Eine Epoche der Bücher

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Seit Monaten lese ich in diesem Buch; den einen Abend ein, zwei Kapitel, den anderen Abend lediglich ein paar Seiten, immer mit großer Konzentration. Und es ist jedes Mal ein Genuss, denn stets schickt es mich auf eine Zeitreise in eine der faszinierendsten und spannendsten Epochen unserer Geschichte, lässt mich alte Texte entdecken, Zusammenhänge verstehen, das eigene Wissen vertiefen und ein Verständnis dafür entwickeln, wie gigantisch die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen jener Zeit waren, prägend für die Jahrhunderte danach. Und dazu ist dieses Buch ein gestalterisches Gesamtkunstwerk – die Rede ist von dem voluminösen Prachtband »Welt der Renaissance« von Tobias Roth.

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Die Renaissance war die Zeit des Aufbruchs in die Moderne, ausgelöst durch die verschiedensten Faktoren: Mehrere Pestwellen wirbeln die gesellschaftlichen Strukturen durcheinander, die Einführung der arabischen Ziffern lässt den Handel und das Bankwesen expandieren, Händlerdynastien werden mächtiger als alteingesessene Adelsfamilien, durch das Aufkommen des Schwarzpulvers und der Söldnerheere verändert sich das Kriegswesen und damit die Politik. Und zwei weitere Dinge sind entscheidend für den Beginn eines neuen Zeitalters.

»Für das geistige und literarische Leben aber sind zwei Dinge von größter Bedeutung, die seither nicht mehr wegzudenken sind: das Papier, das den ungleich teureren Schriftträger Pergament ablöst, und die Brille, die die Lebenslesezeit eines Menschen sprunghaft erhöht. Beides trägt grundlegend zur Veränderung der Gesellschaft durch Wissen, durch fixierte Informationen bei, und beides taucht um 1300 in Italien auf.«

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Italien ist Ursprungsland und Heimat der Renaissance, deren Auswirkungen ganz Europa verändern sollten. Wie bei jeder kulturellen Epoche gibt es weder ein exaktes Anfangs-, noch ein Enddatum; der zentrale Zeitraum sind die 200 Jahre des 15. und 16. Jahrhunderts. In unserer heutigen Wahrnehmung ist die Renaissance geprägt durch Architektur, Bildhauerei und Malerei. Doch in allererster Linie war sie die Epoche des geschriebenen Wortes, das große Zeitalter des Buches. Denn der Motor für alle kulturellen – und damit einhergehend auch gesellschaftlichen – Veränderungen waren die antiken Texte der Griechen und Römer. Über Jahrhunderte vermoderten ihre Reste in Klosterkellern, wurden beschädigt, vernichtet, verschwanden, wurden vergessen. Renaissance heißt Wiedergeburt – und wiedergeboren sind mit der Neuentdeckung der alten Texte das Wissen und die Kultur der Antike. Die alten Schriften werden kopiert, verbreitet, interpretiert, dienen als Grundlage für neue Gedanken, es ist die Geburtsstunde des Humanismus. Und erst die Beschäftigung mit den antiken Büchern und Schriftrollen, das Entdecken einer verschwundenen Welt, die Verfestigung neuer Denkweisen, freier, weiter als zuvor, erst dies lässt die Architektur, die Skulpturen und Gemälde entstehen, die wir heute noch bestaunen. Aber am Anfang war das Wort, waren viele Worte. Denn »die Renaissance war eine Epoche des Buches.«

