Lesend durch die Cafés der Stadt

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Manchmal, nicht sehr oft, gönne ich mir etwas Auszeit und ziehe einen Tag lang von Café zu Café. Mit einem Buch als Begleiter. Einen Tag lang lesen, schauen, sitzen, schlendern, lesen, schauen, lesen, lesen – es sind intensive Lektüreerlebnisse. Bei der letzten Kaffeehaustour, wie ich diese Tage hier im Blog nenne, war ich in Berlin unterwegs. Und mit dabei hatte ich das Buch »Die einsame Stadt« von Olivia Laing. »Vom Abenteuer des Alleinseins« lautet der Untertitel; perfekt passend für einen Leser alleine im Café, dachte ich. Und wurde nicht enttäuscht. Olivia Laing schickte mich auf eine inspirierende Reise durch die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Und durch die Straßen New Yorks, gleichzeitig schillernde Kulisse und Hauptprotagonistin des Buches.

Olivia Laing: Die einsame Stadt.

Den Beginn las ich im »Spreegold«, einem schmucklosen, funktionalen Café-Restaurant in der Rosa-Luxemburg-Straße, das darauf ausgerichtet ist, die zahlreichen Touristen aus aller Welt zu versorgen, die durch Berlin-Mitte ziehen. Es regnete, der Blick aus dem Fenster war auf eine urbane Weise trostlos schön. Olivia Laing schreibt: 

»Stellen Sie sich vor, Sie stehen abends am Fenster, in der sechsten, siebzehnten oder dreiundvierzigsten Etage eines Hauses. Die Stadt entpuppt sich als eine Anhäufung von Zellen, hunderttausend Fenster, einige verdunkelt, andere geflutet von grünem, weißem oder goldenem Licht. Hinter dem Glas schwimmen Fremde hin und her, gehen Privatbeschäftigungen nach. Sie sind deutlich zu sehen und sind doch unerreichbar, und so verursacht dieses ganz alltägliche urbane Phänomen, das sich jeden Abend in jeder Stadt der Welt erleben lässt, selbst den geselligsten unter den Menschen einen Schauder der Einsamkeit, jener unguten Mischung aus Vereinzelung und Ausgesetztheit.«

Und weiter: »Einsam sein kann man überall, doch die Art von Einsamkeit, die dem Leben der Stadt entspringt, inmitten von Millionen, ist eine Sache für sich.«

Ein starker Buchbeginn und Olivia Laing weiß, worüber sie redet. Sie war der Liebe wegen von England nach New York gezogen – und merkte nach kürzester Zeit, dass jene Liebe nicht mehr existierte, als sie dort ankam. Dann saß sie dort fest, pleite, entwurzelt. Und allein. Oder vielmehr einsam, der Unterschied zwischen diesen beiden Worten kann entscheidend sein. Denn wenn ich alleine einen Tag durch Cafés ziehe, dann kann ich dies vor allem deshalb genießen, weil ich dieses Alleinsein selbst gewählt habe. Hätte ich diese Wahl nicht, dann würde ich nicht alleine in Cafés sitzen, sondern einsam. Vor vielen Jahren habe ich mich bei einem knapp einwöchigen Kafka-Leseexperiment in Prag absolut verlassen gefühlt, aber das ist eine andere Geschichte. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich bereits bei der nächsten Station angekommen war, dem Café Bilderbuch in Berlin-Schöneberg. Ein Ort zum Wohlfühlen, zum Verweilen, zum Menschen beobachten und – natürlich – zum Lesen. 

Berlin-Schoeneberg: Cafe Bilderbuch

Olivia Laing beschreibt, wie erdrückend und deprimierend ihre Einsamkeit inmitten der pulsierenden Stadt war. Wie oft sie sich ausgeschlossen, fehl am Platz, an den Rand gedrängt fühlte. Wie ihre kaum vorhandenen sozialen Kontakte immer weniger wurden, sie sich immer mehr in sich selbst zurückzuziehen begann. Ihre Wohnungen zur Zwischenmiete immer schäbiger wurden. Und wie sie physische Veränderungen an sich beobachtete, ausgelöst durch das permanente Alleinsein.

