Flaneur der Dämmerung

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos - eine photographische Spurensuche

»Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen.« Diese häufig zitierten Sätze schrieb Franz Kafka als Neunzehnjähriger, es sind klarsichtige Worte eines jungen Mannes, der den Großteil seines viel zu kurzen Lebens in dieser Stadt verbringen wird. Sie ist sein Geburtsort, der Platz seiner Familie, von der er sich durch die dominante Präsenz seines Vaters nie wirklich lösen kann. Und so wird Prag sein gesamtes Schaffen prägen; die prachtvollen Plätze und düsteren Gassen, die erleuchteten Kaffeehäuser und dunklen Hinterhöfe, die Nebelschwaden, die aus der Moldau aufsteigen, eine mystische, unterschwellig bedrohliche Stimmung, die nachts in den leeren Straßen liegt, das Morbide einer jahrhundertealten Stadt – all das finden wir in Kafkas Werk wieder. »Das Charakteristische der Stadt ist ihre Leere« – eine Notiz aus seinem Nachlass. Heute, ein Jahrhundert nach seinem Tod, kommt einem dieser Satz surreal vor angesichts der Touristenmassen, die sich tagein, tagaus durch die Stadt an der Moldau schieben und sie schon längst zu einer Kulisse degradiert haben. Oder doch nicht? Hat Kafkas Prag im Verborgenen überlebt? Gibt es sie noch, jene Atmosphäre, die sein Leben prägte? Der Photograph Helmut Schlaiß hat sich auf eine Spurensuche begeben – und herausgekommen ist ein prachtvoller Bildband mit dem Titel »Kafkas Kosmos«.

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Straßenbahn auf der Kaiser-Franz-Brücke
Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Straßenbahn auf der Kaiser-Franz-Brücke

Bereits sein letztes Buch, in der er Goethes italienische Reise mit einem zum Übernachten umgebauten R4-Kastenwagen abfuhr und die geschilderten Orte so photographierte wie der Dichter sie gesehen haben dürfte, war ein herausragendes Werk. Jetzt also Prag und Kafka. Und wie der Vorgänger ist auch dieser Band im Manesse Verlag erschienen. Verleger Horst Lauinger beschreibt in einer editorischen Notiz die Herangehensweise von Helmut Schlaiß: »›Kafkas Kosmos‹ liegt die Idee zugrunde, die Lebens- und Gedankenwelt des Prager Weltdichters mit den Mitteln künstlerischer Schwarz-Weiß-Photographie zu reflektieren. (…) Es ist kein Nostalgie-Projekt, will nicht die Welt von gestern vorspiegeln, als würde diese noch existieren. (…) Wenn im vorliegenden Band Originalschauplätze aus Kafkas Vita zu sehen sind, so nicht aus biographischem Interesse, sondern als Teil einer photoästhetischen Erkundung seiner Lebens- und Gedankenwelten.« 

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Café in der Altstadt
Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Café in der Altstadt

Wie ging der Photograph an diese nicht einfache Aufgabe heran? In seinem Vorwort erläutert Schlaiß seine Arbeitsweise. Zu Beginn stand die intensive Beschäftigung mit Kafkas Texten. Wochenlang, monatelang las er sich durch die Romane, die Erzählungen, die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, tauchte tief in die Gedankenwelt Franz Kafkas ein. Vor Ort in Prag eingetroffen, war nicht die Motivsuche die eigentliche Herausforderung, sondern das Abpassen des perfekten Moments. Jener perfekte Moment ist das zentrale Element eines gelungenen Photos, doch angesichts der Touristenströme gestaltete sich das Timing als besonders schwierig. Daher verlagerte er seine ausgedehnten Spaziergänge durch Prag in die späten Abend- oder die sehr frühen Morgenstunden – das Bild der menschenleeren Karlsbrücke entstand zum Beispiel um vier Uhr morgens. Beim vierten Versuch. Helmut Schlaiß wurde für sein Photoprojekt zum »Flaneur der Dämmerung«, wie er sich im Vorwort selbst bezeichnet. Und dazu schreibt, dass er sich genau deswegen Franz Kafka besonders verbunden fühlte; war dieser ja ebenfalls sehr gerne in der Nacht unterwegs oder nutzte die nächtlichen Stunden zum Schreiben. Ein Abschnitt des Buches enthält außerdem Bilder aus Zürau, dem Dorf, in dem Kafka 1917 und 1918 bei seiner Schwester Ottla lebte, um sich von seiner Tuberkulose-Erkrankung zu erholen. Nur sechs weitere Jahre sollte ihm die Krankheit gönnen. 

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Passant auf dem Altstädter Ring
Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Passant auf dem Altstädter Ring

Den veröffentlichten Photos an die Seite gestellt sind mal kurze, mal etwas längere Zitate aus Kafkas Briefen, aus seinen Tagebüchern sowie den nachgelassenen Schriften und Fragmenten; ausgewählt wurden sie von Horst Lauinger. Aber es stört keine erklärende Bildunterschrift den Eindruck, den die 120 Schwarzweiß-Photographien auf den Betrachter machen; oftmals sind sie grobkörnig, wirken wie flüchtige Momentaufnahmen und fangen grandios die Atmosphäre genau jenes Prags ein, das auch Kafkas Schaffen geprägt hat – ohne etwas zu verklären und ohne sich in einer nicht mehr existenten Vergangenheit zu verlieren. Und ergeben gemeinsam mit den Sätzen aus Kafkas Feder eine perfekte Symbiose. Ein schönes Beispiel ist das Photo, das den morgendlichen Blick von der Schlosstreppe über die Stadt zeigt. Die Straßenlaternen brennen noch, aber am Horizont ist schon Helligkeit zu erahnen. Das Bild strahlt eine vollkommene Stille aus. Dazu Kafkas Worte: »In dieser Stadt ist fortwährend früher noch kaum beginnender Morgen, der Himmel ein ebenmäßiges, kaum sich lichtendes Grau, die Straßen leer, rein und still, irgendwo bewegt sich langsam ein Fensterflügel der nicht befestigt worden ist, irgendwo wehn die Enden eines Tuches, das über ein Balkongeländer in einem letzten Stockwerk gelegt ist, irgendwo flattert leicht ein Vorhang in einem offenen Fenster, sonst gibt es keine Bewegung.«