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Die humanistische Denkweise war entscheidend für die Bedeutung des Geschriebenen und die Vermittlung von Wissen. Denn Bildung verändert den Menschen, entwickelt ihn weiter, verändert ihn zum Besseren. »Neugier und Lernwille sind entscheidende Werte. Es ist keine Schande, etwas nicht zu wissen; es nicht wissen zu wollen aber schon.« Die große Zeit des Humanismus und der Renaissance ging um die Mitte des 16. Jahrhunderts zu Ende. Die Gegenreformation setzte ein, mit ihr Zensur und Verbote; es folgte die Ära der Religionskriege, deren trauriger Höhepunkt das dreißigjährige Gemetzel des 17. Jahrhunderts sein sollte. Wobei die Renaissance in keinster Weise eine friedliche Epoche war, ganz im Gegenteil, sie war eine Zeit der Extreme. Niemand bringt dies besser auf den Punkt als Orson Welles in seiner Rolle als Harry Lime im Film »Der dritte Mann«: »In den 30 Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blutvergießen, aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr!« Ein berühmtes Zitat der Filmgeschichte, auch wenn die Kuckucksuhr mit der Schweiz eigentlich nichts zu tun hat.

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Aber zurück zum Thema. Die Renaissance als Epoche der Buchkultur war eine Zeit brillanter Literaturschaffender, eine Zeit, in der das Italienische sich als Literatursprache etablierte, während zuvor alleinig Latein die Sprache der Gebildeten gewesen war. Doch neben den großen Namen – etwa dem Dreigestirn Francesco Petrarca, Giovanni Boccaccio und natürlich Dante Alighieri, Vorläufer und Wegbereiter der Renaissance, dessen 700. Todestag 2021 von zahllosen Artikeln, Beiträgen und Büchern begleitet wurde – ist die Literatur jener Zeit kaum präsent. Das allerdings hat sich mit dem vorliegenden Buch geändert. Und wie. 

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Eine Literaturepoche wird lebendig

Tobias Roth beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit der Literatur der Renaissance. Mit akribischer Recherche hat er Texte, Namen und zahllose Details zusammengetragen, die er in seinem Buch »Welt der Renaissance« vorstellt. 68 Autoren und Autorinnen kommen darin zu Wort und sprechen zu uns über die Jahrhunderte hinweg. Etwa 350 Originaltexte sind darin enthalten, die riesige Bandbreite reicht vom Vierzeiler bis zu mehrseitigen Abhandlungen, Erzählungen oder Romanfragmenten – die zum Teil das erste Mal überhaupt in deutscher Sprache erscheinen. Ein beeindruckendes, unglaublich intensives Leseerlebnis, das den Tonfall jener Zeit wiederauferstehen lässt. 

Jedes Kapitel beschäftigt sich mit einer Person. Vorangestellt ist jeweils ein einführender Text mit Informationen zur Biographie, zum gesellschaftlichen Stand, zur Bedeutung und zu den wichtigsten Veröffentlichungen. Es folgen mehrere Seiten Auszüge aus den Werken; erzählende Texte, Gedichte, Lieder, aber auch Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Auf diese Weise lernen wir die unterschiedlichsten Literaturschaffenden kennen. Natürlich hat Petrarca einen festen Platz, dessen Schaffen Vorbild war für ganze Generationen der ihm Nachfolgenden. Er und Boccaccio eröffnen im Inhaltsverzeichnis den Reigen der Literatur, und es beginnt ein Weg tief hinein in eine längst vergangene Zeit; ein Weg, der sich während der Lektüre immer feiner verästeln wird. Doch die Leser verlaufen sich nicht: Durch viele Querverweise erschließen sich Zusammenhänge; Netzwerke, Sympathien, aber auch Antipathien werden deutlich, es entsteht ein überaus lebendiges Gesamtbild einer Literaturszene, die berauscht davon war, gänzlich neue Wege zu betreten, ein neues Weltbild zu schaffen. 

»Die grundsätzlich akzeptierte Autorität der Antike erzwingt einen Freiheitsraum für die modernen Dichter der Renaissance, sie ermöglicht die Experimente der Nachgeborenen. Die Spielräume werden größer, je mehr Antike wiederentdeckt und in ihrer Buntscheckigkeit erkannt wird.«

Aus der Fülle an Material bleiben so manche Texte im Gedächtnis. Beeindruckt hat mich etwa der Bericht aus Florenz über die Pest von 1348, verfasst durch den Kaufmann und Bankier Baldassarre Bonaiuti. Oder die Briefe des Buchjägers Poggio Bracciolini. Buchjäger – was für ein grandioses Wort übrigens. Das waren jene Menschen, die damals alte, vergessene Klosterbibliotheken durchwühlten, immer auf der Suche nach antiken Texten. Poggios wichtigster Fund war 1417 die Wiederentdeckung der Schriften des Lukrez, dessen Gedanken vollkommen neue Horizonte für die Menschen des 15. Jahrhunderts eröffnen sollten. 

