Der Weg in die Finsternis

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 führte damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. 

Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt.

Bevor »Rath« als furioses Ende der Serie erschien, habe ich alle neun vorherigen Bände aus dem Regal geholt und sie einen nach dem anderen gelesen, am Stück, ohne andere Bücher dazwischen – um dann direkt mit dem zehnten abzuschließen. Es war wie ein Leserausch, knapp vier Wochen habe ich benötigt und war in jeder Minute, die ich erübrigen konnte, abgetaucht in der Vergangenheit, in einer Epoche, die prägend war für unsere Gegenwart. Seite für Seite verdichten sich die dunklen Vorzeichen bis das Licht ganz verschwunden ist, aus den ersten Hinweisen auf Kommendes werden ganze Handlungsstränge – liest man alle Bände am Stück ist das ein atemberaubendes Leseerlebnis. Und am Ende dieser literarischen Reise, 1938, weiß man, dass allen bisherigen Schrecken zum Trotz in der historischen Realität das Schlimmste erst noch bevorsteht. 

In »Der nasse Fisch«, dem ersten Band, in dem Gereon Rath 1929 gerade neu nach Berlin gekommen ist, spielt Politik nur am Rand eine Rolle. In einer Szene hängt an der Garderobe eines Hausmeisters eine SA-Uniform und in der Handlung geht es – unter anderem – um illegale Waffenverkäufe, die auch der SA zugutekommen.

In »Der stumme Tod«, dem zweiten Band, steht der Niedergang des Stummfilms im Mittelpunkt der Handlung. Aber nebenbei erfahren wir, dass die Beerdigung von Horst Wessel in Berlin für Tumulte sorgt und im Polizeipräsidium fällt die ein oder andere Bemerkung, dass die Nazis ja keinesfalls so schlimm seien wie die Kommunisten. Vereinzelt tauchen antisemitische Äußerungen in den Dialogen auf. Es ist das Jahr 1930.

Der dritte Band, »Goldstein«, führt ins Jahr 1931. Die Präsenz der Nazis in der Handlung nimmt deutlich zu: SA-Männer, die einen Juden attackieren, rechtsradikale Äußerungen von Kollegen, die beiläufig, aber immer auffälliger in die Handlung eingebaut sind, gegen Ende des Buches wird Gereon Rath Augenzeuge von organisierten SA-Krawallen auf dem Kurfürstendamm. Am Rande, wie zufällig eingestreut, erfahren wir von der deutschen Bankenkrise – die dramatische gesellschaftliche Folgen haben wird. Bei manchen von Raths Kollegen zeichnet sich – ohne dass wir es zu diesem Zeitpunkt ahnen – eine spätere Karriere in Gestapo und SS ab – im Nachhinein wirkt das alles ganz logisch, so geschickt bringt Volker Kutscher die Personen seiner Romane in Stellung. Und spätestens ab diesem dritten Band ist Charlotte Ritter, später Charlotte Rath, die andere Hauptfigur der Reihe. Außerdem schafft sich Gereon Rath einen Todfeind, aber das weiß er noch nicht. 

Bei Band vier, »Vaterland«, sind wir im Jahr 1932 angekommen. Das im April in Kraft getretene Verbot von SA und SS wurde im gleichen Jahr wieder aufgehoben, mit der Folge, dass sich gewalttätige Zwischenfälle bis hin zu Straßenschlachten mit Toten mehren. Das politische Hintergrundrauschen in der Handlung wird spürbar lauter, immer mehr von Raths Kollegen machen keinen Hehl mehr aus ihrer Sympathie für die Nationalsozialisten. Eine Mordserie führt Gereon Rath zu Ermittlungen in die ostpreußische Provinz – hier wird er vom »Preußenschlag« überrascht, mit dem die Reichsregierung die SPD-geführte preußische Landesregierung entmachtete – es war das letzte größere Bollwerk der Demokratie im Deutschen Reich. Zum ersten Mal grätscht die Politik massiv in Raths Ermittlungen hinein. 

