F wie Faschismus. Ein Textbaustein*

Simon Stranger: Vergesst unsere Namen nicht

Es ist schon ein paar Jahre her, ich war damals erst seit kurzem für den Eichborn Verlag tätig und begleitete den norwegischen Autor Simon Stranger auf einer Lesereise. Im Gepäck hatte er seinen gerade auf Deutsch erschienenen Roman »Vergesst unsere Namen nicht«. Es gibt einen Satz in diesem Buch, der sich mir besonders eingeprägt hat und über den ich hier schreiben möchte. Denn er fühlt sich auf eine bedrohliche Art hochaktuell an. 

Der norwegische Originaltitel des Romans lautet »Leksikon om lys og mørke«, frei übersetzt: Lexikon des Lichts und der Finsternis. Simon Stranger erzählt darin die Geschichte der jüdischen Familie seiner Frau im von Nazi-Deutschland besetzten Norwegen. Jedes Kapitel beginnt wie in einem Lexikon mit einem Buchstaben und den passenden Worten, die sich daraus ergeben – von A wie Anklage bis Z wie Zugvögel. Für den Übersetzer Thorsten Alms war dies eine echte Herausforderung, die er souverän gelöst hat. Und beim Kapitel zum Buchstaben F steht er, der Satz, den ich nicht vergessen kann:

»F wie früher, die Vergangenheit, die es immer noch gibt, und wie der Faschismus, der sich hineinfrisst, wie ein Furunkel in die Kultur.«  „F wie Faschismus. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Heimkommen. Ein Textbaustein*

Graham Norton: Heimweh

Es gibt diese Textstellen, die einen beim Lesen innehalten lassen. Über die man geradezu stolpert, die man noch einmal liest und ein weiteres Mal. Und die einem danach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Eine solche Stelle ist mir im Roman »Heimweh« von Graham Norton begegnet. Es ist eine Schlüsselszene des Romans: Der über fünfzigjährige Connor Hayes kehrt nach jahrzehntelanger Abwesenheit nach Mullinmore zurück; es ist ein kleiner Ort in Irland, irgendwo in der Gegend von Cork. Als er sich in seinem Mietwagen langsam der Landschaft nähert, in der er aufgewachsen ist, als die Straßen, die Felder, die in der Luft liegende Stimmung immer vertrauter werden und trotzdem vage fremd bleiben, als er das Städtchen vor sich sieht, in dem vor langer Zeit sein unstetes Leben den Anfang nahm – da fallen sie, die beiden Sätze. „Heimkommen. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

lechts und rinks – ein textbaustein*

ernst jandl: lichtung

Ernst Jandl ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker und Sprachkünstler des 20. Jahrhunderts. Seine Verse sind geprägt von Sprachwitz und von einer unbändigen Experimentierfreude; viele enthalten hintersinnige Botschaften, die sich auf unterschiedlichste Weise interpretieren lassen. Das 1966 entstandene Gedicht »lichtung« ist eine seiner bekanntesten Lyrikschöpfungen; einmal gelesen begleitet es mich – wie viele andere Menschen auch – seit Jahrzehnten. 

lichtung
manche meinen

lechts und rinks
kann man nicht
velwechsern.
werch ein illtum!

„lechts und rinks – ein textbaustein*“ weiterlesen

Ein Satz wie ein Geschenk

Annabel Wahba: Chamäleon

In der Beschreibung dieses Blogs heißt es, dass es darin um Bücher, Texte und Leseerlebnisse geht. Manchmal werde ich gefragt, was unter einem Leseerlebnis zu verstehen sei, doch darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Es kann etwa ein Buch sein, das mich zurückführt in eine vergangene Zeit meines Lebens, so, als würde ich in einen Spiegel schauen. Oder ein Roman, in dem eine mir wenig bekannte Epoche so intensiv vor mir ausgebreitet wird, wie es mit literarischen Mitteln nur möglich ist. Ein Buch, das seltsame Träume auslöst. Oder eines, das mich so tief in die Handlung hineinzieht, dass ich mich danach wochenlang auf keine neue Lektüre einlassen kann. Und manchmal kann ein Leseerlebnis lediglich aus einer kurzen Textstelle* bestehen oder aus einem einzigen Satz; wenn ich dort Worte finde, die etwas in mir verändern. Worte, die mich mitten ins Herz treffen. Die Trost spenden und eine offene Wunde schließen. Oder zumindest ein Pflaster darauf kleben. Und genau solch ein Pflaster, solch eine Textstelle ist mir auf den ersten Seiten des Romans »Chamäleon« von Annabel Wahba begegnet. Davon möchte ich hier erzählen. „Ein Satz wie ein Geschenk“ weiterlesen