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Im Kapitel über Vespasiano da Bisticci, einem der bedeutendsten Buchhändler jener Zeit, wird die Entwicklung der Buchverbreitung deutlich. Den größten Teil seines Lebens verkauft er in seinem berühmten Buchladen in der Florentiner Innenstadt von Hand kopierte Werke. Zum Beruf des Buchhändlers gehört das »Auffinden, Vervielfältigen und Ausstatten von Büchern«. Bücher waren aufwändig zu produzieren und teuer; spannend zu lesen ist der Brief da Bisticcis an Cosimo de‘ Medici, in dem es um die Ausstattung einer neu geplanten Bibliothek geht – 45 Schreiber stellten in 22 Monaten 200 Bände her. Was für ein gigantischer Aufwand und man kann sich leicht vorstellen, wie das Aufkommen der Druckkunst – die erste Druckerei in Italien wurde 1464 in der Nähe von Rom eröffnet – die Verbreitung von Wissen, Texten und Bildung befeuert hat. 

Hochinteressant zu lesen sind die Briefe Alessandra Macinghis, die als früh verwitwete, alleinstehende Bankiersfrau die Geschäfte der Familie führt. Ein stetiges Lavieren zwischen politischen Intrigen, gesellschaftlichen Ansprüchen und der Sorge um ihre Kinder. 

Spannend der Bericht über das Leben der Dichterfürstin Vittoria Colonna, die auf höchstem Niveau Gedichte schrieb, mit allen Intellektuellen ihrer Zeit befreundet war, aber auch mehrmals vor den Kriegswirren auf der italienischen Halbinsel fliehen musste.

Briefe von Raffaelo Santi sind abgedruckt, den wir heute unter seinem Künstlernamen Raffael kennen, ebenso wie Texte von Lorenzo de‘ Medici oder ein Schreiben des Forschungsreisenden Amerigo Vespucci. 1507 wird der deutsche Kartograph Martin Waldseemüller den neuen Kontinent nach ihm »America« benennen.

Es gibt Fabeln aus der Feder Leonardo da Vincis zu lesen, Texte von Niccolò Machiavelli und Gedichte von Michelangelo Buonarotti. Wir lernen Aldo Manuzio kennen, der als der erste Verleger gilt und in dessen Verlag in Venedig die Werke Erasmus von Rotterdams veröffentlicht werden. Und wir lesen über Bartolomeo Scappi, der als »Koch der Päpste« seine Rezepte 1570 als Kochbuch herausgegeben hat.  

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Diese wenigen Beispiele müssen genügen, alles andere würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Und doch vermitteln sie nur einen winzigen Eindruck dieses Werkes, das unendlich viel Wissenswertes zwischen zwei Buchdeckeln versammelt und spektakulär präsentiert. Tobias Roth weckt damit die Neugier auf diese einzigartige Epoche der Umbrüche und macht klar, wie mächtig Worte sein können, wie prägend Texte für eine gesamte Kultur sind. Die Dynamik dieser Zeit ist dabei hautnah spürbar, mehr Zeitreise geht nicht.

Ein Buch als Gesamtkunstwerk

Mitten hinein in die Zeit der Renaissance fiel die Erfindung des Buchdrucks und das Aufkommen gedruckter Bücher führte zu einer völlig neuen Dynamik bei der Verbreitung des geschriebenen Wortes. Wie ein roter Faden zieht sich diese Entwicklung durch das gesamte Buch: Alle zwei, drei Kapitel gibt es Extraseiten, auf denen Druckereien jener Zeit vorgestellt werden; außerdem beispielhafte Druckerzeugnisse, wichtige Werke und vieles mehr. Natürlich versehen mit Illustrationen, die uns Buchseiten zeigen, Schriftarten und zahlreiche weitere Details. Womit wir bei der Ausstattung dieses Großlesebuches angekommen sind. 