Band fünf. »Märzgefallene«. 1933. Zu Beginn des Romans ist Rosenmontag, den Gereon Rath in seiner Heimatstadt Köln etwas zu exzessiv feiert. In der gleichen Nacht brennt in Berlin der Reichstag. Die Handlung beschreibt Deutschland an einem Wendepunkt, Hitler ist Reichskanzler, schon die ersten Wochen nach seinem Amtsantritt haben genügt, um eine Diktatur zu etablieren – der Reichstagsbrand mit seinen Folgen ist der letzte Nagel im Sarg der Demokratie. Die Polizei wird mehr und mehr für politische Aufgaben eingesetzt, so unterstützt sie etwa die SA auf der Jagd nach Kommunisten oder anderen Menschen, die der neue Staat als Feinde betrachtet. Die Stimmung im Präsidium kippt immer weiter und immer schneller nach rechts; Gereon Rath will es lange nicht wahrhaben, ihm ist es egal, ob jemand Nazi ist oder nicht. Für ihn ist Polizeiarbeit unpolitisch und in dieser Lebenslüge richtet er sich ein, während Charlotte »Charlie« viel hellsichtiger ist, ihr ist es klar, was dem Land bevorsteht und sie verzweifelt Monat für Monat mehr. Inzwischen ist die Handlung geprägt von der Naziumgebung: Fahnen überall, Menschen, die von der nationalen Erneuerung reden und von Hitler schwärmen, die antisemitische Hetze wird schlimmer, es beginnen erste Ladenboykotte, der frühere Polizeivizepräsident Bernhard Weiß kann einer Horde SA-Leute gerade noch entkommen. In Köln wird Adenauer aus dem Amt geputscht. Am Ende dieses Bandes brennen Bücher

In Band sechs, »Lunapark«, 1934, hat sich die Situation massiv verändert: Die SA terrorisiert die Menschen, jeden kann es treffen. Misstrauen herrscht, kaum jemand traut sich noch ein offenes Wort zu reden. Trotzdem ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung über diesen Zustand spürbar. Gereons früherer Kollege Gräf ist jetzt bei der Gestapo, die beiden müssen zusammenarbeiten, um Morde an SA-Mitgliedern aufzuklären. Charlotte und Gereon sind inzwischen verheiratet; zu ihrem Haushalt gehört ihr Ziehsohn Fritze, ein ehemaliger Straßenjunge der seinen ersten Auftritt im Band fünf hatte. Als er der HJ beitritt, zu Hause mit Hakenkreuzbinde herumläuft und beginnt, sich mit »Heil Hitler« zu verabschieden, beginnt auch Gereon – der bislang die Hitlerjugend als eine Art harmlosen Pfadfinderclub abgetan hat – zu ahnen, was auf sie zukommt. Eine bleierne Stimmung liegt über allem. Prägend für die Handlung wird der Röhm-Putsch sein, es fließt viel Blut. 

Band sieben, »Marlow« ist dem titelgebenden Johann Marlow gewidmet, einem Gangster, der als dunkle Gestalt im Hintergrund fast der ganzen Reihe agiert. Er verkörpert das organisierte Verbrechen, das während der Weimarer Republik mehr oder weniger ungestört in Berlin agieren konnte. Jetzt trägt Marlow bei feierlichen Anlässen SS-Uniform und kooperiert mit Herrmann Göring. Gereons und Charlies Familienleben zerbröselt, Fritze wird zum jungen Nazi, Gereon erlebt beim Reichsparteitag 1935 in Nürnberg Hitlers berüchtigte Windhund-Rede live mit. Wie nebenbei erfahren wir im Verlauf der Handlung von der Wiederbewaffnung und der Aufstellung der Wehrmacht, von weiteren antisemitischen Gesetzen, erleben mit, wie das widerwärtige Hetzblatt »Der Stürmer« sein Gift versprüht. Die Stimmung im Land wird immer bedrohlicher für alle, die von den Nazis ausgegrenzt werden. Gereon lässt sich zum neugegründeten LKA versetzen und arbeitet nun für Arthur Nebe, einem überzeugten Nationalsozialisten. Schnell sitzt Rath zwischen allen Stühlen, gerät ins Visier der SS und eines alten Bekannten und kann nur durch einen tödlichen Trick sein Leben retten. Charlotte arbeitet inzwischen für Wilhelm Böhm, ihren früheren Chef und Förderer bei der Kripo, der inzwischen den Polizeidienst verlassen hat und als Privatdetektiv tätig ist.  

