Ich konnte nicht widerstehen. Als ich in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens die Neuausgabe der Erzählungen von Franz Kafka sah, musste ich sie einfach haben. Ein leinengebundenes Buch – das findet man heute außerhalb der Programme der Büchergilde und des Manesse-Verlags nur noch selten. Und ich liebe Leineneinbände, deshalb konnte ich gar nicht anders. Nun habe ich den neu erworbenen Band neben dem alten Taschenbuch photographiert und beim Blick auf die beiden Bücher wird mir bewusst, dass über dreiunddreißig Jahre zwischen ihnen liegen. Das Taschenbuch ist die Ausgabe, von der ich hier im Blog schön öfters erzählt habe, vergilbt, zerkratzt und zerknickt begleitet es mich schon seit dem Herbst 1990; es ist mit all seinen Narben und Blessuren ein Teil meines Lebens. Mit ihm verbinde ich viele Monate der Lektüre und viele Stunden in Cafés und Kneipen, es begleitete mich durch die Zeit, als der Aufbruch ins Erwachsenenleben von einer großen Ungewissheit geprägt war. „Zwei Bücher, drei Jahrzehnte“ weiterlesen
An der Schwelle einer neuen Zeit
Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen
Die Bücher der Rose
2022 jährte sich das Erscheinen der deutschen Ausgabe von »Der Name der Rose« zum vierzigsten Mal. Dies feierte der Hanser Verlag mit einer wunderschön gestalteten Neuauflage des Romans von Umberto Eco in der bewährten Übersetzung von Burkhart Kroeber. Eine Ausgabe, an der ich nicht vorbeigehen konnte und die ich zum Anlass nahm, nach fünfunddreißig Jahren dieses großartige Werk ein zweites Mal zu lesen. Gleichzeitig erschien – im Zsolnay Verlag, der ebenfalls zu Hanser gehört – der Roman »Die schwarze Rose« von Dirk Schümer; laut der Ankündigung im Klappentext eine Art lose Fortsetzung von Ecos Meisterwerk. Zumindest würde man ein paar alte Bekannte wieder treffen: »Dort, wo Umberto Ecos ›Der Name der Rose‹ aufhört, setzt Dirk Schümers historischer Roman an«, heißt es auf der Buchrückseite. An ein Meisterwerk, an einen der ganz großen Romane der letzten Dekaden anknüpfen? Kann ein so schon fast anmaßendes Unterfangen gut gehen? Gelingen? Ich war skeptisch. Und neugierig. Aber lest selbst. „Die Bücher der Rose“ weiterlesen
Mit eleganter Leichtigkeit
Es war der Buchtitel, der mich neugierig gemacht hat. »Lieder für die Feuersbrunst« klingt auf eine so poetische Weise dramatisch, dass ich an diesem Buch auf keinen Fall vorbeigehen konnte. Es enthält Erzählungen des kolumbianischen Autors Juan Gabriel Vásquez, ebenso wie der Band »Die Liebenden von Allerheiligen«. Auf beide Bücher machte mich Vanessa Marzog aufmerksam, die für Holtzbrinck Berlin arbeitet und unter anderem für die Kommunikation rund um die Samuel Fischer Gastprofessur verantwortlich ist. Sie bot an, mir diese beiden Bücher zuzusenden; dafür sollte ich sie photographisch in Szene setzen und ein paar Sätze über den Autor schreiben, der im Sommer 2021 Dozent der Samuel Fischer Gastprofessur an der FU Berlin ist. Eigentlich gehe ich auf Kooperationsanfragen dieser Art nie ein, denn zu viele noch nicht vorgestellte Bücher stehen in der Blog-Warteschlange. Aber wie gesagt, den Buchtitel fand ich so grandios und das Thema der Gastprofessur so interessant, dass ich in diesem Fall nicht anders konnte, als zuzusagen. Zumal ich ein Faible für Literatur aus Süd- und Mittelamerika habe. Und es hat sich gelohnt, denn die Erzählungen der beiden Bände haben mich sehr begeistert. „Mit eleganter Leichtigkeit“ weiterlesen
Die Berge rufen
