»Ich las oft im Gehen«

Anna Burns: Milchmann

Belfast. Ich muss nur dieses Wort, diesen Städtenamen schreiben – schon sind Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf. Bilder einer regennassen Straße, über die ein Panzerwagen fährt. Eines belebten Platzes in der Innenstadt, der von einer schwerbewaffneten Einheit britischer Soldaten schnell durchquert wird. Eines hohen Zaunes, dem Peacewall, und zweier Uniformierter, die an einem Tor stehen und angespannt schauen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Bilder von Mauern, übersät mit martialischen Graffiti, von trostlosen, grauen Straßen, von ausgebrannten Ruinen inmitten der Häuserzeilen, fehlenden Zähnen gleich. Und über allem das unterschwellige Gefühl von Gewalt, die jederzeit ausbrechen kann. Ich war im März 1993 nur drei Tage in Belfast, aber ich werde diesen kurzen Besuch nie vergessen. Die Schwarzweißbilder in diesem Beitrag sind während dieses kurzen Aufenthalts entstanden. Sie sind etwas körnig, da ich keine Negative dazu habe und sie abphotographieren musste.

Dabei waren zu Beginn der Neunziger die allerschlimmsten Jahre schon vorbei; in den Siebzigern oder Achtzigern herrschte Bürgerkrieg in Belfast und in Nordirland – Katholiken gegen Protestanten, die IRA gegen die britische Armee und die Milizen des Oranierordens. Dabei ging es schon längst nicht mehr um Freiheit oder Unabhängigkeit; die IRA war zu einer Organisation mit mafiaartigen Strukturen mutiert, die von Schutzgeldern und Erpressungen lebte und die Briten vergalten Terror mit Gegenterror, mit Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und flächendeckender Überwachung. Und zwischen den Fronten saßen die Menschen fest, die in einem permanenten Ausnahmezustand lebten und deren Alltag bestimmt war von totalitären Strukturen und strengkonservativen gesellschaftlichen Zwängen. Mitten hinein in diese Zeit, mitten hinein in das Belfast der Siebzigerjahre führt uns der Roman »Milchmann« von Anna Burns. Ohne Belfast, Nordirland oder Großbritannien auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen.

Belfast 1993: Straße im Regen
Belfast 1993: Straße im Regen

Im Gehen lesen

Die Ich-Erzählerin ist eine junge Frau, die in ihrer Nachbarschaft auffällt. Sie ist unverheiratet, kinderlos, interessiert sich nicht für Religionszugehörigkeit oder Politik – und liest im Gehen. Was ich sofort sympathisch fand, denn ab und zu mache ich das auch, manchmal geht es kaum anders. »Ich las oft im Gehen. Das war für mich nichts Ungewöhnliches, und doch sollte es ein weiteres Indiz zu meinen Lasten werden. Lesen im Gehen war eindeutig verdächtig.« Denn jemand, der inmitten der festgefahrenen Strukturen einer Stadt im Belagerungszustand mit nichts von all dem zu tun haben möchte und lieber in der Welt der Bücher zuhause ist, wird von allen anderen misstrauisch beäugt. Als sie als unverheiratete junge Frau von einem Mann angesprochen wird, der in einem Milchmann-Lieferwagen unterwegs ist, beginnen sich Gerüchte in dem katholischen Viertel auszubreiten, dem eng begrenzten Stadtteil, in dem sie lebt. Wie ein Geschwür wuchern sie und beginnen, ihr die ohnehin schon dünne Luft zum Atmen immer weiter abzuschnüren. Eine fatale Entwicklung nimmt ihren Lauf. 

Belfast 1993: Tiefhaengende Wolken über der Stadt
Belfast 1993: Tiefhängende Wolken über der Stadt

Gemeinsam lesen

Gelesen habe ich »Milchmann« gemeinsam mit Linda König, die auf Instagram als @linda.konigliest über Bücher schreibt. Es begann mit einem Zufall: Im Instagram-Account des Eichborn-Verlags, für den ich arbeite, haben am Welttag des Buches alle aus dem Verlagsteam ihre privaten Bücherregale photographiert. Bei mir war der plakativ gestaltete »Milchmann«-Buchrücken gut auf dem Bild zu sehen, Linda schrieb mich an und schlug vor, das Buch gemeinsam zu lesen, falls ich es noch nicht kennen sollte. Tatsächlich stand es es schon ein paar Jahre im Regal; 2018 hatte Anna Burns den Booker Prize dafür erhalten, damals war ich neugierig geworden, doch der richtige Lesezeitpunkt hatte sich noch nicht ergeben. Aber jetzt war er da. Wir teilten das Buch in drei Lektüreteile auf, nach denen wir uns jeweils per E-Mail über das Gelesene austauschen würden, erstellten einen Zeitplan und dann ging es los. Eigentlich bin ich eher die Sorte einsamer Leser, Lesezirkel oder Leserunden sind normalerweise nicht mein Ding – aber in diesem Fall war es perfekt. Denn »Milchmann« entpuppte sich als ein Buch, das zwar einen tiefen Eindruck hinterlässt, zu dessen Kunstgriffen aber auch eine gewisse textliche Zähigkeit gehört. Es ist – finde ich – ein perfekt komponierter Roman, doch ob ich ohne unseren gemeinsamen Austausch durchgehalten hätte, wage ich zu bezweifeln. Zu Lindas Resümee geht es hier.