»Ich wollte überall sein, nur nicht da, wo ich war. Was nicht zuletzt daran lag, dass ich im Grunde nirgends war. Mein Leben schien leer und irreal, und ich schämte mich seiner Armseligkeit, so wie man sich schämt, wenn man ein fleckiges oder zerschlissenes Kleidungsstück trägt.«

Berlin-Schoeneberg: Cafe Bilderbuch

Die Personen in Edward Hoppers Bildern

Sie beginnt, sich in den Personen in den Bildern von Edward Hopper wiederzuerkennen, der es wie kaum ein anderer Maler geschafft hat, das Gefühl der Einsamkeit auf der Leinwand festzuhalten. Laing nennt ein Beispiel nach dem anderen, beschreibt die melancholische Tristesse der Bilder »Automat«, »Morning Sun«, »Hotel Window« oder »New York Movie« – so gelungen, dass ich gar nicht anders konnte, als mir die Bilder direkt auf dem Smartphone anzuschauen.

Und sie schreibt über ihren Besuch einer Hopper-Ausstellung im New Yorker Whitney Museum, um dort die Ikone der Bild gewordenen Einsamkeit zu besichtigen: »Nighthawks«, ein Gemälde, das in der westlichen Welt wohl fast jedem Menschen bekannt sein dürfte. Doch die Erfahrung, es einmal in natura zu sehen, muss phänomenal sein – zumindest wäre ich nach der mehrere Seiten langen Schilderung am liebsten sofort in ein Flugzeug gestiegen, um selbst einmal vor der fast greifbaren Traurigkeit zu stehen, die dieses großartige Bild ausstrahlt. 

Laing beginnt, sich mit Edward Hoppers Leben zu beschäftigen, auch mit seinen düsteren Seiten, mit seinem Schaffen, seiner Art zu malen, taucht tief ein in seine Kunst, versucht herauszufinden, warum das Thema Einsamkeit sein gesamtes Werk prägt. In seinen unzähligen Wiederholungen findet sie etwas Tröstliches: »Obwohl sie ein Gefühl völliger Isolation mit sich bringt, eine persönliche Last, die einem niemand abnehmen und die man mit niemandem teilen kann, ist Einsamkeit in Wahrheit ein gemeinschaftlicher Zustand, in dem sich viele Menschen befinden.«

Berlin-Steglitz: Cafe Baier

Das Buchprojekt

Und sie beschließt, sich mit weiteren Künstlern auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben; Künstlern, deren Werke geprägt sind vom Gefühl des Alleinseins, der Ausgrenzung, des Nichtdazugehörens, einer unüberwindbaren Mauer der Einsamkeit. Es ist ein Projekt, das ihr einen Weg aus ihrer Antriebslosigkeit aufzeigen wird, die das Alleinsein ausgelöst hat. Ein Projekt, an dessen Ende das vorliegende Buch steht. Und so bin ich in den kommenden Kapiteln Andy Warhol, David Wojnarowicz, Klaus Nomi und Henry Darger begegnet. Aber da war ich schon weitergezogen nach Berlin-Steglitz ins Café Baier, einem Ort, an dem man noch den Charme des alten West-Berlins erahnen kann, weit weg von den Touristenmassen in Mitte.  

Die Recherche zu diesem Buch hat Olivia Laing durch Museen, Archive und Bibliotheken geführt, kreuz und quer durch New York. Sie beschreibt die Technikfixiertheit Andy Warhols, die er nutzte, um andere Menschen auf Abstand zu halten – obwohl es ihm für sein Schaffen eine Notwendigkeit war, sich mit ihnen zu umgeben; mit Bekannten und Fremden, sein Studio war immer offen. Doch trotz seiner Popularität war Warhol, einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, zutiefst einsam. Laing beschreibt, wie dies sein Schaffen – und seine Auftritte – prägte.

