Europa im Geschwindigkeitsrausch

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent - Europa 1900 bis 1914

Das Buch »Der taumelnde Kontinent« von Philipp Blom beschreibt ein Europa im Wandel. Sich verändernde gesellschaftliche Strukturen, ein atemberaubender technischer Fortschritt, der ungeahnte Möglichkeiten am Horizont erkennen lässt, die brutalen Folgen kolonialistischer Eroberungszüge und ein Alltag, in dem die Gewissheiten stetig weniger werden. Fünfzehn Jahre umfasst die mitreißend geschriebene Schilderung der Entwicklungen unseres Kontinents – es ist der Zeitraum von 1900 bis 1914. Eine Zeit, die viel moderner war, als wir es uns heute vorstellen können. Und die in vielen Aspekten mit der Epoche vergleichbar ist, in der wir leben.    

Philpp Bloms Buch wartet schon länger darauf, hier vorgestellt zu werden. Die Lektüre ist nun schon einige Zeit her, aber jetzt, wo das Buch wieder neben mir liegt, sind viele der Leseeindrücke sofort wieder präsent. Das ist nicht zuletzt der Struktur des Buches geschuldet, das aus fünfzehn Kapiteln besteht. Jedes davon steht für ein Jahr und in jedem wird ein besonders Ereignis dieses Jahres in den Vordergrund gerückt. Der Autor beschreibt es im Vorwort als eine Art Kameratechnik, mit deren Hilfe er die verschiedenen Aspekte jener Epoche der Umwälzungen einzeln in den Fokus rückt. Um damit »die Dynamik, die Rasanz, die Unmittelbarkeit der damaligen Lebenserfahrung einzufangen.«

Es beginnt mit der Pariser Weltausstellung von 1900. Wie ein riesiges Schaufenster der technologischen Entwicklungen findet diese Veranstaltung in einem Land statt, das die Dreyfus-Affäre tief gespalten hat – während europaweit Unsicherheiten, Zukunftsängste und das neuartige Phänomen der »Nervosität« gesellschaftlich weit verbreitet sind und Eingang in die Literatur und Kunst finden. Das Buch endet mit den Schüssen in Sarajewo, die zu einem mörderischen Weltkrieg führen werden – so, als würden die jahrelange Anspannung und das sämtliche Menschen überfordernde Modernisierungstempo sich in einer alles vernichtenden Explosion entladen. Danach war die Welt eine andere, doch alle künftigen Entwicklungen haben ihre Wurzeln in den wenigen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg

Denn diese Jahre sind eine Art geschichtliches Scharnier. Philipp Blom beschreibt dies an dem Beispiel eines älteren Mannes, der eines der ersten Automobile über die Champs-Élysées steuert. Ein sehr anschauliches Beispiel, das die historischen Dimensionen deutlich macht: »Der alte Herr, der in seinem Automobil ängstlich die Pariser Prachtstraße herunterfuhr, war vielleicht um das Jahr 1840 geboren. Seine Großmutter konnte sich noch an das Frankreich vor 1789 erinnern, an das Ancien régime und die absolute Monarchie, an eine Welt, die in wichtigen Punkten seit Jahrhunderten unverändert geblieben war. Seine Enkel würden dabeisein, wenn die Atombombe über Hiroshima abgeworfen wurde und würden im Fernsehen miterleben, wie ein Mann die ersten Schritte auf dem Mond machte. Die wichtigsten geistigen, wissenschaftlichen und emotionalen Veränderungen, die diese beiden Welten voneinander trennten, fanden in den Jahren zwischen 1900 und 1914 statt.«

Welches sind nun die Ereignisse, die für den Autor beispielhaft sind und anhand derer wir jene Zeit Jahr für Jahr kennenlernen?

Es ist etwa der Tod Königin Victorias, der das britische Empire tief erschütterte und der symbolisch war für das Ende einer Epoche; sie regierte seit dem Jahr 1837. Zur gleichen Zeit wird durch den Import von billigen Nahrungsmitteln aus Australien und Südamerika die Lebensgrundlage des britischen Landadels zerstört – was wiederum zu drastischen Veränderungen führt: Alte Herrenhäuser werden von neureichen Fabrikanten gekauft, Pachtbauern verlieren ihre Arbeit, eine uralte gesellschaftliche Struktur beginnt zu verschwinden. Heute würde man sagen: Globalisierung und ihre Folgen. 

Oder die Erhebung Sigmund Freuds in den Professorenstand durch den österreichischen Kaiser – ein Ereignis, das der Autor zu einer Beschreibung der maroden k.u.k.-Monarchie und ihrer ausgeprägten Doppelmoral nutzt. Ein Land und eine Gesellschaft, gefangen zwischen Tradition und Moderne, unfähig, sich aus diesem Zwiespalt zu befreien.

Oder das Treffen von 256 Delegierten aus 42 Ländern zur Internationalen Friedenskonferenz in Den Haag, dem Vorläufer des Völkerbunds, der wiederum in der UNO aufgehen würde. Dieses Kapitel ist den pazifistischen Bewegungen jener Zeit gewidmet, die zwischen dem omnipräsenten Säbelgerassel existierten. Und vor allem beschäftigt es sich mit dem Leben Bertha von Suttners, der großen Pazifistin, die 1905 den Friedensnobelpreis erhielt.