1936 fanden in Berlin die Olympischen Spiele statt, daher heißt Band acht: »Olympia«. Die Stadt ist im Olympiade-Rausch, gibt sich gastfreundlich und weltoffen. Aber das ist nur eine brüchige Fassade: Während die Menschen den Sport feiern, wird nur wenige Kilometer außerhalb Berlins das KZ Sachsenhausen gebaut. Der Band fängt diese widersprüchliche Stimmung sehr gelungen ein. Dabei führt ein Mordfall Gereon Rath ins olympische Dorf – als er die Zusammenhänge mit anderen Todesfällen begreift, ist es fast zu spät für ihn. In diesem Band ist der Punkt erreicht, an dem es für Gereon keine Zukunft mehr in Deutschland gibt. Auch nicht für Charlotte, eigentlich. 

In Band neun, »Transatlantik« sind wir im Jahr 1937 angekommen. Charlie wird darin zur Hauptperson, die sich mit aller Kraft dafür einsetzt, die Menschen, die ihr (und uns) im Laufe der letzten Bände ans Herz gewachsen sind, vor Schaden zu bewahren – in einem Staat, in dem Willkür herrscht und in dem es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt. Es wird ihr nicht gelingen, die Machtstrukturen, gegen die sie bestehen muss, sind undurchdringlich. Währenddessen muss auch Gereon sich wieder gegen einen Feind verteidigen, diesmal auf der anderen Seite des Atlantiks. Gegen Ende von »Transatlantik« beginnen die Fäden der immer komplexeren Handlung zusammenzulaufen und die Figuren werden in Position gebracht für ein düsteres Finale. 

Bahn zehn trägt den schlichten Titel »Rath«, er schließt die Reihe ab. Volker Kutscher hatte lange überlegt, bis zu welchem Jahr er schreiben soll. Ursprünglich war einmal 1936 angedacht, als die gesamte deutsche Polizei SS-Chef Himmler unterstellt wurde – spätestens da hätte es Gereon Rath klar sein müssen, wohin die Reise geht. Doch es war auch das Jahr der Olympiade und diese zwei Wochen im Sommer – auch wenn nur Fassade – sind der letzte Hauch an Normalität gewesen, die im »Dritten Reich« zu spüren war. Daher entschied er sich, weiterzuschreiben, bis zum Jahr 1938. Bis zur Pogromnacht. Bis zum Zeitpunkt, an dem die letzte Grenze auf dem Weg in die Finsternis überschritten wurde. In diesem Abschlussband befindet sich das »Dritte Reich« auf dem Höhepunkt, es ist ein tödlicher Unrechtsstaat, für etliche der Protagonisten geht es ums Überleben. Während gleichzeitig die gesellschaftliche Umgebung immer gnadenloser wird: überzeugte Nazis, Mitläufer, Spitzel, Denunzianten und misstrauische Nachbarn lassen kaum noch Luft zum Atmen. Andere Meinungen sind lebensgefährlich, Widerstand hat tödliche Konsequenzen. 

Die Ereignisse der Pogromnacht bilden einen dramatischen, einen entsetzlichen Höhepunkt. Es ist ein Moment, auf den die Handlung unaufhaltsam zusteuert – und auch wenn es lediglich einige Seiten sind, bleibt die barbarische Unmenschlichkeit der geschilderten Szenen im Gedächtnis haften. Gleichzeitig beginnt das große Wegschauen – und die Deutschen werden endgültig zum Tätervolk.

Und ohne zu viel zu verraten: Der Schluss von »Rath« ist so gelungen wie die gesamte Buchreihe. Ein dünner Rest Hoffnung bleibt, während Dunkelheit und Nebelschwaden alles verhüllen – wie ein prophetischer Blick auf das, was kommen wird. Und es gibt einen überraschenden Epilog, aus dem eine neue Reihe entstehen könnte.

Vielleicht.

Aber sie würde noch dunkler werden. 

