Vor sich selbst erschrecken

Gaea Schoeters: Trophaee

Was für ein Buch! Habe ich einen Blogbeitrag schon einmal mit diesem Satz begonnen? Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber nicht oft. Denn dass ein Roman die eigenen Grundfesten erschüttert und dabei bewirkt, dass man vor sich selbst erschrickt – das kommt nur selten vor. Dafür gesorgt hat der Roman »Trophäe« von Gaea Schoeters, ein Buch, das schon durch sein phänomenales Cover besticht. Es ist ein schmaler Band mit gerade einmal 253 Seiten – aber die haben es in sich. 

Im Mittelpunkt der Handlung steht der steinreiche John Hunter White, der sein immenses Vermögen mit dubiosen Geschäften gemacht hat; er verkauft »finanzielle Fata Morganas, schöpft den Gewinn ab, bevor die Blase platzt.« Sein Erfolg beruht auf seinem Jagdgespür, eine Eigenschaft, die sein gesamtes Leben prägt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn seine wahre Leidenschaft ist die Großwildjagd. Ist der Adrenalinkick bei der Pirsch auf die Big Five, auf Elefanten, Nashörner, Kaffernbüffel, Löwen und Leoparden – die aufgrund ihrer Gefährlichkeit, Ausdauer und Unberechenbarkeit am schwierigsten zu jagenden Tiere Afrikas.

Ein Nashorn fehlt noch auf seiner Abschussliste und so begegnen wir Hunter – wie er genannt wird – zu Beginn des Buches irgendwo in der afrikanischen Savanne, fernab jeder Stadt. Sein Freund van Heeren, Verwalter eines riesigen Reservats, hatte ihn darüber informiert, dass eine Abschusslizenz zu vergeben sei – und nun ist er hier, voll und ganz in seinem Element, durchstreift zusammen mit van Heeren und einigen Fährtenlesern die Gegend, in der jenes Nashorn vermutet wird. 

»Hunter hat sich seit Jahren nicht mehr so gut gefühlt wie jetzt: Sein ganzer Körper sehnt den Moment herbei, in dem er Auge in Auge mit einem der gefährlichsten Tiere der Wildnis stehen wird, sich vollkommen darüber im Klaren, mit einer winzigen Bewegung seines Fingers das Leben des Kolosses beenden zu können, des letzten nahezu prähistorischen Wesens, und in dem Wissen, dass all diese Kraft folglich seinem Willen unterworfen ist. Denn nur er, Hunter, und niemand anderes, steht ganz oben in der Nahrungskette.«

Es ist eine zähe Suche, mühsam und gefährlich. Und ergebnislos, denn Wilderer waren schneller, haben das Tier des Hornes wegen geschossen und Hunter steht fassungslos, wütend und traurig vor dem Kadaver. Traurig? Ja, denn für ihn ist das eigentliche Wesen der Jagd ein Kräftemessen mit einem Gegner, »mit einem Wesen, das um einiges größer und gefährlicher ist als er selbst, aus dem er als Gewinner hervorgeht. Trotzdem empfindet er den Tod der Beute nicht als Triumph, sondern eher als eine bedauerliche, aber unvermeidliche Begleiterscheinung seines Sieges.«

Um diese Enttäuschung auszugleichen, schlägt ihm van Heeren eine ganz andere Jagd vor. Er spricht davon, dass es nicht nur die Big Five gäbe, sondern – inoffiziell natürlich – die Big Six. Er zeigt ihm durch das Fernglas zwei Jäger eines afrikanischen Stammes. Eines Stammes, mit dem es eine ungeschriebene Vereinbarung gibt: Stellen sie alle zwei, drei Jahre einen ihrer Jäger, einen ihrer jungen Männer, als Jagdbeute zur Verfügung, sichert dies materiell ihr Überleben in einer für sie immer schwieriger werdenden Umgebung. Und nachdem Hunter verstanden hat, was ihm da gerade angeboten wurde, erwacht sein Jagdtrieb so intensiv, dass es kein Zurück mehr gibt. 

Okay, was haben wir also? Ein erfolgreicher Abzocker, der sein Vermögen in einer rechtlichen Grauzone gemacht hat, ein Großwildjäger, der zu seinem persönlichen Vergnügen die Big Five Afrikas schießt, ein Mann, dessen letzter Rest seiner moralischen Grenze eingerissen wird, als er diese ganz spezielle Jagd angeboten bekommt. Man mag das alles zurecht als abstoßend empfinden, aber was hat es nun mit der Erschütterung auf sich, von der ich zu Beginn gesprochen habe? 

Es ist die Perspektive, denn die Autorin erzählt aus der Sichtweise Hunters und das hat mich tief in seine Gedankenwelt hineingezogen. Seine Gedanken über die Jagd um des Tötens willen klingen vollkommen nachvollziehbar. Zudem manifestiert sich seine Liebe zur Natur darin, dass er mit seinem Vermögen regelmäßig unberührte Naturgebiete aufkauft, um sie vor der Ausbeutung durch Investoren zu schützen; Schluchten, Regenwälder oder Steppengebiete.