Die abweisende, schroffe, lebensfeindliche und wunderschöne Welt der italienischen Alpen ist der Hintergrund zweier bewegender Romane. Wobei die Formulierung »Hintergrund« nicht ganz stimmt: Sowohl in »Acht Berge« von Paolo Cognetti wie auch in »Das Fell des Bären« von Matteo Righetto ist sie der alles bestimmende Mittelpunkt der Handlung. Denn die Landschaft formt die Menschen, die in ihr leben. Immer. Und überall. Aber besonders dort, wo sie jederzeit tödlich sein kann. Und wenn Bücher so gut zusammenpassen wie diese beiden, stelle ich sie gerne gemeinsam vor; es sind zwei Romane von nahezu makelloser Schönheit, mit einer perfekt austarierten Mischung aus Aufbruch und Enttäuschung, Hoffnung und Trauer, Leben und Tod. „Die Berge rufen“ weiterlesen
Vom Untergang einer Welt
Fast hätte ich mir das Buch »Der Wintersoldat« von Daniel Mason gar nicht gekauft. Das Buchcover zeigt einen Menschen in Rückenansicht, der sich mit wehendem Mantel vom Betrachter weg bewegt – diese Art der Buchgestaltung gibt es bereits in viel zu vielen Varianten und ich mag sie nicht besonders. Aber trotzdem sprach mich irgendetwas daran an, sorgte zumindest für ein zweites Hinsehen. Vielleicht war es der Titel »Wintersoldat«, vielleicht waren es die dunklen, wolkenverhangenen Bergrücken auf dem Umschlagbild, die eine Düsternis ausstrahlten, die mich neugierig machte. Als dann der Klappentext eine Handlung in den Karpaten während des Ersten Weltkriegs versprach, war die Kaufentscheidung getroffen. Denn dies ist ein fast vergessener Schauplatz in den vielen Darstellungen jener Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und ich war gespannt, wie die Lektüre zu meinem Leseprojekt Erster Weltkrieg passen würde. Passend dazu stelle ich hier den Photoband »Untergang einer Welt« aus dem Brandstätter Verlag vor, der sich mit jenen weniger bekannten Aspekten des vierjährigen Gemetzels beschäftigt; eindrucksvoll und bedrückend zugleich. „Vom Untergang einer Welt“ weiterlesen
Land Of The Free?
Wieder einmal brennen in den USA die Straßen, wieder einmal demonstrieren Tausende gegen rassistische Polizeigewalt. Denn wieder einmal wurde ein Mensch mit dunkler Hautfarbe von weißen Polizisten getötet. Der strukturelle Rassismus zieht sich durch die gesamte amerikanische Geschichte; auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865 galten afroamerikanische Bürger fast ein Jahrhundert lang als Menschen zweiter Klasse. Und bis heute ist die Ungleichbehandlung täglich spürbar – von unterschiedlichen Löhnen bis hin zu eben jener Polizeigewalt, die vor allem dunkelhäutige Amerikaner zu spüren bekommen. Der Autor Thomas Mullen beschäftigt sich in seinen Romanen »Darktown« und »Weißes Feuer« mit einem ganz besonderen Aspekt dieser Entwicklung. Beide Bücher sind dabei Kriminalliteratur vom Feinsten und sie führen uns zurück in das Jahr 1948, in die Stadt Atlanta. „Land Of The Free?“ weiterlesen
Migrantenschicksale
Wirtschaftsflüchtlinge. Ein Wort für Menschen, deren Situation in ihrem Heimatland so perspektivlos ist, dass sie versuchen, sich in der Fremde eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Über ein Jahrhundert lang war Mitteleuropa eine Auswanderungsregion; Millionen dieser Wirtschaftsflüchtlinge ließen Deutschland oder Österreich hinter sich, alle auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben. Es begann mit den großen Migrationswellen im 19. Jahrhundert als Folge der Verelendung durch die Industrialisierung, der Hungersnöte durch Missernten oder der politischen Unfreiheit.
