten werden. Schon Wochen vor dem Urlaubsstart beginne ich darüber nachzudenken; vor dem Buchregal stehend treffe ich nach und nach meine Auswahl. Und das ist nicht einfach, denn zum einen steht nur ein begrenzter Platz im Gepäck zur Verfügung und zum anderen warten zahllose Bücher darauf, endlich gelesen zu werden. Nicht davon zu reden, dass auch in der Vorbereitungszeit neue Bücher Einzug ins Regal halten. Dazu kommt die Befürchtung, dass der Lesestoff nicht reichen könnte; ein furchtbarer Gedanke. Und tatsächlich gingen mir vor fünfundzwanzig Jahren einmal die Buchvorräte aus, auf einem abgelegenen Campingplatz mitten in Andalusien. Eine traumatische Erfahrung, die dazu geführt hat, dass ich ganz bewusst mehr Bücher mitnehme, als ich in der Urlaubszeit schaffen kann – aber man braucht ja auch eine kleine Auswahl, oder nicht? Geht es mit dem Auto in die Ferien, ist auch schon mal ein extra Buchkoffer mit circa zwanzig Büchern dabei; eine Art Reisebibliothek. Und ja, ich weiß, dass ein Tolino viel platzsparender wäre und dass ich mir zur Not auch ein Buch auf das iPhone laden könnte (was auch schon vorkam, da es genau der eine Titel in genau diesem Moment sein musste). Aber außerhalb von Notfällen kommen E-Books für mich nicht in Frage, es fehlt ihnen alles, was zum Lesen gehört: Der Geruch, die Haptik, das Rascheln der umgeblätterten Seiten, die Markierungen mit dem Bleistift – und im Urlaub die Sandkörner, die noch Wochen oder Jahre später im Buch zu finden sind. 

Diesen Sommer ging es für knapp drei Wochen in die Region zwischen Porto und Salamanca. Es war ein wunderbarer Roadtrip, der in menschenleere Bergregionen führte und in den Trubel wunderschöner, alter Städte. Und in viele Cafés, natürlich. Sieben Bücher hatte ich im Gepäck, drei davon habe ich während der Reise gelesen. Alle drei standen schon seit Jahren im Regal und alle drei haben mich vollkommen begeistert. Es sind die Romane »Im Aufruhr jener Tage« von Dennis Lehane, »Flüchtiger Glanz« von Joan Sales und »Der Mann, der Hunde liebte« von Leonardo Padura. Es werden noch ausführliche Texte zu diesen Büchern folgen, hier kommen schon einmal die Kurzvorstellungen. „Das Reisen und das Lesen“ weiterlesen

Berlin – Chicago – Jerusalem

Dana Vowinckel: Gewaesser im Ziplock

Der Roman »Gewässer im Ziplock« von Dana Vowinckel wurde schon einmal hier erwähnt, gehört er doch zu den fünfzehn besten Büchern, die ich im letzten Jahr gelesen habe. Nun durfte ich die Autorin bei einer Veranstaltung des Kölner Literaturhauses live erleben und das ist eine gute Gelegenheit, ihr Buch endlich ausführlich vorzustellen. »Gewässer im Ziplock« ist eine Familiengeschichte. Eine Familiengeschichte, durch die sich Risse ziehen; manche sind unübersehbar, andere ganz fein und im täglichen Leben kaum wahrzunehmen. Doch gerade die feinen Risse sind es, aus denen die Schatten der Geschichte hervorquellen und die sich jederzeit in aufplatzende, tiefe Furchen verwandeln können. „Berlin – Chicago – Jerusalem“ weiterlesen

Zwei Bücher, drei Jahrzehnte

Franz Kafka: Erzaehlungen

Ich konnte nicht widerstehen. Als ich in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens die Neuausgabe der Erzählungen von Franz Kafka sah, musste ich sie einfach haben. Ein leinengebundenes Buch – das findet man heute außerhalb der Programme der Büchergilde und des Manesse-Verlags nur noch selten. Und ich liebe Leineneinbände, deshalb konnte ich gar nicht anders. Nun habe ich den neu erworbenen Band neben dem alten Taschenbuch photographiert und beim Blick auf die beiden Bücher wird mir bewusst, dass über dreiunddreißig Jahre zwischen ihnen liegen. Das Taschenbuch ist die Ausgabe, von der ich hier im Blog schön öfters erzählt habe, vergilbt, zerkratzt und zerknickt begleitet es mich schon seit dem Herbst 1990; es ist mit all seinen Narben und Blessuren ein Teil meines Lebens. Mit ihm verbinde ich viele Monate der Lektüre und viele Stunden in Cafés und Kneipen, es begleitete mich durch die Zeit, als der Aufbruch ins Erwachsenenleben von einer großen Ungewissheit geprägt war. „Zwei Bücher, drei Jahrzehnte“ weiterlesen