Nie wieder ist jetzt

Nie wieder ist jetzt.

In den letzten Wochen war es sehr ruhig hier im Blog Kaffeehaussitzer. Ein einziger Beitrag ist im Oktober erschienen; dies auch nur, weil ich ihn schon weitgehend vorbereitet hatte. Dabei ist es nicht so, dass mir die Ideen ausgegangen sind, eher im Gegenteil – es warten noch dutzende gelesene Bücher darauf, vorgestellt zu werden. Nein, es sind die furchtbaren Ereignisse des 7. Oktober 2023 und deren Folgen, die meine Gedanken so beschäftigt haben, dass ich den Blogalltag nicht einfach fortsetzen konnte; so, als sei alles wie immer. Es sind Gedanken voller Entsetzen, voller Wut und voller Fassungslosigkeit, und seit jenem verheerenden Tag suche ich die Worte, um ihnen hier Ausdruck zu verleihen.

Worte, die das Entsetzen über die Taten der Hamas-Terroristen beschreiben, das mit jedem veröffentlichten Detail größer wurde. Das Entsetzen über Taten, die nichts Menschliches mehr an sich haben, als wären die Mörder direkt aus der Hölle gekommen – in deren tiefsten Abgründen für sie ein Raum reserviert sein wird. 

Worte, die die Wut über diejenigen beschreiben, die jene Taten bejubeln. Diejenigen, die ihrem hasserfüllten Antisemitismus freien Lauf lassen – auf unseren Straßen, auf unseren Plätzen. Die ihre Fahnen schwenken, die in unseren Städten jüdische Menschen anpöbeln, jüdische Einrichtungen bedrohen, Davidsterne an die Häuser jüdischer Familien schmieren. Und die nicht verstehen wollen oder mangels Bildung nicht verstehen können, dass die Hamas der wahre Feind des palästinensischen Volkes ist. Denn die Terrortruppe kann ihren Opferstatus nur aufrechterhalten, wenn sie auf perfide Weise dafür sorgt, dass es genügend zivile Tote auf palästinensischer Seite gibt – indem sie sich in und unter Wohngebäuden, Krankenhäusern oder Schulen verschanzt. Und was das Thema Bildung angeht, hat es der Autor und Journalist Hasnain Kazim auf den Punkt gebracht: »Wenn diejenigen, die derzeit weltweit und vor allem in westlichen Städten ›Allahu Akbar!‹ schreien und Glaubensbekenntnisse auf Bannern tragen, auch nur zehn Prozent dieses Eifers in ihre Bildung steckten (nicht in Koranschulen!), wäre ihnen und uns allen sehr geholfen.«

Und Worte, die meine Fassungslosigkeit über die vielen Menschen weltweit beschreiben, die ihren schon lange schwelenden Israelhass nun ganz offen zeigen. Viele davon aus dem Kulturbetrieb, die tatsächlich der Meinung sind, die Islamfaschisten der Hamas seien so etwas wie »Freiheitskämpfer«. Während Israel – die einzige Demokratie im Nahen Osten – seit seiner Staatsgründung um das Überleben kämpft, umgeben von mörderischen Nachbarn. Postkoloniale Linke, die mit vollkommener Empathielosigkeit über die mehr als 1.200 gefolterten, verstümmelten, vergewaltigten, massakrierten oder entführten Jüdinnen und Juden hinweggehen und die ungeheuerlichen Taten des Hamas-Abschaums schulterzuckend mit einem »Aber Israel« abtun. Doch nach dem 7. Oktober gibt es kein »Aber Israel«. Man kann zu Recht der Meinung sein, dass Benjamin Netanjahu mit seinen Korruptionsskandalen eher auf die Anklage- denn auf die Regierungsbank gehört. Man kann zu Recht das Vorgehen der militanten jüdischen Siedler im Westjordanland verurteilen. Man kann zu Recht auf die Komplexität der verfahrenen Situation in Palästina und auf das Leid der Menschen in Gaza hinweisen. Aber nichts von alldem, absolut nichts rechtfertigt die Taten des 7. Oktober. Und ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich all diejenigen verachte, die mit ihrem »Aber Israel« den Terror relativieren oder diejenigen, die sich mit ihren FreeGaza-Schildern zu nützlichen Idioten der Hamas machen. Schämt euch. FreeGazaFromHamas müsste die korrekte Formulierung lauten.

Auf der Suche nach einem Ausgang aus der Wortlosigkeit habe ich in den letzten Wochen unzählige Zeitungsartikel gelesen. Einige davon haben mir geholfen, meine Gedanken zu ordnen und die wichtigsten stelle ich hier vor.

Der Text »Was gesagt werden muss« von  Beatrice Frasl erschien am 27. Oktober 2023 in der Wiener Zeitung. Es sind harte Worte, es geht um das unfassbare Leid der Opfer der Terroristen, die in Israel wüteten, es geht um den weltweit eskalierenden Antisemitismus, es geht um das dröhnende Schweigen der ansonsten Dauerempörten – und sie treffen tief ins Mark. Es ist ein Text, den man so schnell nicht wieder vergisst. Bitte lest ihn. Und verbreitet ihn auf so vielen Kanälen wie möglich.

Ebenso emotional und aufwühlend ist der Text »In diesen Tagen« von Tania Martini, der am 17. Oktober 2023 in der taz veröffentlicht wurde. Sie schildert darin das Grauen der Hamas-Angriffe und schreibt: »Für das, was den israelischen Opfern angetan wurde, gibt es einen Begriff: Massaker. Doch während es immer mehr Beweise für diese an planvoller Grausamkeit nicht zu übertreffende Entmenschlichung gibt, schaffen es allzu viele, den Judenhass, der die Taten vom 7. Oktober leitete, nicht zu benennen, nicht zu verurteilen, woraus man nur folgern kann, dass in unseren hypermoralistischen Gesellschaften viele ihren moralischen Kompass völlig verloren haben.« 

Wenige Tage später, am 20. Oktober, greift Frederik Eikmanns ebenfalls in der taz dieses Thema noch einmal auf. Unter der Überschrift »Auf die Straße, jetzt« schreibt er: »Auch die postkoloniale Linke muss gegen den aufflammenden Antisemitismus aufstehen – will sie sich nicht mit Rechtsextremen gemeinmachen.« Das trifft es gut, denn manche sind schon so weit links abgebogen, dass sie rechts wieder herausgekommen sind. Und damit auf der falschen Seite der Geschichte stehen, auf der Seite des Bösen. 

Ähnlich leitet Thomas Assheuer seinen Artikel »Der kalte Blick des Postkolonialismus« ein, erschienen in der ZEIT am 31. Oktober 2023: »Viele Linke reagieren mitleidlos auf die israelischen Opfer der Hamas-Barbarei. Denn sie übersehen, was die Terrorattacken im Kern sind: Ausdruck des radikalen Bösen.« Er beginnt mit dem Bericht über ein Statement der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz, die – erschüttert vom Verhalten ihrer linken Mitstreiter – in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hatte: »Wir, die Linken? Nicht mehr«

Und noch zwei Beiträge aus der taz. Überhaupt sei deren gesamte Berichterstattung über den Nahost-Konflikt empfohlen; mit höchster journalistischer Sorgfalt werden die unterschiedlichsten Facetten ausgeleuchtet. Der Text »Es geht ums Überleben« von Miriam Dagan beschreibt treffend die Fragilität von Israels Existenz und sein Recht auf Verteidigung gegen einen Todfeind. Der andere Text stammt vom 10. Mai dieses Jahres, er erschien anlässlich des 75jährigen Jahretags von Israels Staatsgründung. Unter der Überschrift »Judenhass, älter als der Holocaust« schildert Stephan Grigat die Dramatik des Jahres 1948. Eine wichtige Stelle in dem Artikel – den ich ebenfalls so vielen Menschen wie möglich ans Herz legen möchte – lautet: 

»Seit der Gründung Israels, die 1948 nicht nur von den USA und vielen westlichen Staaten, sondern auch von der Sowjetunion unterstützt wurde, ist der Staat nicht nur mit Vernichtungsdrohungen konfrontiert, sondern mit handfesten Vernichtungsversuchen. Der erste begann unmittelbar nach der Ausrufung des Staates im Mai 1948. Dem vorausgegangen war ein Bürger­krieg im Mandatsgebiet, der nach Verkündigung des UN-Teilungsplans von arabischer Seite losgetreten worden war. Der UN-Plan sah auf 56 ­Prozent des nach der Abspaltung ­Jordaniens vom Mandatsgebiet Palästina verbliebenen Territoriums einen jüdischen und auf 43 Prozent einen ­arabischen Staat vor. Jerusalem sollte als ›internationale Zone‹ verwaltet ­werden. Der Plan wurde vom Jishuw, der prästaatlichen jüdischen Gemeinschaft im Mandatsgebiet, schweren Herzens akzeptiert; von arabischer Seite gab es jedoch ein eindeutiges Nein, das die Politik der arabischen Staaten die nächsten Jahrzehnte prägen sollte. Hätten die arabischen Führungen den Teilungsplan von 1947 befürwortet oder zumindest als Grundlage für einen auszuhandelnden anderen Teilungs­modus akzeptiert, gäbe es bereits seit 75 Jahren einen palästinensischen Staat an der Seite Israels.«

Damals hätte es enden können. Doch die Gewalt dauert an bis heute und ein Ende ist nicht abzusehen.  

Die österreichische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinik schreibt auf ihrer Autorinnen-Website: »Diese bedingungslose Zerstörungswut einer Terrorbande gegen einen, den einzigen demokratischen Staat in der Region, löscht nicht diesen angegriffenen Staat, sondern vielmehr seine Angreifer aus. Die Hamas hat sich mit diesem Verbrechen ein für allemal selbst zerstört. Die Geiselnahme auch der unschuldigen Palästinenser auf ihrem überfüllten Landstreifen, für deren Befreiung (auf Kosten der Zerstörung eines ganzen Landes) die Terroristen zu kämpfen behaupten, nimmt ihnen alles, was sie jemals erreichen könnten. (…) Eine Terrororganisation ist keine Angehörige der menschlichen Zivilisation.«

Zum Abschluss noch ein weiterer Blick in die Geschichte. Das Beitragsphoto wurde in Rom aufgenommen, genauer gesagt in Roms ehemaligen jüdischen Viertel. Dort lebten seit Jahrhunderten viele jüdische Familien – bis am frühen Morgen des 16. Oktober 1943 die Mörder in SS-Uniformen das Quartier umstellten und die Bewohner zur Deportation aus den Wohnungen trieben. Wenig später fuhren die Züge nach Auschwitz, nur 16 Menschen überlebten und kehrten nach Kriegsende zurück. Es ist eines der vielen Verbrechen, die in deutschem Namen geschehen sind – und man kann es nicht oft genug wiederholen: Wir, die wir im Heute leben, tragen keine Schuld daran. Aber wir haben die Verantwortung geerbt, dass sich dies niemals wiederholt. Nie wieder.

Nie wieder ist jetzt. 

#StandWithIsrael 

15 Antworten auf „Nie wieder ist jetzt“

  1. Danke, lieber Uwe. Ich habe deinen Artikel erst jetzt gelesen. Aber seit dem 7. Oktober vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dieses Vebrechen und das Leid denken muss. Ich teile deine Wut. LG

  2. Danke für diese starken und wichtigen Worte und dass du es geschafft hast, meine Gedanken in klare Worte zu fassen.

    Ich arbeite mit recht vielen Menschen mit arabischem Migrationshintergrund (teils erst seit ein paar Jahren in D, manche in 2. & 3. Generation) und die Kommentare, die ich hier hören musste, waren unter der Gürtellinie. Ich hab auch ganz klar Stellung bezogen, deinen Worten ähnlich, was nicht leicht war. Aber es musste sein!

    Der indoktrinierte Judenhass, besonders bei der 2. & 3. Generation, hat mich schockiert. Ganz furchtbar war der Kommentar „Aber ihr Deutschen wart doch nicht besser!“. Als ob die Geschichte unseres Landes die Taten der Hamas relativiert? Entsetzlich.

    1. Ja, diese Indoktrination und der über Generationen vererbte Antisemitismus ist unerträglich. Umso wichtiger ist Deine Stellungnahme bei der Arbeit – danke für den Kommentar.

  3. Hmmm, ich empfinde ich diesen Beitrag als einseitig. Noch ist mir „das Böse“ noch nie so subtil begegnet. Das Leid aller erscheint mir da eindrücklicher.

    1. Angesichts des Antisemitismus, der gerade weltweit aus seinen uralten Löchern kriecht, ist der Beitrag keinesfalls einseitig sondern notwendig. Über das Thema »Das Böse« kann man aber natürlich weiter nachdenken. Ein sehr lesenswerter Text mit dem Titel »Das Böse. Ein Blick in den Abgrund« ist kürzlich von Uriel Abulof veröffentlicht worden. Er ist Professor für Politikwissenschaft in Tel-Aviv und an der Cornell University. In der Einleitung heißt es: »Die Hamas ist eine terroristische Organisation, Netanjahu ein katastrophaler Politiker. Beide gaben dem Bösen Raum, was zum Massaker am 7. Oktober 2023 und zum darauffolgenden Krieg in Gaza führte. Doch was ist das Böse? Und wie kann man ihm begegnen?« Große Leseempfehlung.

      1. Danke, der Artikel ist spannend. Um ihn genau zu diskutieren müsste ich ihn mehrmals lesen. Darum nur meine ersten Gedanken dazu. An einigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass Krieg mit moralischen Argumenten legitimiert werden kann und wenn man dem nicht zustimmt führt dies auch wieder zu Krieg – Zitat: hoffnungsvolle Menschen sind nützliche Idioten für das Böse. Ich befürchte mich zu den Idioten zählen zu müssen. Es fehlt mir an starken Worten und ich hoffe jeden Tag auf die leise Kraft der Liebe.

        1. Ohne den erwähnten Artikel gelesen zu haben, möchte ich mich dennoch anschließen.
          Auch ich glaube jeden Moment an die leise und sehr starke Kraft der Liebe für Frieden, Wahrheit und Freiheit… Das finde ich sinnvoll und ich hoffe darauf, dass wir, die Menschheitsfamilie, fühlen, dass die gewollte Spaltung derselben dem Bösen dient und wir deshalb zur Einigkeit finden.
          Mein Mitgefühl gilt allen, die unter Gewalt und Krieg leiden. Ein Leid, welches ich mir kaum vorstellen kann. Mein Mitgefühl gilt auch jenen, die hassen und auf Rache sinnen.
          Ich sage „Nein“ zum Krieg und „Ja“ zum Frieden.

  4. Das sehe ich ganz genau so. Und schlimm vor allem das entsetzliche Schweigen all derer, die ansonsten so schnell vorne mit dabei sind. Wenn aber eine jüdische Frau wie Shani Louk derart brutal nicht nur mißbraucht, sondern auch sexuell erniedrigt und zur Schau gestellt wird und dabei Leute die Stokowski, Bücker, Kuhnke und wie sie alle in der Riege des intersektionalen Feminismus heißen, hier laut sehr laut schweigen, dann stimmt etwas nicht. Und in diesem Sinne fand ich den Text „Was gesagt werden muss“ von Beatrice Frasl sehr treffen. Und auch die anderen Texte treffen die Sache sehr genau.

  5. Danke für diesen Beitrag!

    Mir ging es im Oktober ebenso – eigentlich hätte ich über dieses oder jenes Buch bloggen wollen, aber ich konnte einfach nicht. Das Entsetzen über das Massaker und was darauf hin folgte, insbesondere die Reaktionen von Menschen, von denen ich diese Empathielosigkeit nie erwartet hätte, das lähmt. Einige der Artikel, die du erwähnst, habe ich bereits gelesen und insofern beruhigt, dass es auch diese anderen Stimmen gibt. Und dem Lob für die taz-Berichterstattung kann ich in dem Punkt nur zustimmen. Es ist so schwer, die passenden Worte zu finden, obwohl sie jetzt so wichtig sind – daher nochmals danke für diesen Beitrag.

  6. deine artikel sind immer einfach wichtig, erfreulich vielschichtig
    und tun mir gut.
    die welt ist im radikalen wandel & wenn das menschliche, friedliche,
    kulturelle dabei auf der strecke bleibt, geht sie unter oder mündet in
    einer tiefdüsteren horror-zukunft!

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