In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts kehrten ebenfalls viele Auswanderer ihrer Heimat den Rücken. In ihren Ländern, die durch Kriegsfolgen, Inflation und Wirtschaftskrise geschwächt waren und im politischen Chaos zu versinken drohten, sahen sie für sich keine Zukunft mehr. Um zwei Menschen aus genau dieser Zeit geht es in den Romanen »Der Empfänger« von Ulla Lenze und »Kamnick« von Felix Kucher. Beide Bücher schildern auf unterschiedliche Weise, wie mühsam sich für diese Migranten ein Neuanfang gestaltete, wie wenig willkommen sie waren – und wie ihre Schicksale zu Spielbällen der politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wurden. „Migrantenschicksale“ weiterlesen
Gestatten?* Von Droste-Hülshoff
Wenn man am Bodensee aufwächst, gehören regelmäßige Besuche auf der Meersburg zur Kindheit. Als Familien-, Schul- oder Geburtstagsausflug, per Auto, per Bus oder per Schiff – die älteste noch bewohnte Burg Deutschlands ist eines der beliebtesten Ziele in dieser Region. Sie ist allerdings wirklich beeindruckend, ein trutziges Gemäuer mit dunklen, kargen Räumen hoch über dem See. Es gehört aber auch ein schön angelegter Burggarten dazu und an der einen Seite dieses Gartens steht ein bescheidenes Häuschen, eingerichtet mit Möbeln aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier verbrachte die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff einen großen Teil der letzten Jahre ihres Lebens und hier steht ihr Sterbebett.
Ich weiß noch, wie ich mich als Kind über die Größe des Bettes gewundert habe, es ist so klein, dass nur eine äußerst zierliche Erwachsene darin hätte liegen können. Das war mein erster Kontakt mit Annette von Droste-Hülshoff und so wie die Besuche auf der Meersburg zu meiner Kindheit gehören, so ist auch ihr Name damit verbunden. Viel mehr wusste ich bis vor kurzem nicht über sie, mit ihrer Person und ihrem Werk habe ich mich bisher nie beschäftigt. Doch das hat sich nun dank zweier Bücher geändert, die ich hier vorstellen möchte. Es handelt sich um die Romane »Fräulein Nettes kurzer Sommer« von Karen Duve und »Grimms Morde« von Tanja Kinkel. Beide bringen uns auf sehr unterschiedliche Weise das kurze Leben Annette von Droste-Hülshoffs nahe und holen die heute kaum noch präsente Dichterin – die zu den wichtigsten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts gehörte – in unsere Zeit. „Gestatten?* Von Droste-Hülshoff“ weiterlesen
Die Lebenden und die Toten
Aus vielen einzelnen Stimmen entsteht ein Bild. Das Bild eines Dorfes, einer kleinen Stadt mit ihren Bewohnern, mit all den unterschiedlichen Schicksalen und Lebensläufen. Ihrem Glück, ihrer Trauer, ihren verpassten Chancen, ihrer Liebe, ihrer Verzweiflung, ihrem Hadern, ihren Tränen und ihrem Lachen, kurz: Ihrem Menschsein. Es ist eine literarische Collage, durch die sich die Stadt nach und nach bevölkert, wir Leser langsam Zusammenhänge und Beziehungsgeflechte erkennen können. Zwei Bücher möchte ich hier vorstellen, die genau dies mit ihrer Erzähltechnik fertigbringen, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Denn das eine berichtet von den Lebenden, das andere von den Toten. Es sind die Romane »Speicher 13« von Jon McGregor und »Das Feld« von Robert Seethaler. „Die Lebenden und die Toten“ weiterlesen
Neue Ermittler, neue Zeitreisen
Wenn historische Kriminalromane sauber recherchiert sind, wenn Sprache sowie Ambiente die geschilderte Zeit passend wiedergeben – dann kann es sehr reizvoll sein, mit ihrer Hilfe vergangene Epochen kennenzulernen. Was die Zwanziger- und Dreißigerjahre in Berlin betrifft, hat der Autor Volker Kutscher mit seiner Gereon-Rath-Reihe in den letzten Jahren Maßstäbe gesetzt. Umso gespannter bin ich jedesmal, wenn neue Krimireihen an den Start gehen, die in einem ähnlichen Zeitraum angesiedelt sind. In den letzten Monaten war das gleich zwei Mal der Fall; die Auftaktbände zweier neuer Reihen schicken die Leser in das Wien des Jahres 1919/1920 und in das Los Angeles des Jahres 1921. Um es gleich vorwegzunehmen: Beide haben mir sehr gut gefallen und versprechen viel Potential für die Folgebände. „Neue Ermittler, neue Zeitreisen“ weiterlesen
Auf Rattenjagd
Der Spruch von den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, hat sich selten in einer solchen Dimension bewahrheitet wie nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur im Jahr 1945. Unzählige Täter tauchten unter, vielen gelang es, das von ihnen zerstörte Europa zu verlassen und besonders in südamerikanischen oder arabischen Ländern Zuflucht zu finden. Hier siegte Politik über Gerechtigkeit: Anstatt so viele Nazis wie möglich an den verdienten Galgen zu bringen, duldeten die alliierten Geheimdienste den Mörder-Exodus, wenn sie ihn nicht gar unterstützten. Denn mit dem Triumph Sowjetrusslands und dessen Griff nach großen Teilen Osteuropas war eine neue Bedrohung der westlichen Welt am Horizont erschienen. Der Beginn des kalten Krieges zeichnete sich ab und flüchtende SS-Leute waren plötzlich potenzielle Verbündete im Kampf gegen den Bolschewismus. Natürlich nicht offiziell, aber es etablierten sich feste Fluchtrouten, etwa über die Alpen zu den italienischen Häfen. Mit tatkräftiger Unterstützung der katholischen Kirche und des italienischen Roten Kreuzes. Dies waren die sogenannen »Rattenlinien«.