Volker Kutscher: Die Rath-Reihe

Eine Zeitreise in die Finsternis: Was macht die Rath-Reihe so besonders?

Volker Kutscher ist mit seiner Rath-Reihe ein literarisches Experiment geglückt. Mit den Mitteln des Kriminalromans schickt er uns auf eine Zeitreise in die Finsternis. Diesen Weg in die düsterste Epoche unserer Geschichte bringt er uns so nahe, wie das mit Worten nur möglich ist. Kein angelesenes Wissen wird präsentiert, sondern er folgt der ehernen Losung des Schreibens: Show, don’t tell. Und das gelingt Kutscher grandios: zeitgeschichtliche Details sind fließend in die Handlung eingebaut, historische Zusammenhänge werden nicht erklärt, sondern erlebt – von den Protagonisten und damit auch von uns, den Lesern. Dies verleiht den Büchern eine Authentizität, die ihresgleichen sucht. Dazu kommen die zahlreichen starken Figuren, die Volker Kutscher geschaffen hat, bis hinein in die kleinsten Nebenrollen. So entsteht ein Querschnitt der Gesellschaft, der von überzeugten Nationalsozialisten über Mitläufer, eingeschüchterten Wegsehern, Begeisterten und Zweiflern, stumpf gehorchenden Bürgern, Profiteuren der neuen Ordnung bis hin zu den Opfern des Nazi-Staats reicht. Und bis hin zu den wenigen Menschen, die ohnmächtig versuchen, Widerstand zu leisten oder sich zumindest nicht ganz verbiegen zu lassen. Dabei macht der Autor nicht den Fehler, die Welt in Gut und Böse einzuteilen – denn die Wahrheit liegt meistens dazwischen. Und Gereon Rath ist allzu oft auf genau diesem schmalen Grat unterwegs.

Wie eingangs bereits erwähnt: Das »Dritte Reich« ist kein Betriebsunfall der Geschichte gewesen. Es war eine langsame Entwicklung, eine erst schleichende, dann immer schnellere Radikalisierung der Gesellschaft. Vor einigen Jahren durfte ich Volker Kutscher interviewen. Und mit einem Zitat aus diesem Gespräch möchte ich diesen Text beenden: 

»Die Lehren, die man aus der Geschichte ziehen kann, sind eigentlich ganz einfach. Unser freiheitliches Leben kann schnell zerstört werden. Und Demokratie ist das, was wir daraus machen. Deshalb gilt es, unsere Lebensweise zu verteidigen, egal ob gegen neue Nazis, Salafisten oder globale Konzerne. Unsere Augen müssen in alle Richtungen geöffnet bleiben, um zu erkennen, woher die Gefahr kommt. Und unsere Demokratie muss die Fäuste oben halten.«

Dem ist nichts hinzuzufügen. 

Buchinformation
Volker Kutscher, Rath
Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07410-0

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Ein Buch wie ein Flächenbrand

Lavie Tidhar: Maror

Die Geschichte des Staates Israel lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Als Geschichte des Aufbruchs nach den Grauen der Shoah. Als Geschichte eines kleinen Landes, das sich als einzige Demokratie des Nahen Ostens behauptet – umgeben von Todfeinden. Als Geschichte der Verwirklichung des Traums eines jüdischen Staates auf historischem jüdischen Boden. Als Geschichte einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft in permanentem Verteidigungszustand. Oder als Geschichte eines Landes, in dem sich Drogenkartelle und das organisierte Verbrechen ausbreiten, in dem die Korruption wuchert wie ein Geschwür und die Verstrickung zwischen Politik und Kriminalität zum Alltag gehört. Genau darum geht es in dem Roman »Maror« des israelischen Autors Lavie Tidhar. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und wie nebenbei tauchen historische Wegmarken und bekannte Namen auf, während sich viele kleine Tragödien in einem großen Drama abspielen – und alles ist miteinander aufs Engste verzahnt. „Ein Buch wie ein Flächenbrand“ weiterlesen