Und selbstverständlich muss das Nashorn abgeschossen werden, es handelt sich um ein altes Männchen, dass die anderen Nashörner bedrängt. Außerdem ist es ja so, dass dort, wo es jedes Jahr ein paar Jagdgenehmigungen gibt, die Nashornpopulationen wieder zunehmen, da die Lizenzen Geld ins Land spülen, viel Geld. Nur deshalb werden die Tiere vor den Wilderern geschützt. Wenn sie komplett unter Naturschutz stehen, haben die Wilderer dank der grassierenden Korruption und der Armut freie Hand.

»Ethik, hatte Hunter gelernt, hat überall auf der Welt die gleiche Farbe: die des Dollars. Ob man das gut findet oder nicht, die Trophäenjagd ist die einzige funktionierende Form des Naturschutzes und einzige Überlebenschance für diese Spezies. Mit dem sechsstelligen Betrag, den er hingeblättert hat, um das eine Nashorn-Männchen erlegen zu dürfen, finanziert er nicht nur ein Zuchtprogramm für den Fortbestand der Art, sondern ermöglicht auch dem Rest der Herde eine faire Chance auf Schutz. Aber das wollen die ›Naturschützer‹ einfach nicht wahrhaben.« 

Mir ging es beim Lesen so, dass ich damit begann, Hunters Gedanken, seine Rechtfertigungen für sein Tun zu übernehmen. Ebenfalls vom Jagdfieber gepackt, pirschte ich mit ihm durch die Savanne und den Busch, hoffte sehnsüchtig darauf, endlich die Beute vor dem Gewehr zu haben, spürte die körperliche Anspannung vor dem Schuss – all das übertrug sich auf mich. Dabei schaute ich immer wieder neben mich und dachte dabei, Moment, das bin doch nicht ich; erst irritiert, dann erschrocken. Aber diese kurzen Unterbrechungen waren schnell wieder vergessen, als ich zusammen mit dem Jäger in dem unendlichen Grasland verloren ging, unter einem weiten Himmel, umgeben von einem Horizont in schwindelerregender Ferne, nachts ausgestreckt neben einem Lagerfeuer schlafend. Dann riss mich Hunter selbst aus meiner Faszination, denn ihm ist klar, dass es sich bei seiner von van Heeren organisierten Jagd um eine Inszenierung handelt, um eine »konstruierte Authentizität«, um eine koloniale Nostalgie, um den Traum der Weißen von einem Afrika, das mit der heutigen Realität nicht viel zu tun hat. Doch solche Gedanken werden rasch beiseite gewischt, wenn Hunter wieder von einem ihn prägenden Gefühl eingeholt wird: Der Einsamkeit, »denn wir leben, wie wir träumen. Allein.« Dieses Gefühl treibt ihn an, macht ihn zu einem Jäger und sein Bedürfnis nach der Jagd ist sein Schicksal. Mit mir als Leser an seiner Seite.

Und dann jagt Hunter den Jäger, rechtfertigt diese pervertierte »Trophäenjagd« auf die schon bekannte Art, denn schließlich würde sein Geld dem Stamm dabei helfen, die ursprüngliche Lebensweise zu bewahren – und sogar bei diesem vollkommen amoralischen Tun hört das Mitfiebern nicht auf, man sieht schon längst alles durch seine Augen. Doch irgendwann, endlich, beginnt er einem zu entgleiten, wird mehr und mehr selbst zum Gejagten, zum Getriebenen, zum Verlorenen. Bis sich sein Schicksal erfüllen wird, vollkommen anders als er es sich hätte denken können. Aber – so viel sei vorweg genommen – enden wird alles mit einem Aufbruch.  

Als das Buch beendet war, hatte ich das verstörende Gefühl, erst wieder zu mir selbst finden zu müssen. Das Mitfiebern bei einer Jagd um des Tötens willen, verbunden mit dem bewussten Aushebeln des Unrechtsbewusstseins – es war, als hätte sich mein eigener moralischer Kompass während der Lektüre verschoben. Ob das anderen Leserinnen oder Lesern ebenfalls so ging? Für mich fühlte es sich in der Tat irritierend, erschreckend, und ja, erschütternd an. 

»Trophäe« ist ein Roman, der sich fest in das Gedächtnis einbrennt und ein beeindruckendes Beispiel dafür, zu was Literatur imstande ist.

Buchinformation
Gaea Schoeters, Trophäe
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
Paul Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-07388-3

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2 Antworten auf „Vor sich selbst erschrecken“

  1. Mir ging es beim Lesen ganz ähnlich. Objektiv betrachtet ist die Handlungsweise Hunters verabscheuungswürdig, aber Gaea Schoeters schafft es hervorragend, die Perspektive immer weiter zu verschieben. Ich habe beim Lesen die eigene ethische Gesinnung immer wieder in Frage gestellt.

    1. Solche Gedanken hatte ich vor vielen Jahren bei der Lektüre von Ernest Hemingway über den Stierkampf und auch seine Gedanken zum Spanischen Bürgerkrieg.

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