Der gesamte Aspekt der Täterflucht aus Europa ist bisher nur wenig erforscht, bis heute liegen etliche Zusammenhänge im Dunkeln. Umso spannender ist daher, sich mit zwei Romanen dieser Zeit und diesem Thema zu nähern. Es sind dies »Rattenlinien« des Autors Martin von Arndt sowie »Der vierte Mann« von Stuart Neville. „Auf Rattenjagd“ weiterlesen
Abenteuergeschichten vom Feinsten
Es ist höchste Zeit für diesen Beitrag, denn mit großem Schrecken musste ich feststellen, dass zwei meiner absoluten Lieblingsbücher nicht mehr lieferbar sind. Das ist mir völlig unverständlich, gehören doch »Alatriste« und »Das Gold des Königs« von Arturo Pérez-Reverte mit zum Besten, was historische Romane mit literarischem Anspruch zu bieten haben. Oder anders gesagt: Es sind Abenteuergeschichten vom Feinsten, die in einer Reihe stehen mit Werken der Weltliteratur wie Stevensons Schatzinsel oder Dumas‘ drei Musketieren. „Abenteuergeschichten vom Feinsten“ weiterlesen
Europas offene Wunde
Gerne wird momentan von der abendländischen Kultur Europas geredet, um unsere Identität gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen abzugrenzen. Und gerne wird dabei auf den christlich-jüdischen Hintergrund unserer kulturellen Entwicklung hingewiesen. Dabei drücken diese Wörter eine Symbiose aus, die es so nie gab; die vor dem Hintergrund eines jahrtausendealten europäischen Antisemitismus wie blanker Hohn wirkt. Es ist eher so, dass in Europa trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen eine lebendige jüdische Kultur existierte, die erst durch den industrialisierten Massenmord des Holocaust so dezimiert wurde, dass sie heute nur noch vage wahrnehmbar und in vielen Gegenden – insbesondere Osteuropas – vollkommen verschwunden ist. Zwei Bücher möchte ich hier vorstellen, eines, das auf eindrucksvoll photographierte Art und Weise letzte Spuren dieser Welt zeigt, Zeugnisse des Verfalls und des endgültigen Verschwindens. Und eines, das uns an jene verschwundene Welt in seltenen Photographien erinnert. „Europas offene Wunde“ weiterlesen
Tief in den Wäldern
In diesem Beitrag geht es um zwei Bücher, die inhaltlich und stilistisch sehr verschieden sind. Doch sie haben ein verbindendes Element: Den Wald. Oder vielmehr den Wald als Rückzugsort von der Gesellschaft, als Versteck vor anderen Menschen, weitab von allem. Im zersiedelten und straßenzerschnittenen Mitteleuropa kann man sich solche Wälder nur schwerlich vorstellen, doch mit den Romanen »Ein Leben mehr« von Jocelyne Saucier und »Männer mit Erfahrung« von Castle Freeman lernen wir Waldgebiete ganz anderer Dimensionen kennen. Und Lebensentwürfe, die so bei uns kaum möglich sein dürften. „Tief in den Wäldern“ weiterlesen