Als Trauermusik im Radio lief

Andreas Pflueger: Wie Sterben geht

Im Februar 2017 schrieb ich hier im Blog: »Um gleich einmal mit der Tür in Haus zu fallen: »Endgültig« von Andreas Pflüger ist einer der besten deutschen Kriminalromane, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Punkt.« Diesen Einstieg würde ich am liebsten noch einmal verwenden, wieder für einen Roman von Andreas Pflüger; diesmal ist es – man ahnt es schon – »Wie Sterben geht«. Ein Agententhriller vom Feinsten, der gerade eine begeisterte Besprechung nach der anderen erhält. Der Vergleich mit John Le Carré ist regelmäßig zu lesen und auch ich dachte bei der Lektüre unweigerlich an den Großmeister des Spionageromans. Und ja, »Wie Sterben geht« hält diesem Vergleich locker stand, auch wenn Le Carrés Romane – zumindest diejenigen, die ich kenne – fast noch eine Spur düsterer sind. Und düster ist es bei Andreas Pflüger, denn die Handlung führt uns in die Zeit des Kalten Krieges, als sich die Nato und die Warschauer-Pakt-Staaten waffenstarrend gegenüberstanden, sich in einem bedrohlichen Patt belauerten, während hinter den Kulissen erbittert um das gekämpft wurde, wofür alle Geheimdienste dieser Welt bereit sind, über Leichen zu gehen. Um Informationen. „Als Trauermusik im Radio lief“ weiterlesen

George Grosz trifft Agatha Christie

Cay Rademacher: Die Passage nach Maskat

Wenn ich einen Blogbeitrag beginne, um ein Buch vorzustellen, habe ich in der Regel bereits eine grobe Gliederung im Kopf. Oftmals wird der Text dann doch ganz anders als gedacht, doch zumindest der Einstieg fällt mir nie schwer. Dieses Mal ist es anders. Einen Abend lang habe ich versucht, die ersten Sätze zu schreiben, aber die Worte wollten nicht so wie ich. Jetzt also der nächste Versuch. Es geht um das Buch »Die Passage nach Maskat« von Cay Rademacher, auf dessen Umschlag das Wort »Kriminalroman« steht. Und ja, auf den ersten Blick ist es eine beinahe klassische Whodunit-Geschichte. Doch beim zweiten Blick gibt es darin noch eine ganze Menge mehr zu entdecken – und dies herauszuarbeiten, ohne zu viel von der Handlung zu verraten, ist nicht ganz einfach. Beginnen wir erst einmal mit der zeitlichen Einordnung.  „George Grosz trifft Agatha Christie“ weiterlesen

Die Lebensreise des Joe McGrady

James Kestrel: Fuenf Winter

»Ein Krimi-Epos für die Ewigkeit.« Dieses überschwängliche Urteil von Dennis Lehane ziert den Einband des Buches. Angesichts des schnelllebigen Buchmarkts mag die Formulierung »Ewigkeit« etwas zu hoch gegriffen sein. Doch »Fünf Winter« von James Kestrel ist in der Tat ein Roman, bei dem alles stimmt. Ein nahezu perfekter Spannungsbogen, ein großartig komponierter Plot, ein markanter Protagonist in einem überzeugenden Figurenensemble und gut recherchierte historische Details ergeben zusammen mit der passenden Buchgestaltung und einem einprägsamen Titel ein Werk, das vielleicht nicht in alle Ewigkeit existieren wird. Aber nach dem Lesen wird man noch sehr lange an diesen Roman denken – zumindest mir ging und geht es so. Denn die Lektüre liegt schon einige Monate zurück, doch der Inhalt steht mir so klar vor Augen, als hätte ich das Buch erst gestern spätabends zugeklappt. „Die Lebensreise des Joe McGrady“ weiterlesen

An der Schwelle einer neuen Zeit

Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen

Aus Overstolz wird Camel

Volker Kutscher: Transatlantik - der neunte Roman der Gereon-Rath-Reihe

»Er zündete sich eine Overstolz an« – dieser Satz kündigt den Auftritt von Gereon Rath an und in den bisherigen Bänden der Buchreihe von Volker Kutscher dauert es nicht lange, bis er fällt. Diesmal nicht. In »Transatlantik«, dem neunten Rath-Roman, müssen wir bis Seite 63 warten, erst dann können wir ihn zum ersten Mal lesen. Denn inzwischen ist die Reihe im Jahr 1937 angekommen und für die Protagonisten hat sich alles verändert. Charlotte »Charlie« Rath arbeitet nach wie vor in der Detektei ihres früheren Vorgesetzten bei der Kripo und weiß nicht, ob und wo ihr Mann lebt. Gereon Rath, von SS und Gestapo verfolgt, schafft es per Zeppelin aus Deutschland heraus und versucht in New Jersey Fuß zu fassen. Und Ziehsohn Fritze, einst begeistertes HJ-Mitglied, wird zum Opfer des Systems und seiner verbrecherischen Machenschaften. Diese drei Erzählstränge bilden den Rahmen für die Handlung des Romans – der uns wieder einen Schritt weiter hinein in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« führt. 

Bevölkert ist »Transatlantik« mit vielen Personen aus der Welt des Gereon Rath, die Volker Kutscher nunmehr seit fünfzehn Jahren mit akribischer Recherche und schriftstellerischer Leidenschaft geschaffen hat. Und wie es so ist beim neunten Band einer Reihe: Selbstverständlich kann man ihn auch einzeln lesen, im Großen und Ganzen ist die Handlung in sich abgeschlossen. Doch natürlich gibt es zahllose Verweise und Anspielungen auf die vorhergehenden Bände, so dass es empfehlenswert ist, mit Teil eins zu beginnen. Dann nämlich entfaltet die Reihe ihren ganz besonderen Reiz. „Aus Overstolz wird Camel“ weiterlesen

Die Gescheiterten von Slough House

Mick Herron: Slow Horses

Wie die Zeit vergeht: Im Dezember 2018 habe ich »Slow Horses« von Mick Herron gelesen, den Auftaktband einer Reihe, und seitdem steht der Roman auf der Liste der Bücher, die ich hier unbedingt vorstellen möchte. Inzwischen sind einige Jahre verstrichen, unsere Welt ist eine andere geworden, aber die Reihe wächst und gedeiht; gerade ist in der Übersetzung von Stefanie Schäfer der mittlerweile fünfte Band mit dem Titel »London Rules« erschienen. Und hier kommt nun endlich der Blogbeitrag dazu.

Auf den allerersten Blick handelt es sich um eine Krimireihe, um Agententhriller rund um den britischen Inlandsgeheimdienst MI5. Und im Prinzip ist das richtig, allerdings sind es keine gewöhnlichen Agententhriller, denn die Protagonisten sind zwar noch offiziell Angehörige des britischen Geheimdienstes, aber allesamt wegen beruflichen Versagens auf dem Abstellgleis gelandet. Übersetzt man »Slow Horses« mit »lahme Gäule«, trifft es das ganz gut. Im Zentrum der Handlung steht »Slough House«, ein altes, mehrstöckiges und vollkommen heruntergekommenes Gebäude in London, in dem die Büros der Slow Horses untergebracht sind. »Es war eine dieser verlorenen Gegenden, die jede Stadt kennt; eine übersehene Lücke zwischen zwei Postleitzahlen.« Hier sitzt die Versagertruppe tagein, tagaus; da es nicht möglich ist, sie einfach aus dem Staatsdienst zu entlassen, sollen sie mit sinnlosen Tätigkeiten in einer trostlosen Umgebung mürbe gekocht werden. „Die Gescheiterten von Slough House“ weiterlesen

Die Bücher der Rose

Umberto Eco: Der Name der Rose | Dirk Schuemer: Die schwarze Rose

2022 jährte sich das Erscheinen der deutschen Ausgabe von »Der Name der Rose« zum vierzigsten Mal. Dies feierte der Hanser Verlag mit einer wunderschön gestalteten Neuauflage des Romans von Umberto Eco in der bewährten Übersetzung von Burkhart Kroeber. Eine Ausgabe, an der ich nicht vorbeigehen konnte und die ich zum Anlass nahm, nach fünfunddreißig Jahren dieses großartige Werk ein zweites Mal zu lesen. Gleichzeitig erschien – im Zsolnay Verlag, der ebenfalls zu Hanser gehört – der Roman »Die schwarze Rose« von Dirk Schümer; laut der Ankündigung im Klappentext eine Art lose Fortsetzung von Ecos Meisterwerk. Zumindest würde man ein paar alte Bekannte wieder treffen: »Dort, wo Umberto Ecos ›Der Name der Rose‹ aufhört, setzt Dirk Schümers historischer Roman an«, heißt es auf der Buchrückseite. An ein Meisterwerk, an einen der ganz großen Romane der letzten Dekaden anknüpfen? Kann ein so schon fast anmaßendes Unterfangen gut gehen? Gelingen? Ich war skeptisch. Und neugierig. Aber lest selbst. „Die Bücher der Rose“ weiterlesen