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Morgendlicher Blick von der Schlosstreppe auf die Stadt
Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Morgendlicher Blick von der Schlosstreppe auf die Stadt

Oder ein anderes Beispiel. Wir sehen ein nächtliches Fenster; im Licht einer Lampe, die auf dem Fensterbrett steht, ist ein alter Fensterrahmen zu erkennen, abgebröckelter Putz gerade noch im Schatten sichtbar, der Rest verschwindet im Dunkeln. Dazu Kafka: »Es ist ja Mitternacht, aber das ist, da ich sehr gut ausgeschlafen bin, nur insoferne Entschuldigung als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte. Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen, die letzten Augenblicke des Wachseins – sie geben mir das Recht zu schreiben und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benütze ich eilig. Das bin ich also.«

Und als auf dem einen Bild die Karlsbrücke zwischen Nebelschwaden auftaucht, die aus der Moldau aufsteigen, während darüber der Hradschin im Dunst zu sehen ist, steht darunter der Satz: »Die Strömung, gegen die man schwimmt ist so rasend, daß man in einer gewissen Zerstreutheit manchmal verzweifelt ist über die öde Ruhe, inmitten welcher man plätschert, so unendlich weit nämlich ist man in einem Augenblick des Versagens zurückgetrieben worden.« Ein Eintrag aus Kafkas Tagebüchern, geschrieben 1920.  

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Blick über die Moldau zur Prager Burg
Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos | Blick über die Moldau zur Prager Burg

Lange saß ich vor den perfekten, grandios zusammengestellten Bild-Wort-Kombinationen des Buches, ließ sie auf mich wirken und nahm mir alle Zeit der Welt, um langsam, behutsam, geradezu vorsichtig Seite für Seite zu betrachten, mich mit Bildern und Texten zu beschäftigen. Und genau dies zeichnet das Werk aus: Es lädt ein zum Träumen, zum Abtauchen in die Gedankenwelt eines anderen; es führt uns durch die Straßen und Gassen einer scheinbar leeren Stadt, es macht aus uns Betrachtern ebenfalls Flaneure. Flaneure der Dämmerung. 

Gleichzeitig schickte mich das Buch zurück in den Februar 1996, als ich selbst eine Woche in Prag verbrachte, die Kafka-Gesamtausgabe im Gepäck, nichts anderes machend, als in Cafés und Kneipen zu sitzen, um Kafka zu lesen. Und bis spätabends durch Stadt zu streifen. An einer anderen Stelle habe ich darüber geschrieben; es war eine der intensivsten und faszinierendsten Leseerfahrungen meines Lebens. Vergessen werde ich diese Woche nie, aber »Kafkas Kosmos« hat die Bilder dieser Tage erneut vor meinem inneren Auge vorbeiziehen lassen – genau so habe ich damals die Stadt erlebt. Denn Kafka ist Prag und Prag ist Kafka.

Der Band von Helmut Schlaiß ist das großartige Ergebnis eines ambitionierten Photoprojekts. Schlägt man das Buch am Ende zu, hat man das Gefühl, mit Franz Kafka Zwiesprache gehalten zu haben. Und die Stimmung, die die Photos gemeinsam mit den Texten vermitteln, bleibt noch lange im Raum.

Und im Kopf.

Und im Herzen. 

Noch ein Kafka-Zitat zum Ende des Blogbeitrags? 

»Es gibt nur ein Ziel, keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern.« Passend dazu das Photo einer Treppe auf dem Hradschin, die im Schatten liegt, aber ins Licht führt. 

#KaffeehaussitzersKafkaJahr

Buchinformation
Helmut Schlaiß, Kafkas Kosmos
Manesse Verlag
ISBN 978-3-7175-2548-6

#SupportYourLocalBookstore

4 Antworten auf „Flaneur der Dämmerung“

  1. Vielen Dank für dies vorgestellte Foto-Text-Album, gewürzt mit Deinen eigenen Betrachtungen und Erinnerungen.
    Die aktuelle ARD-Serie Kafka fand ich eindrucksvoll; sie erinnerte mich an die früheren Lektüren und zeigte weitere Aspekte auf. Schauen wir die darin aufgeführte Familienkonstellation am Esstisch an.
    Der despotische oder tyrannische Vater möchte den Sohn an sein Geschäft binden. Der geht zur Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, die ihn nicht nur an den Arbeitsort Prag bindet, sondern ihm auch reichlichen Schreibstoff zu Bürokratie und Juristerei sowie diverses Nachtleben bietet.
    Insofern die Stadt Prag Kafka mit „mütterlichen Krallen“ festhalten mag, dürfte dies auch mit der Mutter zu tun haben, die ihre Familie zusammenhält und dazu den Sohn braucht.
    Auch die Schwestern mögen ihren Bruder behalten, und eine arrangiert die Geschäftsführung einer Asbest-Fabrik.
    Wie sich Kafka in und aus dieser Lage als Autor und Person entwickelt und befreit …
    Den Kino-Film hab‘ ich noch vor mir.
    Nachlesen, Wiederlesen, die Zeichnungen anschauen.
    Kafkalike Grüße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert