Herbstliche Melancholie

Rainer Maria Rilke: Herbsttag

Wahrscheinlich kennt jeder dieses Gedicht, es gehört zu den meistzitiertesten. Und für mich zu den schönsten. Vor über einem Jahrhundert verfasst, hat es nichts von seiner nachdenklichen Eleganz verloren, in der die Schönheit der Natur im Jahreslauf mit der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins verknüpt wird. Ich liebe die Melancholie, die aus den Versen spricht und die mich jedes Mal aufs neue berührt – und daher möchte ich diesem zeitlosen Werk deutschsprachiger Poesie auch hier im Blog einen Platz geben.

Hier ist es. 

Rainer Maria Rilke: Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Aus: »Das Buch der Bilder«, 1902

So viele Momentaufnahmen im Kopf

Schon lange begleitet mich dieses Gedicht. Und jedes Mal, wenn ich es lese oder höre, tauchen Bilder im Kopf auf; Momentaufnahmen des Lebens. Der elterliche Garten im Sonnenschein eines spätsommerlichen Nachmittags. Ein regnerischer Novembertag in Freiburg, an dem ich mit einem bis zum Hals zugeknöpften Mantel durch die grauen Straßen lief, nicht wissend wohin mit mir, während tief hängende Wolken die nahen Schwarzwaldberge verbargen. Um dann wieder mit einem Buch in einem Café zu landen, wie so oft in jener Zeit. Die tief stehende Sonne, die die bröckligen Fassaden Leipzigs in ein erdiges, warmes Licht tauchte, als ich die ersten Tage durch diese wunderbare Stadt lief. Auch Herbst: Der Geruch nach Laub, nach zum letzten Mal gemähten Wiesen. Ein vager Duft von Holzfeuer in der Luft. Etwas geht zu Ende. 

Und etwas beginnt. Denn bei aller Melancholie ist der Herbst bei mir auch stets mit einem Neustart, mit dem Beginn einer neuen Lebensphase verbunden. Mit einem Versprechen. Und ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich diese Jahreszeit liebe, immer wieder.

So wie dieses Gedicht. 

Buchinformation
Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-39189-1

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6 Antworten auf „Herbstliche Melancholie“

  1. Dein Text hat mir jetzt einen kleinen Stich versetzt. Musste auch an meinen elterlichen Garten im Herbst denken. Wir haben das Haus vor zwei Jahren verkauft, da nur noch ich drin gewohnt hatte und das einfach nicht praktikabel war.

    1. Das kann ich gut nachvollziehen, ich werde bei der Erinnerung an die endlosen Nachmittage und die Abendsonne im Garten meines Elternhauses auch jedes Mal sentimental.

  2. Lieber Herr Kalkowski,
    mit dem Herbst geht es mir ganz genauso. Es ist das Blätterrauschen draußen und in der Kulturlandschaft, dass mich froh stimmt. Theater und Kino geben sich auch wieder die Ehre – auch deshalb mag ich den Herbst.
    Am 9.10. stelle ich traditionell mit 5 FreundInnen die Shortlist vor. Das Publikum kann dann Tippen, wer wohl den Deutschen Buchpreis bekommt – und die Titel der Shortlist werden dann später verlost. Auch das ein Highlight in jedem Herbst.
    Ich wünsche Ihnen ein angenehmes ‚2. Halbjahr‘ 2024!

    1. Liebe Frau Detlefs,
      das klingt nach einer anfregenden und inspirierenden Veranstaltung. Mein Favorit dieses Jahr ist der Roman von Iris Wolff.
      Herzliche Grüße
      Uwe Kalkowski

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