Tobias Roth: Welt der Renaissance

Denn ist schon die Textzusammenstellung von »Welt der Renaissance« spektakulär, so ist es die gestalterische Aufbereitung, sind es die vielen typographischen Details nicht minder. Als Schriftart wurde die Poliphilus gewählt, eine Renaissance-Antiqua-Schrift, 1923 als Reminiszenz an eine 1499 entworfene Schriftart gestaltet – und schon durch dieses Wahl weht der Hauch der Geschichte durch das gesamte Werk. Schweres Papier, ein Leineneinband mit einer farbigen Bauchbinde, kleine, in den Text rot eingedruckte Zeigefinger als Verweiszeichen, die der inhaltlichen Erschließung dienen, Abbildungen von Münzen der Zeit zu Beginn jedes Kapitels, zahllose Abdrucke von Buchseiten aus Werken der Renaissance und prachtvolle Farbabbildungen in der Mitte des Buches – das alles verbunden mit einem unwiderstehlichen Geruch von Druckerschwärze, Papier und Leim. Das Wort Gesamtkunstwerk ist in keinster Weise übertrieben.

Oder anders gesagt: »Welt der Renaissance« ist eines der schönsten, prächtigsten, beeindruckendsten und herausragendsten Bücher der letzten Jahre.

Ist das jetzt etwas zu überschwänglich formuliert? Der Blick schweift zum Buch, das neben mir liegt: nein, ist es nicht; »Welt der Renaissance« ist wahrlich ein editorisches und gestalterisches Meisterwerk.

Zum Weiterlesen: Eine Lektüreliste

Renaissance: Zum Weiterlesen

Während der Lektüre zog es mich immer wieder zum heimischen Bücherregal, wenn mir ein Name bekannt vorkam oder mir ein Zusammenhang mit bereits Gelesenem klar wurde. Auch in den Buchhandlungen meines Vertrauens fiel mir der ein oder andere Titel zum Thema ins Auge. Daraus hat sich eine kleine Liste zum Weiterlesen ergeben, die ich hier zusammengestellt habe. Falls jemand weitere Buchtipps hat: Immer her damit. 

  • Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte
  • Giovanni Boccaccio, Das Büchlein zum Lob Dantes
  • Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien
  • Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie
  • Stephen Greenblatt, Die Wende – Wie die Renaissance begann
  • Franziska Meier, Besuch in der Hölle – Dantes Göttliche Komödie
  • Thomas de Padova, Alles wird Zahl – Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand
  • Volker Reinhardt, Die Macht der Seuche – Wie die große Pest die Welt veränderte

Buchinformationen
Tobias Roth, Welt der Renaissance
Übersetzung der Originaltexte aus dem Lateinischen und Italienischen von Tobias Roth
Galiani Verlag
ISBN 978-3-86971-205-5

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Obwohl der Hashtag diesmal eigentlich heißen müsste: #SostieniLaTuaLibreriaLocale

5 Antworten auf „Eine Epoche der Bücher“

  1. Meine Buchtipps: Natalie Zemon Davis „Die schenkende Gesellschaft“ und Emmanuel LeRoy Ladurie „Eine Welt im Umbruch – der Aufstieg der Familie Platter“.

  2. Das sieht wirklich spektakulär aus! Meine Eltern unternahmen eine Italienreise ohne mich als ich etwa 5-6 Jahre alt war. Ich war so empört, dass sie mich als zu jung bezeichneten, dass ich nachher alle ihre Bücher über die Renaissance (mit Bildtafel) eifrig las. Sie haben diese Bücher immer noch und sie begrüßen mich wann immer ich dort zu Besuch gehe.

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