Kunstwerke aus 26 Buchstaben

Hauke Goos: Schoener schreiben

Von Beginn an gibt es in diesem Blog die Rubrik »Textbausteine«. Hier stelle ich Textstellen vor, die mir etwas bedeuten. Mit manchen verbinde ich persönliche Erinnerungen, andere haben mich inspiriert, mich bewegt oder aufgrund ihrer kristallklaren Schönheit zum Staunen gebracht. Und etliche begleiten mich schon seit Jahren. Ebenso stehen im Zentrum vieler Buchvorstellungen kurze Zitate aus den besprochenen Werken; Stellen, die mich innehalten ließen, die Gedanken in Sätze fassen, die ich selbst vage im Kopf hatte, die ich bisher aber noch nie so ausdrücken konnte. Worte, die ein Gefühl perfekt zu formulieren vermögen – immer wieder stoße ich in Büchern auf solch sprachliche Juwelen und lese sie bewundernd ein zweites, drittes Mal, manchmal laut, um mich an ihrer Perfektion zu erfreuen; kein Wort zu viel und keines zu wenig. Das ist das Großartige an der Beschäftigung mit dem geschriebenen Wort: Manchen Menschen, nicht vielen, gelingt es, die sechsundzwanzig Buchstaben unseres Alphabets so zusammenzufügen, dass Kunstwerke daraus entstehen, die Jahre und Jahrhunderte überdauern. Der Journalist Hauke Goos sammelt solche Textstellen, schreibt in seiner Spiegel-Kolumne regelmäßig darüber und hat nun in seinem Buch »Schöner schreiben« fünfzig von ihnen zusammengestellt. „Kunstwerke aus 26 Buchstaben“ weiterlesen

Leïla Slimani über wahre »Cancel Culture«. Ein Textbaustein*

Die wahre »Cancel Culture« - Leïla Slimanis brillante Rede bei der Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin 2021

Der Roman »Das Land der Anderen« von Leïla Slimani ist eines der wichtigen Bücher des Jahres. In diesem Beitrag wird es allerdings nicht um das Buch gehen, sondern um eine Rede. Genauer gesagt, um die Rede, die Leïla Slimani zur Eröffnung des 21. Internationalen Literaturfestivals in Berlin gehalten hat. Die Übersetzung war in der FAS abgedruckt, ich bin zufälllig darauf gestoßen. Während einer Zugfahrt von Leipzig zurück nach Köln blätterte ich durch die Zeitung und blieb an dem Text der Rede hängen. Las sie gleich noch einmal. Und bekomme sie nicht mehr aus dem Kopf. Die französisch-marokkanische Autorin, geboren in Rabat, spricht darin von ihrem Aufwachsen in einer patriarchalen Gesellschaft, in der für Frauen kein selbstbestimmtes Leben vorgesehen ist. Sie erinnert sich an ihre ersten Kontakte mit Büchern und daran, wie die Literatur ihr die Türen in die Welt hinein aufgestoßen hat. Sie ist hindurchgegangen; es war ein steiniger Weg voller Hindernisse und Ressentiments, aber ein Umkehren kam nie in Frage. Und er hat sie bis weit nach oben geführt, Leïla Slimani ist eine der großen Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur. „Leïla Slimani über wahre »Cancel Culture«. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Alles anders? Ein Textbaustein*

Die Rubrik »Textbausteine« hier im Blog Kaffeehaussitzer wurde ursprünglich dafür geschaffen, um ausgewählte Textstellen aus Büchern vorzustellen. Textstellen, die mich zum Teil schon lange begleiten, die für mich etwas Besonderes darstellen, sei es aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Aussage oder ihrer Bedeutung für eine bestimmte Situation im Leben. Inzwischen sind es schon längst nicht mehr nur Zitate aus Büchern, es gehören auch Songtexte, Ausschnitte aus Magazinbeiträgen oder Gedichte dazu – denn eine Textstelle, die einen bewegt oder berührt, kann überall unvermittelt auftauchen. Zum Beispiel auf der Wand in einem Café. „Alles anders? Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*

Ueber Gentrifizierung: Textstelle aus »Der Sollist« von Jan Seghers

»Als Gentrifizierung bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter und deren anschließenden Zuzug. Damit verbunden ist der Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen.« Diese dürre Wikipedia-Definition beschreibt eines der größten Probleme unseres Wohnungsmarktes, bei dem es nicht nur um bezahlbaren Wohnraum, sondern um eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft geht. „Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Die große Angst. Ein Textbaustein*