Im Kapitel »Seine Majestät und Mister Morel« geht es um den journalistisch tätigen Reederei-Angestellten Edmund Dene Morel, der eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufdeckte, begangen von Leopold II., König von Belgien. Die Kolonie Kongo befand sich zu dieser Zeit im Privatbesitz des belgischen Königs. Um so viel Ertrag wie möglich herauszupressen, zwang man die Ureinwohner mit extrem brutalen Methoden zur Arbeit auf den zahllosen Kautschukplantagen: Familien wurden als Geiseln genommen, bei Strafexpeditionen ganze Dörfer niedergebrannt. Menschen wurden verstümmelt, wenn sie zu wenig Kautschuk ablieferten; das Bild, wie ein Vater auf die abgehackte Hand und den abgehackten Fuß seiner fünfjährigen Tochter starrt, ist ein Dokument unfassbarer kolonialer Grausamkeit. Nach Schätzungen fielen diesen drakonischen Maßnahmen – die von Leopold II. persönlich angeordnet wurden und unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit stattfanden – etwa zehn Millionen Menschen zum Opfer. Edmund Morel ist es zu verdanken, dass diese Verbrechen bekannt wurden und endeten, nachdem in den Zeitungen eine Welle der Empörung losgebrochen war. Dieses Kapitel steht beispielhaft für die Verbrechen des europäischen Kolonialismus, die nicht nur den afrikanischen Kontinent bis heute prägen. Aber es zeigt auch, wie einzelne Menschen etwas verändern können: »Sein Kreuzzug für den Kongo war die erste großangelegte Menschenrechtskampagne, sein Arbeitszimmer in Liverpool die erste aus privaten Spenden finanzierte NGO, mit deren Hilfe auch Privatleute Einfluß auf die Weltpolitik ausüben konnten und können.«

In einem weiteren Kapitel schreibt Philipp Blom über den Kampf der Suffragetten für Frauenrechte – zum ersten Mal in der europäischen Geschichte werden patriarchalische Strukturen von einer ganzen Bewegung in Frage gestellt. Am 21. Juni 1908 kamen im Londoner Hyde Park mindestens eine halbe Million Menschen zusammen, um für das Frauenwahlrecht zu demonstrieren. Dieser »Women’s Sunday« war eine der größten dokumentierten Versammlungen der modernen Geschichte.

An anderer Stelle erfahren die Leser, wie das radikal-wissenschaftliche Thema Eugenik und die Zucht perfekter Menschen damals europaweit ernsthaft diskutiert wurde. Ein Vierteljahrhundert später sollte in Deutschland aus diesem naiven Fortschrittsglauben ein barbarischer Alptraum werden.

Dann geht es um das deutsch-britische Flottenwettrüsten, das die beiden Länder zunehmend entfremden und verheerende Folgen haben würde. Oder um die künstlerische Avantgarde als Spiegel ihrer Zeit; beispielhaft seien Alfred Kubin, Oskar Kokoschka, Franz Kafka oder Robert Musil genannt. Um den Rausch der Geschwindigkeit, verkörpert durch Automobile, die ersten Flugzeuge, elektrische Straßenbahnen, um die Eisenbahn als Massentransportmittel. Überhaupt war Geschwindigkeit ein großes Thema jener Zeit – alles wurde schneller, hektischer, aber auch unbeherrschbarer. Das Bild auf dem Buchcover ist dafür ein geradezu perfektes Zeugnis: Entstanden ist es am 26. Juni 1912 beim französischen Grand-Prix-Autorennen. Der achtzehnjährige Jacques Henri Lartigue möchte einen der vorbeirasenden Rennwagen photographieren – und hat ihn nur zur Hälfte auf dem entwickelten Bild. Es ist ein Photo, das er damals für misslungen hielt, aber das heute eine photographische Ikone jener Zeit darstellt – und zum Bestand des Museum of Modern Art in New York gehört. Auch über ein Jahrhundert später kann man die Geschwindigkeit, die das Bild ausstrahlt, fast körperlich spüren. 

Ein Zeitalter voller Dynamik, radikaler Umbrüche und zunehmender Verunsicherung; Philipp Blom schildert es uns brillant und mit zahllosen Details. Und nicht nur einmal nickt man beim Lesen wiedererkennend oder zustimmend, denn jene Welt fühlt sich zunehmend vertraut an. Etwa wenn es heißt:

»Niemals zuvor hatte die Wissenschaft Fähigkeiten und Kenntnisse der Menschen so radikal erweitert und niemals zuvor hatte sie gleichzeitig das Selbstbewusstsein ihrer Zeitgenossen so stark unterminiert. Mehr Wissen bedeutete auch weniger Vertrauen in die Wahrnehmung, in die Zukunft. Mehr Wissen machte die Welt zu einem dunkleren, weniger bekannten Ort.«

Wer unsere Welt verstehen will, muss die Geschichte kennen. Kein neuer Satz, aber zeitlos wahr. Und Bücher wie dieses helfen uns dabei.

Buchinformation
Philipp Blom
Der taumelnde Kontinent – Europa 1900 bis 1914
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-23292-1

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4 Antworten auf „Europa im Geschwindigkeitsrausch“

  1. Ein Buch, das ich immer wieder zur Hand nehme und mich darin verlieren kann. Auch das Nachfolge-Buch „Die zerrissenen Jahre“ ist besonders lesenswert. Ich bin eine große Verehrerin von Philipp Blom – wenn ich an seine Rede anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele denke, verneige ich mich vor ihm. (Linda Woess, Autorin aus Wien)

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