Eine Stadt im Sumpf

Nathaniel Rich: King Zeno

Eine Weile habe ich überlegt, wie ich das Buch »King Zeno« von Nathaniel Rich hier vorstellen soll. Denn auf den ersten Blick hat es der Autor als Kriminalroman angelegt; und ja, er erzählt von der Suche nach einem Mörder, von Leichenfunden, es gibt Schusswechsel und Verfolgungsjagden und am Ende einen Showdown. Doch hinter dieser Fassade hat die Geschichte noch viel mehr zu bieten, sie nutzt die Form des Krimis als Vehikel, um von einer Stadt im Umbruch zu berichten, von einer spannenden Musikszene, die der Welt neue Impulse geben wird – und von Umweltsünden, die diese Stadt knapp ein Jahrhundert später einholen sollten. Die Rede ist von New Orleans und »King Zeno« nimmt uns mit in das Jahr 1918; zehn Monate lang begleiten wir drei Menschen, deren Leben sich in diesem Zeitraum verändern wird. Dramatisch verändern wird, auf die ein oder andere Weise. „Eine Stadt im Sumpf“ weiterlesen

Ein Echo aus der Vergangenheit

Leif Davidsen: Der Augenblick der Wahrheit

Es gibt mehrere Kriterien, nach denen ich entscheide, ob ein gelesener Roman dauerhaft im Bücherregal bleibt oder nicht. Eine wichtige Frage ist dabei: Hat mich das Buch so begeistert, dass ich mir vorstellen könnte, es noch einmal zu lesen? Denn das mache ich gerne und manchmal ist es sehr spannend, wie ganz anders das Erzählte auf einen wirken kann, wenn seit der ersten Lektüre viele Jahre vergangen sind. So geschehen bei »Der Augenblick der Wahrheit« von Leif Davidsen; ein Roman, den ich vor etwa zwanzig Jahren las – und in dem ich beim erneuten Lesen viele Textstellen fand, die mir damals kaum aufgefallen waren, die dieses Mal aber eine vollkommen andere Stimmung schufen. „Ein Echo aus der Vergangenheit“ weiterlesen

Keiner kommt hier lebend raus

Benjamin Whitmer: Flucht

Der Begriff »Noir« dürfte allen Literaturinteressierten bekannt sein, aber was genau verbirgt sich dahinter? Für diese Stilrichtung gibt es keine allgemeingültige Definition; vor einiger Zeit tastete sich die Journalistin Sonja Hartl in ihrem Essay »Was ist Noir?« an die Thematik heran. Unter anderem heißt es darin: »Die Düsterheit der Existenz, das Erkennen von Moral bzw. deren Abwesenheit und die Einsicht, dass es keine Erlösung – kein glückliches Ende – gibt, machen somit den Noir aus. … Aus dieser zugrunde liegenden Weltsicht lassen sich Themen und Handlungselemente ableiten. Oft geht es um die zerstörerische Kraft der Macht, die Bedeutungslosigkeit und Absurdität der Existenz, die Korrumpierung des öffentlichen Lebens, um Unordnung, Missbehagen, Unzufriedenheit. Die Protagonisten sind häufig Einzelgänger und soziale Außenseiter. Sogar wenn die Hauptfigur gut ist, ist sie zynisch und glaubt, dass die Gesellschaft korrupt sei, sie aber der Gerechtigkeit Genüge tun kann. Extreme sind die Norm – und weder das Gute noch die Gerechtigkeit werden zwangsläufig siegen.« Zwar muss ein Noir-Roman nicht unbedingt ein Kriminalroman sein, aber dieses Genre bietet sich natürlich geradezu an. Daher ist es kein Zufall, dass Sonja Hartls Essay im Blog Polar-Noir veröffentlicht wurde, dem Verlagsblog des Polar-Verlags; eines Verlags, der sich auf grandios-düstere Kriminalromane spezialisiert hat. Und das Buch »Flucht« von Benjamin Whitmer ist ein gutes Beispiel für die literarische Qualität des Verlagsprogramms: Noir vom Feinsten. „Keiner kommt hier lebend raus“ weiterlesen

Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*

Ueber Gentrifizierung: Textstelle aus »Der Sollist« von Jan Seghers

»Als Gentrifizierung bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter und deren anschließenden Zuzug. Damit verbunden ist der Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen.« Diese dürre Wikipedia-Definition beschreibt eines der größten Probleme unseres Wohnungsmarktes, bei dem es nicht nur um bezahlbaren Wohnraum, sondern um eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft geht. „Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Kensington Avenue, Philadelphia

Liz Moore: Long Bright River

Lesen ist Reisen im Kopf – dieser Satz ist vollkommen überstrapaziert, aber vor allem ist er eines: wahr. Und manchmal führen einen diese Reisen in Gegenden, in die man im echten Leben eher nicht kommen würde. So wie etwa nach Kensington im Roman »Long Bright River« von Liz Moore, einem Stadtteil Philadelphias, der allerdings mit seinem edlen Namensvetter in London nichts gemein hat. Denn Philadelphias Kensington ist einer der größten Drogen-Hotspots im Osten der USA und ein Viertel, das geprägt ist von Drogenhandel, Kriminalität, Straßenprostituion, Obdachlosigkeit, leerstehenden Industriebauten, Abbruchhäusern, zugemüllten Brachflächen, Perspektivlosigkeit und kaputten Menschen. Und einer Menge Drogentoten, Jahr für Jahr. Dazwischen leben diejenigen, die schon immer dort wohnen, die es sich nicht leisten können, wegzuziehen. Oder es auch nicht wollen. Die sich irgendwie arrangieren, durchschlagen, kleine Geschäfte betreiben, Nagelstudios, Handy-Läden, Mini-Märkte, Pfandhäuser, Diner oder einfache Cafés und auf ein besseres Morgen hoffen. Und zwischen dem Elend auf der Straße blinzelt die Gentrifizierung durch die Abgase und den Staub, denn die Mieten sind billig, ziehen die ersten jungen Leute mit Geld an, die gerne urbane  Bohème spielen, »ernst, reich, naiv«. Hippe Imbisse, Craft-Bier-Kneipen oder schicke Cafés sind in den letzten Jahren im Viertel aufgetaucht; mit Preisen, die sich die Alteingesessenen kaum leisten können. „Kensington Avenue, Philadelphia“ weiterlesen

Mordermittler in einem Mörderstaat

Volker Kutscher: Olympia

Im Jahr 2007 startete Volker Kutscher seine Buchreihe um den Kommissar Gereon Rath, den es 1929 von Köln nach Berlin verschlägt und der dort den Weg in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« miterleben wird. Ich weiß noch, wie ich den ersten Band – »Der nasse Fisch« – zum ersten Mal sah und durch das Buchcover sofort meine Neugier geweckt wurde: Eine Straßenszene aus den Zwanzigerjahren, eine Limousine, die am Bürgersteig parkt und von Kindern bewundert wird, daneben eine Litfaßsäule, die wie eine Reminiszenz an »Emil und die Detektive« wirkt. Seitdem begleite ich Gereon Rath und Charlotte Ritter auf ihrem Weg durch die immer finsterer werdende Geschichte und auch dreizehn Jahre später ist meine Begeisterung für diese Reihe ungebrochen; der im November 2020 erschienene achte Band »Olympia« spielt im Jahr 1936. Und Gereon Rath ist inzwischen ein desillusionierter Polizist, der sich Gedanken macht über den Sinn von Mordermittlungen in einem Land, das von Mördern regiert wird. „Mordermittler in einem Mörderstaat“ weiterlesen