Berlin-Steglitz: Cafe Baier

Sie beschreibt das kurze, aber heftige und intensive Leben von David Wojnarowicz, dessen Aufwachsen geprägt war von sexueller Ausbeutung, Gewalterfahrungen und permanenten Ausgrenzungserlebnissen aufgrund seiner Homosexualität – das Kapitel über ihn ist ein Blick in einen tiefen Abgrund voller Trostlosigkeit. Seiner Kunst hatte er es zu verdanken, dass ihn dieser Abgrund nicht völlig verschlang. Zugleich beschreibt Laing auf eine sehr beeindruckende Weise die subkulturelle Szene im New York der Siebziger- und beginnenden Achtzigerjahre, deren Hotspot das East Village und die heruntergekommene Hafengegend der Chelsea Piers war. Mit Wojnarowicz als einem der wichtigsten Künstler und Aktivisten jener kurzen Zeit. 1992 starb er an AIDS, er wurde 37 Jahre alt.

Sie beschreibt das Leben von Klaus Nomi, dessen einzigartiger Stil ihn zu einem Ausnahmemusiker in der New-Wave-Szene der Achtziger machte. Wobei die Genrezuordnung ihm nicht gerecht wird, er war unvergleichbar. Es muss 1987 oder 1988 gewesen sein, als mir eine Brieffreundin aus Österreich eine Kassette mit zweien seiner Alben schickte (viele Grüße, liebe Moni, falls Du das durch irgendeinen Zufall lesen solltest – wo immer Du sein magst). Ich wusste damals nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebte, er starb 1983 ebenfalls an AIDS und war eines der ersten prominenten Opfer dieser damals neuartigen Krankheit, die sich rasend schnell auszubreiten begann. Ich muss gestehen, dass ich mit seiner Musik nicht viel anfangen konnte, als ich mir die Kassette anhörte – doch als ich in diesem Buch nach so vielen Jahren wieder auf seinen Namen stieß und über die Hintergründe seines Schaffens, seiner Auftritte als Kunstfigur im Kontext seiner Lebenserfahrungen las – das war ein besonderer Moment. 

Berlin-Steglitz: Erker im Cafe Baier

Inzwischen war ich im nächsten Café angekommen, in der Buchkantine in Berlin-Moabit. Und bei Henry Darger, einem Menschen, der so einsam war, dass man es sich kaum vorstellen kann. Der jahrzehntelang als Hausmeister an einer Schule in Chicago arbeitete, jahrzehntelang in der gleichen, kleinen Wohnung lebte, keinerlei sozialen Kontakte hatte und durch die permanente Erfahrung gnadenlosen Alleinseins in eine Phantasiewelt abdriftete. Und – ohne dass jemals ein Mensch von seinem Talent erfahren hatte – nicht nur unzählige Bilder und Zeichnungen hinterließ, sondern ein 15.145 Seiten umfassendes Romanfragment – das längste Prosawerk der Welt. Texte und Bilder geben Einblick in die Gedanken eines vollkommen isolierten Menschen, der inmitten einer Millionenstadt in seiner eigenen – sehr dunklen – Welt lebte. 

Berlin-Steglitz: Zeitungen im Cafe Baier

Dieser grobe Überblick über den Inhalt des Buches berücksichtigt nicht die unzähligen Verästelungen und wunderbaren Abschweifungen, die Olivia Laing – ausgehend von den vier genannten Künstlern – in ihren Text eingebaut hat. Dazu beschreibt sie immer wieder die eigenen Erfahrungen mit ihrer Einsamkeit, streut wissenschaftliche Zitate über die Erforschung des Alleinseins und dessen Folgen für die Betroffenen ein, aber schreibt auch über das pulsierende Leben New Yorks und ihre Arbeit an dem Buch. Entstanden ist ein nachdenkliches, ein intensives, ein hochinformatives, ein erschreckendes, ein tröstliches, ein sehr persönliches, kurz: ein rundum gelungenes Werk.

Ausklang

Mein Tag in Berlin war aber noch nicht zu Ende, er ging direkt über in die lange Nacht der Museen. Ich ließ mich durch die Straßen treiben, saß später mit einem Bier irgendwo auf der Museumsinsel und beobachtete die zahllosen flanierenden Menschen. Und dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass nicht wenige alleine unterwegs waren. So wie ich an diesem Abend. 

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Buchinformation
Olivia Laing, Die einsame Stadt – Vom Abenteuer des Alleinseins
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
btb Verlag
ISBN 978-3-442-76232-3

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An der Schwelle einer neuen Zeit

Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen

Reise in den Wahn

Hari Kunzru: Red Pill

Es war ein Leseerlebnis, wie es nicht allzu oft vorkommt. Der Liebeskind Verlag hatte mir den Roman »Red Pill« von Hari Kunzru zugeschickt, dessen »White Tears« für mich eines der besten Bücher der letzten Jahre war. Umso gespannter war ich auf das neue Werk – und direkt die ersten Sätze haben mich so tief getroffen, dass ich sprachlos vor dem aufgeschlagenen Buch saß und dachte, genau, ganz genau so ist es. Hari Kunzru ist 1969 geboren und damit der gleiche Jahrgang wie ich. In »Red Pill« schreibt er aus der Sicht eines Fünfzigjährigen darüber, wie es sich anfühlt, wenn man zu ersten Mal bemerkt, dass einen das Älterwerden nun doch eingeholt hat, auch wenn man es lange nicht wahrhaben wollte. Es sind lediglich ein paar Sätze, doch sie bringen dieses Gefühl absolut treffend auf den Punkt. Und man sitzt da und liest Gedanken, die einen selbst bewegen, die einen schon seit einiger Zeit nicht mehr loslassen, die man aber bisher nicht in Worte fassen konnte. Jedenfalls nicht so elegant. Hier sind sie, in der Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence: „Reise in den Wahn“ weiterlesen

Eine Feier der Planlosigkeit

Seit vielen Jahren begleitet mich Sven Regeners Romanheld Frank Lehmann. Angefangen hat alles mit einem Päckchen: Im Frühjahr 2001 schickte mir eine Bekannte, die zu dieser Zeit als Volontärin beim Eichborn Verlag arbeitete, »Herr Lehmann« zu – mit den Worten, dies könne ein Buch für mich sein. Sie wusste nicht, wie recht sie damit haben würde, denn nie zuvor und nie danach habe ich mich so in einer Romanfigur wiedergefunden. Und es ist inzwischen eine liebgewordene Tradition, dass ich »Herr Lehmann« jedes Jahr lese; das zwanzigste Mal steht jetzt bevor und bei jedem Wiederlesen fühlt es sich an, als würde ich einem alten Freund begegnen. Natürlich ist es auch das allererste Buch, das ich hier im Blog vorgestellt habe, nicht ahnend, dass mich wiederum das Bloggen ein paar Jahre später zu einem neuen Job führen sollte. Genauer gesagt zum Eichborn Verlag, der allerdings nur noch den Namen mit dem früheren Unternehmen gemein hat; bei dem aber »Herr Lehmann« immer noch in der gebundenen Ausgabe erhältlich ist, auch wenn der Autor inzwischen beim Galiani Verlag veröffentlicht. 

Sven Regener beließ es nicht bei einem einzigen Roman. Nach und nach erschienen weitere Geschichten aus der Welt des Frank Lehmann, allesamt bevölkert mit wunderbar schrägen Gestalten, die eines einte: Irgendwie stolperten sie ziemlich planlos durch ihre Leben. Und es ist genau diese geschilderte Planlosigkeit, die ich an den Lehmann-Geschichten so liebe; verbunden mit einer In-den-Tag-hineinleben-Haltung, die in unseren Zeiten der Selbstoptimierung schon fast revolutionär wirkt. Das Erscheinen von »Glitterschnitter«, seines sechsten Romans, nehme ich als Anlass, um die Frank-Lehmann-Welt in ihrer Gesamtheit vorzustellen und mir Gedanken darüber zu machen, was genau mich daran so fasziniert. Hier kommen die Romane in der Reihenfolge ihres Erscheinens. „Eine Feier der Planlosigkeit“ weiterlesen

Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*

Ueber Gentrifizierung: Textstelle aus »Der Sollist« von Jan Seghers

»Als Gentrifizierung bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter und deren anschließenden Zuzug. Damit verbunden ist der Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen.« Diese dürre Wikipedia-Definition beschreibt eines der größten Probleme unseres Wohnungsmarktes, bei dem es nicht nur um bezahlbaren Wohnraum, sondern um eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft geht. „Über Gentrifizierung. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Wem gehört die Stadt?

Eva Ladipo: Raeuber

Eine marode Sozialbausiedlung steht im Zentrum des Romans »Räuber« von Eva Ladipo. Aber natürlich geht es um viel mehr; die Überschrift, die ich mir von der Rückseite des Buches geliehen habe, sagt es schon: Die Frage, wie wir in den Städten leben wollen oder vielmehr können – sie ist für viele Menschen existenziell geworden. Und zwar nicht erst, seit Wohnungen zu reinen Spekulations- und Investitionsobjekten verkommen sind; diese Entwicklung hat schon viel früher eingesetzt. Nur haben diejenigen, die bereits seit Jahren von der Gentrifizierung vor sich hergetrieben werden, keine Lobby, keine Stimme und meist keine Kraft, sich zu wehren. Und sie stehen nun mit dem Rücken an der Wand. Solche sozialen Verwerfungen gibt es in vielen Großstädten, aber in Berlin sind sie besonders drastisch. Die fiktive Sozialbausiedlung in diesem Buch symbolisiert stellvertretend die Veränderungen in der Stadt. Ebenso wie die drei Protagonisten der Handlung, die aus unterschiedlichen Perspektiven mit den geschilderten Entwicklungen zu tun haben. „Wem gehört die Stadt?“ weiterlesen

Der Weg in die Dunkelheit

Volker Kutscher: Olympia

Im Jahr 2007 startete Volker Kutscher seine Buchreihe um den Kommissar Gereon Rath, den es 1929 von Köln nach Berlin verschlägt und der dort den Weg in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« miterleben wird. Ich weiß noch, wie ich den ersten Band – »Der nasse Fisch« – zum ersten Mal sah und durch das Buchcover sofort meine Neugier geweckt wurde: Eine Straßenszene aus den Zwanzigerjahren, eine Limousine, die am Bürgersteig parkt und von Kindern bewundert wird, daneben eine Litfaßsäule, die wie eine Reminiszenz an »Emil und die Detektive« wirkt. Seitdem begleite ich Gereon Rath und Charlotte Ritter auf ihrem Weg durch die immer finsterer werdende Geschichte und auch dreizehn Jahre später ist meine Begeisterung für diese Reihe ungebrochen; der im November 2020 erschienene achte Band »Olympia« spielt im Jahr 1936. Und Gereon Rath ist inzwischen ein desillusionierter Polizist, der sich Gedanken macht über den Sinn von Mordermittlungen in einem Land, das von Mördern regiert wird. „Der Weg in die Dunkelheit“ weiterlesen

Gespiegelte Verzweiflung

Christian Torkler: Der Platz an der Sonne

Mit Sätzen wie »dieses Buch sollte jeder lesen« bin ich immer etwas vorsichtig, denn zu unterschiedlich sind die Lesevorlieben der Menschen. Dem Roman »Der Platz an der Sonne« von Christian Torkler wünsche ich allerdings so viele Leser wie möglich, denn er ist für mich eines der wichtigsten Bücher für die Zeit, in der wir gerade leben. Es geht darin um Flucht und Migration, aber auf eine Art und Weise, die uns dieses emotional aufgeladene Thema vollkommen anders nahebringt als gewohnt. Und das mit einem ganz einfachen Trick: Torkler vertauscht den Blickwinkel. Wobei »einfach« das falsche Wort ist, denn der Autor hat eine vollkommen neue Welt erschaffen, ausgefüllt mit zahllosen Details, die das Geschehen so wahrheitsgetreu und realistisch wie möglich machen. „Gespiegelte Verzweiflung“ weiterlesen

Ungläubiges Staunen

Berlin Heartbeats

Es war auf der Leipziger Buchmesse 2015, als ich zum ersten Mal viele meiner Bloggerkollegen im echten Leben getroffen habe. Als Tobias Nazemi vom Blog buchrevier hörte, dass ich in Köln lebe, meinte er »Echt? Ich hätte dich eher in Berlin verortet.« Meine spontane Antwort: »Ich mich auch.« Und genau so ist ist es. Berlin ist die Stadtliebe meines Lebens – obwohl oder vielleicht gerade weil der Kontakt zu dieser Stadt über all die Jahrzehnte nie ein dauerhafter war. Aber die dort verbrachten Wochen und Monate während der Neunziger gehören zu meinen prägendsten Erinnerungen.

Deshalb konnte ich an dem Buch »Berlin Heartbeats« auf keinen Fall vorbeigehen. Darin sind Texte und Bilder versammelt, die Geschichten aus jenem Berlin der Neunzigerjahre erzählen; Geschichten aus einer Zeit des Umbruchs, als alles offen und möglich schien, als Berlin ein einziges großes Experimentierfeld der urbanen Moderne war. Eine Zeit, in der ich diese Stadt während unzähliger, teils mehrmonatiger Besuche kennen- und liebengelernt habe. Sich durch Berlin treiben zu lassen hatte für mich in dieser Zeit stets etwas Inspirierendes, etwas Belebendes, aber auch etwas vage Vertrautes – vielleicht sind es die Gene meiner Familie; meine Großmutter verbrachte die gesamten Zwanzigerjahre in dieser Stadt. Und auch wenn ich heute dort aus dem Zug steige, fühle ich mich auf eine unbestimmte Art und Weise zuhause.

Aber es soll ja eigentlich um das Buch gehen. „Ungläubiges Staunen“ weiterlesen

Graphic-Novel-Werkstattbericht

Arne Jysch und Volker Kutscher: Der nasse Fisch - Graphic Novel

Es ist noch nicht so lange her, seit ich Graphic Novels als Literatur- und Kunstform für mich entdeckt habe. Gleichzeitig bin ich begeisterter Leser der Krimireihe rund um den Ermittler Gereon Rath. Wenn dann der erste Band dieser Reihe – »Der nasse Fisch« – als Graphic Novel erscheint und wenn Zeichner und Romanautor gemeinsam das Werk im Kölner Literaturhaus vorstellen – dann ist ja klar, dass ich mir diesen Abend auf keinen Fall entgehen lassen konnte. Und jede Minute hat sich gelohnt; es war eine ungemein spannende Veranstaltung, die den zahlreich erschienenen Zuhörern und Zuschauern die Entstehung einer Graphic Novel auf eine beeindruckende Art näher gebracht hat. „Graphic-Novel-Werkstattbericht“ weiterlesen

Im Dunkeln

Andreas Pflüger: Endgueltig

Um gleich einmal mit der Tür in Haus zu fallen: »Endgültig« von Andreas Pflüger ist einer der besten deutschen Kriminalromane, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Punkt.

Wer es etwas ausführlicher mag: Es liegt nicht nur an dem spannenden und vor allem temporeichen Plot, dem man mit seiner gekonnten Verdichtung die jahrelange Erfahrung des Schriftstellers als Drehbuchautor anmerkt. Es ist vor allem die Protagonistin Jenny Aaron, Mitglied einer Eliteeinheit der Polizei,  die mich sehr beeindruckt hat. Andreas Pflüger hat mit ihr eine starke Figur geschaffen, hart im Nehmen und gleichzeitig am Rande der Verzweiflung stehend. Denn sie ist blind. Oder vielmehr, sie wird es bei einem fehlgeschlagenen Einsatz, mit dem der Roman beginnt. „Im Dunkeln“ weiterlesen

Ermittler mit Scheuklappen

Volker Kutscher: Lunapark - Gereon Raths sechster Fall

Es gibt wenig Bücher, in denen Zeitgeschichte so lebendig wird, wie in der Buchreihe um den Ermittler Gereon Rath. Ich mag diese Reihe sehr und habe mich bereits mehrmals auf Kaffeehaussitzer damit beschäftigt. Sie ist ein spannendes und faszinierendes Projekt, denn der Autor Volker Kutscher schafft es darin, die verhängnisvollsten Jahre in der deutschen Geschichte am Beispiel seiner Protagonisten zu erzählen. Gemeinsam mit Gereon Rath erleben wir das Ende der Weimarer Republik und den Weg in die Dunkelheit der Nazi-Diktatur. Und das alles verpackt als spannende Kriminalfälle mit akribisch recherchiertem historischen Hintergrund. Der Roman »Lunapark« spielt im Jahr 1934 und ist der sechste Band der Reihe; die Nationalsozialisten sind dabei ihre Macht weiter zu festigen, die SA terrorisiert die Bevölkerung, das Bürgertum – ursprünglich froh, der kommunistischen Gefahr Herr geworden zu sein – beginnt zu realisieren, auf was für eine Art Staat Deutschland unaufhaltsam zusteuert. „Ermittler mit Scheuklappen“ weiterlesen

Ein Jahr am Abgrund

Benedict Wells: Spinner

»Spinner« ist ein früher Roman von Benedict Wells, den er jetzt, sieben Jahre nach Erscheinen, noch einmal überarbeitet hat. Das machte mich neugierig, denn es kommt selten vor, dass ein heutiger Autor ein Buch noch einmal in einer neuen Version veröffentlicht. Also habe ich es gekauft. Angefangen es zu lesen. Nicht mehr damit aufgehört, bis die letzte Seite umgeblättert war. Es hat mich umgehauen. Dabei ist die Handlung an sich schon beinahe banal: Ein junger Mann irrt durch Berlin auf der Suche nach dem Sinn in seinem Leben. Schon tausend Mal gelesen. Aber niemals so. Denn es waren unzählige Sätze und Gedanken in diesem Buch, die mich auf eine Reise zu einem anderen Ich aus einer längst vergangenen Zeit geschickt haben; eine Zeit, lange her, die ich schon beinahe vergessen hatte, die mich aber geprägt hat bis heute. Es wird also gleich mal wieder etwas persönlicher, nur zur Vorwarnung. „Ein Jahr am Abgrund“ weiterlesen

Die lange Nacht der Buchregale

Fischer TOR

Die Buchbranche ist eine überschaubare Welt und es ist an sich nichts Ungewöhnliches, Personen, Gesichtern oder Namen bei unterschiedlichen Gelegenheiten ein zweites oder drittes Mal zu begegnen. Als ich aber kürzlich Post im Briefkasten hatte, schloss sich der Kreis zu einem Abend, der schon lange zurückliegt, den ich aber noch gut in Erinnerung habe. Es würde mir aber auch schwerfallen, solch einen Abend, solch eine Büchernacht zu vergessen. Doch der Reihe nach. „Die lange Nacht der Buchregale“ weiterlesen

Ein Tag bei Suhrkamp

Ein Tag bei Suhrkamp: Bloggertreffen beim Suhrkamp Verlag

#eintagbeisuhrkamp – so der Hashtag – begann schon am Vorabend. Genauer gesagt, am Abend des 19. Mai 2016 auf dem Platz vor dem Deutschen Theater in Berlin. Von allen Seiten tauchten vertraute Gesichter auf, fünfzehn Literaturblogger hatte der Suhrkamp Verlag nach Berlin geladen. Die meisten davon kannten einander bereits persönlich, es gab Umarmungen zur Begrüßung, Schulterklopfen, Lachen. Dann startete auch gleich das Programm, das Demian Sant’Unione, bei Suhrkamp für Online-Marketing und Bloggerkontakte zuständig, für uns vorbereitet hatte. Mit einem Theaterbesuch. „Ein Tag bei Suhrkamp“ weiterlesen

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