Es gibt sie, diese besonderen Bücher, die einen das Leben lang begleiten. Die fester Bestandteil der eigenen Biographie und mit wertvollen Erinnerungen verbunden sind. Die man unzählige Male gelesen hat. Die vergilbt, zerfleddert und mit losen Seiten im Regal stehen – und von denen man sich nie, niemals und unter keinen Umständen trennen würde. Jahre- und jahrzehntelang erinnern sie einen an längst vergangene, prägende Zeiten – und wenn man sie eines Tages wieder einmal in die Hand nimmt, sie nach einer langen Pause erneut liest, dann ist das wie eine Zeitschleuse zurück in die eigene Vergangenheit. Und es kann geschehen, dass eine Textstelle, die man damals zwar schon angestrichen hat, beim Wiederlesen vollkommen anders wirkt. Intensiver. Wuchtiger. Einen frösteln lässt. Und man sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt. So geschehen bei dem Roman »Alle Menschen sind sterblich« von Simone de Beauvoir. Und das schreibe ich jetzt auf.
Wie oft ich als junger Mensch »Alle Menschen sind sterblich« gelesen habe, kann ich nicht genau sagen. Wann zum ersten Mal weiß ich noch ganz genau: Es war Anfang April 1993 in einem Café in Melbourne. Ich war ein Vierteljahr in Australien unterwegs und ein Freund hatte mir das Buch postlagernd an das Hauptpostamt in Melbourne geschickt – er war der Meinung, dass ich es unbedingt lesen müsse und hatte es auf den Weg ans andere Ende der Welt gebracht. Und ich bin ihm bis heute dankbar dafür. Denn dieser Roman beschreibt wie kein zweiter, was den Sinn des Lebens ausmacht: Es ist unsere Sterblichkeit und die Endlichkeit all unseres Tuns, die unserem Handeln einen Sinn verleiht. Und wenn man wochen- und monatelang durch Australiens Endlosigkeit reist und sehr viel Zeit hat, über das eigene Leben nachzudenken, kann man sich keine passendere Begleitlektüre wünschen.
»Alle Menschen sind sterblich« war eines der ersten Bücher, die ich hier im Blog vorgestellt habe. Das ist inzwischen über ein Jahrzehnt her und auch damals lag die letzte Lektüre schon eine ganze Weile zurück. Jetzt, nach langer Zeit, habe ich den Roman erneut gelesen. Und jene eingangs erwähnte Textstelle lässt mich nicht wieder los.
In Simone de Beauvoirs 1946 erschienenen Roman treffen zwei Menschen aufeinander, sie begegnen sich das erste Mal in einem Hotel, irgendwo in der französischen Provinz, irgendwann in den Dreißigerjahren. Regine ist Theaterschauspielerin, sehr talentiert, vielleicht kurz vor dem großen Durchbruch. Sie hadert damit, dass ihr Schaffen keine bleibenden Spuren hinterlassen, sie in ein paar Jahren wieder vergessen sein wird und träumt davon, in der Erinnerung der Menschen ewig weiterzuleben. Raymond Fosca ist der Name des geheimnisvollen Fremden, der tagelang nichts anderes macht, als auf einem Liegestuhl im Hotelgarten zu liegen; bei jedem Wetter, ohne zu essen, ohne aufzustehen, ohne Lebenszeichen. Und er ist tatsächlich unsterblich, ist es geworden durch eine unbedachte Handlung, durch einen leichtsinnigen Griff nach einem mysteriösen Elixier. Seine Zeit war das späte Mittelalter, an der Schwelle zur Renaissance. Seitdem streift er durch die Jahrhunderte, einsam, verloren und frustriert von den Menschen. Und was er einst als Segen, als besondere Gabe empfand, ist schon längst zu einem Fluch geworden. Zu einem Fluch, der nie enden wird. Aber all das weiß Regine nicht, als sie Fosca anspricht, versucht mit ihm Kontakt aufzunehmen, ihn aus seiner rätselhaften Lethargie herauszuholen. Fosca will dies nicht, versucht sie abzuwimmeln, denn er weiß, wie viele Enttäuschungen und seelische Verheerungen er schon hinterlassen hat. Zu viele. Und dieser erste, kurze Dialog zwischen den beiden ist eine Textstelle, die ich schon 1993 markiert habe, damals im Café in Melbourne. Und die mich jetzt mit voller Wucht erwischt hat.
»Ich wohne seit ein paar Tagen in diesem Hotel und beobachte Sie. Ich wünschte, Sie teilten mir Ihr Geheimnis mit.«
»Was für ein Geheimnis? Ich habe kein Geheimnis.«
»Ich möchte, dass Sie mir sagen, wie Sie es machen, dass Sie sich nie langweilen.«
Er antwortete nicht. Er hatte die Augen geschlossen.
Wieder rief sie ihn leise an: »Raymond Fosca! Hören Sie mich?«
»Ja«, sagte er.
»Ich nämlich langweile mich«, sagte sie.
»Wie alt sind Sie?« fragte Fosca.
»Achtundwanzig Jahre.«
»Da haben Sie höchstens noch fünfzig Jahre zu leben«, sagte er. »Das geht doch schnell vorbei.«
Das geht doch schnell vorbei. Als ich das Buch das erste Mal las, war ich vierundzwanzig und schon die Vorstellung, achtundzwanzig zu sein, schien weit entfernt. Es war die Zeit, als das Leben mit all seiner Endlosigkeit und seinen Möglichkeiten vor einem lag, zahllose Wege darauf warteten, eingeschlagen zu werden. Und diese Textstelle hat mich mit ihrer existenziellen Dramatik berührt, ich fand sie irgendwie lässig und habe sie markiert, damals vor einer gefühlten Ewigkeit. Doch beim Wiederlesen kam es mir kein bisschen so vor, als seien seitdem über dreißig Jahre vergangen, alleine das Buch in der Hand zu halten und es aufzuschlagen, versetzte ich mich wieder zurück in jenes Café. Und dieser kurze Dialog, dieser Satz »Das geht doch schnell vorbei« traf mich bis ins Mark. Denn mit dem Älterwerden macht man eine Erfahrung, die man sich als junger Mensch nicht vorstellen kann: Die Jahre gehen tatsächlich schnell vorbei und das Gefühl der Endlosigkeit verschwindet, erst langsam, dann endgültig. Und die Vorstellung achtundzwanzig zu sein, ist inzwischen noch viel weiter entfernt als in jenen Tagen der Unbeschwertheit – nur von der anderen Seite des Zeitstrahls gesehen.
Aber das ist das Leben und es ist gut so, wie es ist. Denn wir haben nur dieses eine. Auch das vermittelt dieser wunderbare Roman, der mich durch die Zeit begleitet hat und weiter begleiten wird.
Buchinformation
Simone de Beauvoir, Alle Menschen sind sterblich
Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens
ISBN 978-3-499-11302-4
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