Hermann Hesse: Narziss und Goldmund

Als ich Anfang zwanzig war, drückte mir ein Freund den Roman »Siddhartha« in die Hand und meinte, ich müsse ihn unbedingt lesen. Darauf folgte eine kurze, aber intensive Phase, in der ich so ziemlich alles von Hermann Hesse verschlungen habe, was mir in die Finger kam. Das ist inzwischen knapp drei Jahrzehnte her, doch kürzlich fand ich beim Durchforsten der Buchregale »Narziß und Goldmund« wieder, das einzige Hesse-Buch, das ich neben jenem »Siddhartha« noch besitze. Als ich den schmalen Suhrkamp-Band in der prägnanten Gestaltung dieser Zeit durchblätterte, fand ich eine markierte Textstelle. Es sind Worte, die mich mich damals bis ins Mark getroffen haben. Und sofort waren eine Menge Erinnerungen wieder da. „Die große Angst. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

»Der Feind steht rechts«

Joseph Wirth: Der Feind steht rechts

Geschichte wiederholt sich nicht. Und die Weimarer Republik ist nicht die Bundesrepublik. Aber die Geschichte lehrt uns, welche Fehler unverzeihlich waren, an welchen Weichen falsch abgebogen wurde – damit sie sich nicht wiederholt. In der Rubrik Textbausteine* geht es diesmal um ein Zitat, einen Ausschnitt aus einer Rede.

Am 24. Juni 1922 wurde der Außenminister Walther Rathenau von rechtsextremen ehemaligen Offizieren ermordet. Dieses Attentat erschütterte die junge Republik in ihren Grundfesten; als darüber im Reichstag debattiert worde, kochten die Emotionen hoch – von Entsetzen bis klammheimlicher Freude waren alle Reaktionen vertreten. Die rechtsextreme DNVP (Deutschnationale Volkspartei) hatte mit monatelanger Hetze den Boden für das Attentat bereitet.

Reichskanzler Joseph Wirth fand in seiner Rede für den Mord und seine Vorgeschichte die passenden Worte. Sie sind zeitlos:

»Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!«  „»Der Feind steht rechts«“ weiterlesen

Älterwerden. Ein Textbaustein*

Ueber das Aelterwerden. Ein Textbaustein von Steffen Kopetzky.

In der Rubrik Textbausteine stelle ich Textpassagen vor, die mir wichtig sind. Es sind manchmal nur ein paar kurze Sätze, die mich beim Lesen mit einer solchen Wucht getroffen haben, dass ich sie nie wieder vergessen werde. Manche davon begleiten mich schon viele Jahre, über andere bin ich gerade erst gestolpert. Miteinander gemein haben sie, dass sie Gefühle in Worte fassen, für die mir bisher die passenden Worte fehlten oder dass ich sie genau dann gefunden habe, als ich sie brauchte. Gerade ist es mir wieder so ergangen, diesmal mit einer kurzen Textstelle aus dem Buch »Propaganda« von Steffen Kopetzky. „Älterwerden. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Die Präsenz der Bücher*

Die Praesenz der Buecher: Ein Textbaustein

Manchmal sitze ich einfach nur da und schaue. Auf mein überquellendes Bücherregal. Auf die Buchstapel auf dem Dielenboden davor. Auf die Bücher, die auf dem Tisch liegen, auf den Stühlen, neben dem Sessel. Manchmal sortiere ich einige aus, aber mehr neue finden den Weg zu mir; es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Einige aber begleiten mich schon seit Jahren, sogar seit Jahrzehnten. An manchen hängen Erinnerungen, schöne und traurige, manche haben mein Leben mitgeprägt. Dazu kommt das unglaublich beruhigende Gefühl, von Geschichten umgeben zu sein, von anderen Welten, fremden Lebensentwürfen, von Entdeckungen, die es noch zu machen gilt, von papierenen Freunden. „Die Präsenz der Bücher*“ weiterlesen

Welten hören auf

Jewgeni Jewtuschenko: Welten hoeren auf

Der Tod ist ein Mysterium, das uns das ganze Leben begleitet und das wir nie ergründen werden, so oft wir es auch versuchen. Vor vielen Jahren arbeitete ich als Altenpflegehelfer und begleitete eines Nachts einen alten Menschen auf seinem letzten Weg. Als er ein letztes Mal tief ausatmete, klang es wie ein Seufzer der Erleichterung. Dann war alles still. Damals legte ich mein Ohr auf seinen Brustkorb und hörte kein Herz mehr schlagen. Der alte Mann war gegangen. Und gleichzeitig konnte ich spüren, dass er im selben Raum war wie ich, jedenfalls noch eine kurze Zeit. Es war ein vollkommen friedlicher Moment. Ein Moment, den ich nie vergessen werde.