Belfast 1993: Ein Tor im »Peacewall«
Belfast 1993: Ein Tor im »Peacewall«

Erster Eindruck und erste Verwirrung

Beide starteten wir mit großer Begeisterung und beide stolperten wir schnell über die ersten Fallstricke der Handlung. Die Perspektive der Ich-Erzählerin, verbunden mit inneren Monologen, die weiter und weiter abschweifen, sich im Kreis zu drehen scheinen und sich in immer tiefer verschachtelten Gedankengängen verlieren, sorgte für erste Irritationen. Gleichzeitig dauerte es eine Weile, bis man die Handlung zeitlich einordnen konnte: Dass es sich bei der namenlosen Stadt um Belfast handelt, war irgendwie klar – aber welches Belfast? Details wiesen auf die siebziger oder frühen achtziger Jahre hin, aber manchmal wirkte es schon fast wie eine Dystopie – das archaische Frauenbild à la Atwood, die in Büschen und an Bäumen versteckten Kameras zur Totalüberwachung à la Orwell könnten auch auf eine rückwärtsgewandte Gesellschaft in einer nicht näher benannten Zukunft hinweisen. Erst auf Seite 81 wird es dann konkret: »…dass wir uns in den Siebzigerjahren befanden …« – das fand ich regelrecht erlösend, da zumindest die zeitliche Irritation aufgelöst wurde. 

Belfast 1993: Arbeitersiedlung
Belfast 1993: Arbeitersiedlung

Aber namenlos bleibt nicht nur die Stadt, namenlos bleiben auch sämtliche auftretenden Personen, die lediglich bezeichnet werden als »Schwager eins« oder »Vielleicht-Freund« oder – wie die Protagonistin selbst – »Mittelschwester«. Überraschenderweise störten diese protokollartigen Benennungen kein bisschen; es passte zu der erst einmal zeitlich unbestimmten Verortung der Handlung. 

Von Beginn an ist die Person des Milchmanns – der eigentlich gar kein Milchmann ist, sondern lediglich einen Lieferwagen fährt, mit dem üblicherweise die Milch ausgeliefert wird – auf eine diffuse Art beunruhigend: Er taucht auf, es bleibt unklar, was sein plumper Annäherungsversuch soll – und im Laufe der ersten neunzig Seiten wird aus dieser fiesen Figur ein angeblich wichtiger Untergrundkämpfer, einfach so, ohne weitere Erklärungen. Die Autorin spielt dabei regelrecht mit dem Stilmittel des Gerüchts – ein Gerücht in einer Handlung, in der es um Gerüchte geht, die ein Leben ruinieren können. 

Belfast 1993: Graffiti mit Hund
Belfast 1993: Graffiti mit Hund

Zweiter Leseabschnitt: »Ich wollte gern mein Gehirn zurückhaben«

Den zweiten Leseabschnitt hat Linda gut auf den Punkt gebracht: »Ich wollte gern mein Gehirn wieder zurückhaben. So hat es sich angefühlt… die Erzählerin hat sich mit ihren wirren und dann auch wieder völlig klaren Gedanken in meinen Kopf gesetzt, einmal alles durcheinandergebracht, meine Wahrnehmung beeinflusst und mich somit völlig fertig gemacht.«

Mir ging es ähnlich. Ich musste beim Weiterlesen an eine erste Einschätzung von Linda denken, in der sie schrieb, dass sie die Erzählerin gerne anstupsen und ihr sagen würde, dass sie endlich auf den Punkt kommen soll. Im Verlauf der weiteren Handlung hat es mich schon fast wütend gemacht, zu sehen, dass die Protagonistin es nicht hinbekommt, sich gegen Gerüchte und die üble Nachrede zu wehren, die langsam bedrohlichen Charakter annehmen; alles ausgelöst durch den Annäherungsversuch des Milchmanns. Bis mir klar wurde, dass ich damit Täter-Opfer-Umkehr betreibe, denn eigentlich müsste man auf die Gerüchte-Verursacher, auf all die Tratschenden wütend sein. Und auf den sie stalkenden Milchmann, der in der mysteriösen IRA-Hierarchie immer höher angesiedelt zu sein scheint. Linda ging es ähnlich: »Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, wie ich mich von der Erzählerin distanzieren möchte, ihr selbst nicht mehr folgen kann und ihrer Wahrnehmung und ihren Gedanken nicht (mehr) vertraue. Und dadurch genau dasselbe mache wie ihr Umfeld. Ich gebe ihr die Schuld und stelle die Menschen, die alles so wunderbar klar sehen, über sie. Das gefällt mir sehr an diesem Buch und ich hinterfrage mein Interpretieren und auch mein Bedürfnis nach der Eindeutigkeit und nach der einfachen Antwort auf eine komplexe Frage und unklare Situation.«

