Es geschieht nicht oft, dass ich sieben Jahre nach einem Blogbeitrag noch einmal über das gleiche Buch schreibe. Es geschieht allerdings auch nicht oft, dass ein Autor als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten in den US-Wahlkampf zieht – und dabei mit grotesk reaktionären Sprüchen den blondierten Psychopathen unterstützt, der eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie und die freie Welt darstellt. Natürlich ist die Rede von J.D. Vance und seinem autobiographischen Werk »Hillbilly-Elegie«. Ein Werk, das mich sehr beeindruckt hat, als ich es 2017 gelesen habe. Damals schrieb ich hier im Blog: »Ein Buch über das Verschwinden einer Arbeiterklasse, über die Verlogenheit des amerikanischen Traums und über den steinigen Weg zu einem bürgerlichen Leben: J.D. Vance zeigt uns in »Hillbilly-Elegie« eine für uns kaum vorstellbare Welt und beschreibt anschaulich den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft. Außerdem ist es ein Buch, das mir eine Türe zu längst vergessen geglaubten Erinnerungen aufgestoßen hat.«
In diesen zwei Sätzen steht alles, was das Buch seinerzeit für mich so besonders machte: Zum einen brachte es mir die Welt der Abgehängten, der Verlierer näher, von denen es unendlich viele im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gibt. Half mir zu verstehen, wie das weiße Prekariat in den USA tickt, zu dem die Kaste der Politiker schon längst jeden Kontakt verloren hat. Was sie umso wichtiger für einen Mann wie Trump macht, der sich plakativ von »denen da oben« abgrenzt. Alleine deshalb ist es in meinen Augen auch heute ein wichtiges Werk, allerdings würde ich es jetzt aufgrund der politischen Entwicklung des Opportunisten J.D. Vance nicht mehr unvoreingenommen lesen können. Daher bin ich froh, dass es bereits vor sieben Jahren erschienen ist – lange vor seiner Hundertachtzig-Grad-Wende vom Trump-Gegner zum Unterstützer. Sonst wäre mir vielleicht eine wertvolle persönliche Erfahrung entgangen: Denn das Buch beschäftigt sich intensiv mit der Frage von Klassenzugehörigkeit – und wie einen die Herkunft immer prägen wird, auch wenn man einen gesellschaftlichen Aufstieg schafft. Dieser Teil des Buches schickte mich tief hinein in die Erinnerungen an mein Aufwachsen, weshalb der Blogbeitrag seinerzeit sehr persönlich geworden ist. Und auch wenn die Lektüre heute durch die Politik einen anderen Hintergrund hätte: Empfehlen würde ich das Buch nach wie vor.
Ein Auslöser für diesen Blogbeitrag ist die SPIEGEL-Schlagzeile gewesen: »Ullstein wirft Buch von J.D. Vance aus dem Programm«. Diese Überschrift ist so auf Populismus getrimmt, dass es schon nicht mehr ärgerlich, sondern nur noch lächerlich ist. Denn das im Ullstein Verlag auf Deutsch erschienene »Hillbilly Elegie« war zu diesem Zeitpunkt schon länger nicht mehr lieferbar; bedingt durch die Kurzlebigkeit des Buchmarkts (aber das ist eine andere Geschichte). Ullstein hätte nach der Nominierung von J.D. Vance zum Kandidaten des Vizepräsidenten über eine Neuauflage nachdenken können, sich aber dagegen entschieden – da der Autor als Politiker inzwischen eine »aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik« vertritt und er daher nicht mehr zu den Werten des Verlags passe, so die Begründung. Nun ist jeder Verlag frei in seinen Entscheidungen der Programmgestaltung, das hat mit »Zensur« – wie es vereinzelt im Netz zu lesen war – nichts zu tun. Doch die Überschrift des SPIEGEL hätte auch lauten können »Ullstein beschließt, das Buch von J.D. Vance nicht neu aufzulegen« – so sähe Journalismus ohne Clickbaiting aus.
Und es gibt noch eine kleine Pointe hinter der Geschichte, denn die Rechte an »Hillbilly Elegie« gingen anschließend an den noch jungen Yes Verlag in München. Dort erscheint das Buch nun in Neuauflage. In allen Onlineshops ist es bereits aufgeführt, auf der Homepage des Verlags habe ich es noch nicht gefunden. Dafür war aber der Blick ins Impressum interessant: Die Bücher des Yes Verlags werden von der Münchner Verlagsgruppe vertrieben. Die Münchner Verlagsgruppe gehört seit 2018 zum Medienkonzern Bonnier. Genau wie übrigens der Ullstein Verlag. Der Umsatz aus den »Hillbilly Elegie«-Buchverkäufen bleibt also in der Familie, irgendwie jedenfalls. Das verleiht dem plakativen »Rauswurf« des Autors dann doch eine etwas unglaubwürdige Note. Aber was soll’s, Hauptsache, das Buch ist wieder lieferbar. Denn verkehrt ist es sicher nicht, den familiären Hintergrund und die Herkunft eines Menschen zu kennen, dessen Reden und Sprüche man abstoßend finden mag, der aber eventuell der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden könnte. Was ich nicht hoffe, alle verfügbaren Daumen sind für Kamala Harris und Tim Walz fest gedrückt.
Anderswo
Im Blog buchpost gibt es eine lesenswerte Besprechung von »Hillbilly Elegie« – ebenfalls mit Nachträgen, die sich mit der verabscheuungswürdigen politischen Entwicklung des Autors befassen.
Buchinformation
J. D. Vance, Hillbilly-Elegie
Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens
Yes Verlag
ISBN 978-3-96905-364-5
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Ganz kann ich Dir heute nicht mehr in Deiner Einschätzung des Buches folgen. ich denke mittlerweile, es greift zu kurz, blendet aus, analysiert die Strukturen in keinster Weise sauber und ist deshalb zu platt gedacht. Wenn ich Didions „Woher ich kam“ dagegen halte, wird total klar, was er hier schon für Lücken aufweist und wo der Ursprung seines „Wandels“ liegt. LG, Bri
Das Buch habe ich tatsächlich damals und heute nicht gelesen. Aber jetzt, nach der Nominierung, habe ich mir die Verfilmung erstmals angesehen, und fand sie wirklich ausgezeichnet. Eine gute Geschichte, gut erzählt. Und nein, er wird nicht Vizepräsident. Bestimmt nicht. Hoffentlich. Bitte, danke …
Interessant, dass die Rechte am Buch bei derselben Verlagsgruppe geblieben sind. Die Spiegel-Kampagne befeuert sicher den Bekanntheitsgrad und Verkaufserfolg. Was die amerikanischen Wahlen anbetrifft: ich weiß wirklich nicht, warum ich Harris-Walz den Daumen drücken soll. Haben sie einen interessanten politischen Ansatz, der das in Hillbilly Elegy beschriebene Drama beenden könnte? Es ist ja nicht von ungefähr, dass sich so viele Menschen aus unterpriviligierten Verhältnissen von den Demokraten abgewandt haben. Das Problem ähnelt def Abwanderung von Wählern der SPD zur AfD.
Es ist nur indirekt dieselbe Verlagsgruppe, der Yes Verlag gehört nicht fest dazu, ist aber vertrieblich verbunden. Und was das Daumen drücken angeht, ist es ganz einfach: Damit der Rassist und Sexist Trump nicht noch einmal das Präsidentenamt beschmutzt. Davon abgesehen wurden in der Amtszeit Bidens so viele neue Jobs geschaffen, wie schon lange nicht mehr.