Schon davor hatte ich viel über den Tod nachgedacht, nur ein paar Jahre zuvor war mein Vater gestorben. Gleichzeitig fühlte sich damals, mit Anfang zwanzig, die eigene Vergänglichkeit wie etwas Unwirkliches an, wie etwas, das noch nicht einmal vage am Horizont zu erkennen war. Obwohl diese Vergänglichkeit die einzige Gewissheit in unserem Leben ist.

Seitdem sind über zweieinhalb Jahrzehnte vergangen. Inzwischen weiß ich, dass jedes Jahr, jeder Tag ein Geschenk ist. Und wenn man mitbekommen hat, wie das Leben von Menschen, die man kannte – sei es gut oder nur flüchtig – zu Ende gegangen ist, bevor sie alt werden konnten, dann wird man sehr demütig. Nächstes Jahr ist mein fünfzigster Geburtstag. Aber nicht alle meiner Freunde und Bekannten von früher sind noch da. „Welten hören auf“ weiterlesen

Bügeln mit Pearl Jam

Buegeln mit Pearl Jam

Kaum eine Tätigkeit im Haushalt kann ich so wenig leiden wie das Bügeln. Man könnte auch sagen, dass ich es hasse. Wenn man aber in einem Alter ist, in dem zerknitterte Hemden nicht mehr unangepasst, sondern eher ungepflegt aussehen, bleibt einem von Zeit zu Zeit leider nichts anderes übrig, als sich an diese ungeliebte Arbeit zu machen.

Das Gute dabei: Zwar haben in der Wohnung längst Spotify & Co. Einzug gehalten, neben dem Bügelbrett steht aber das unverwüstliche CD-Regal mit seinen Schätzen aus der Vergangenheit. Und so ist das Bügeln meist begleitet von unglaublich lauter Musik (so wie früher) mit entspanntem Headbangen (fast so wie früher). Frank Goosen hat in seinem wunderbaren Buch »So viel Zeit« passende Worte dazu geschrieben: »Musik brachte einen in Kontakt zu jemanden, den man früher gekannt hatte, dem Jemand, der man gewesen ist, bevor man der wurde, der man jetzt war.« 

Und genau so ist es. Jeder von uns kennt sie wahrscheinlich, die Erinnerungen, die man mit bestimmter Musik verbindet und die sofort wieder präsent vor einem stehen. Als wären nicht Jahre oder Jahrzehnte vergangen, sondern nur ein paar Wochen.

Als ich kürzlich wieder einmal das Bügeleisen einsteckte und den Lautstärkeregler nach rechts drehte, war dieses Erinnern, dieses Gefühl der Verbundenheit mit der eigenen Geschichte allerdings so intensiv wie nur ganz selten zuvor. „Bügeln mit Pearl Jam“ weiterlesen

Viva la librería

Viva la librería: Über die Freiheit des Wortes

Zu Beginn der Neunzigerjahre war es in meinem Bekanntenkreis en vogue, sich für Südamerika zu begeistern. Es wurde Spanisch gelernt, man nahm alle möglichen Nebenjobs an, um das Geld für Flüge zusammen zu bekommen, Freunde reisten monatelang durch den Kontinent, in südamerikanischen Metropolen wurden Praktika oder Auslandssemester absolviert, es wurde abendelang geredet und über südamerikanische Länder im Umbruch diskutiert. Länder, die es geschafft hatten, die Fesseln von Militärdiktaturen abzustreifen, Bürgerkriege zu überwinden und sich auf dem Weg in eine gerechtere Zukunft befanden. Zumindest hofften wir das damals.

Aus dieser Zeit – es muss etwa 1993 gewesen sein – habe ich von einer Freundin eine Postkarte erhalten. Woher genau die Karte war, weiß ich leider nicht mehr, denn obwohl ich die letzten Wochen überall wegen des Photos für diesen Beitrag nach dieser Postkarte gesucht habe, konnte ich sie nicht mehr finden. Schade. Aber eigentlich auch egal, denn es waren lediglich drei Sätze, die darauf standen, und die Abbildung des Schaufensters einer Buchhandlung. Die Sätze habe ich nie vergessen: „Viva la librería“ weiterlesen