Belfast 1993: Stacheldraht
Belfast 1993: Stacheldraht

Es ist ein faszinierender Kunstgriff der Autorin, der uns Leser dazu bringt, genau gleich zu agieren wie all die Nachbarn oder Bekannten der Ich-Erzählerin, die das Leben für sie immer schwerer machen, sie immer weiter in die Rolle einer Außenseiterin drängen. Gleichzeitig beschreibt Anna Burns – mal in Anspielungen, mal sehr konkret und oft mit einer feinen Prise Sarkasmus – die totalitäre Struktur einer Stadt, eines Stadtbezirks im Ausnahmezustand, in dem niemand weiß, wem man trauen kann. Eine Struktur, die es der Ich-Erzählerin unmöglich macht, sich gegen Gerüchte und Anschuldigungen zu wehren – auch weil sie, ohne es zu wollen, schon längst selbst zu einem Teil dieser Struktur geworden ist.

Dritter Leseabschnitt: Ein anstrengendes und faszinierendes Buch

Die Schraube der paranoiden Grundstimmung wurde im letzten Leseabschnitt nochmals weitergedreht, die Isolation, in der sich die Ich-Erzählerin inzwischen befindet, tritt immer deutlicher zu Tage. Wie der Milchmann sich weiter und weiter in ihr Leben drängt, wie sie durch all die Gerüchte und ihre zunehmend zementierte Außenseiterrolle zur Sprachlosigkeit verdammt ist, wie er immer bedrohlicher auftritt, ohne dass er sie jemals angefasst oder auch nur angeschaut hat – das ist grandios erzählt. Vor allem, weil sich alles nur in ihren wirren Gedanken abspielt und wir als Leser sie tief in diese Gedanken hinein begleiten müssen, um die ganze subtile Brutalität des Erzählten zu erfassen. Wie das alles ausgeht, verrate ich nicht, aber zum Ende hin spielt in einer Geschichte, in der es keine Namen gibt, tatsächlich ein Name eine wichtige Rolle. 

Belfast 1993: Innenstadt
Belfast 1993: Innenstadt

Linda und mir ging im letzten Leseabschnitt ähnlich: Sorgten davor die kruden Gedankengänge der Ich-Erzählerin für eine gewisse Gereiztheit und Distanzierung, so überwog irgendwann das Mitgefühl. Und Linda stellte die wichtige Frage: »Was hätte ich gemacht und wie kann man sich vor so einer Situation überhaupt schützen?«

»Milchmann« ist ein anstrengendes, faszinierendes und ungewöhnliches Buch, das uns viel über ein Leben in einer Gesellschaft mit totalitären Zwängen berichtet, in der nur das Angepasstsein zählt und das Anderssein zur tödlichen Gefahr werden kann. Es zu zweit zu lesen, war etwas ganz Besonderes – ich danke Dir sehr für die Idee dazu, liebe Linda. Der Roman und unser Austausch werden mir noch lange im Gedächtnis bleiben.

Und jedes Mal, wenn ich im Gehen lese, werde ich fortan an Mittelschwester denken. 

Buchinformation
Anna Burns, Milchmann
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
Tropen Verlag
ISBN 978-3-608-50468-2

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6 Antworten auf „»Ich las oft im Gehen«“

  1. Das Buch muß ich lesen.
    Ich war ca zweite Hälfte der 1980er Jahre in Belfast (nach 1 Woche zu Birmingham im Schulungszentrum meines damaligen Arbeitgebers — danach Nachtzug nach Stranraer und Fähre nach Belfast). Unterkunft in der Falls Road bei einer politischen Freundin aus der internationalen politischen Bewegung.

    Die Art wie die englischen Soldaten (immer zu zweit) auf Patrouille durch die Falls Road gingen, hat deutlich das Machtverhältnis London zu irischem Nationalismus gezeigt,

  2. Das Buch ist großartig. Die Namenlosigkeit wichtig, denn diese Dinge können jeder Person pasdieren und waren/sind alltäglich. Ein Buch, das lange nachhalt. Schwierig fand ich es nicht direkt, auch nich anstrengend, aber ehrlich hart. LG Bri

  3. Anfang der des Jahres 1970 war ich einen Monat in Derry (Nord-Irland). Ich sehe ähnliche Bilder, wenn ich an diese Zeit zurückdenke . . .
    Stentor

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