Aus Overstolz wird Camel

Volker Kutscher: Transatlantik - der neunte Roman der Gereon-Rath-Reihe

»Er zündete sich eine Overstolz an« – dieser Satz kündigt den Auftritt von Gereon Rath an und in den bisherigen Bänden der Buchreihe von Volker Kutscher dauert es nicht lange, bis er fällt. Diesmal nicht. In »Transatlantik«, dem neunten Rath-Roman, müssen wir bis Seite 63 warten, erst dann können wir ihn zum ersten Mal lesen. Denn inzwischen ist die Reihe im Jahr 1937 angekommen und für die Protagonisten hat sich alles verändert. Charlotte »Charlie« Rath arbeitet nach wie vor in der Detektei ihres früheren Vorgesetzten bei der Kripo und weiß nicht, ob und wo ihr Mann lebt. Gereon Rath, von SS und Gestapo verfolgt, schafft es per Zeppelin aus Deutschland heraus und versucht in New Jersey Fuß zu fassen. Und Ziehsohn Fritze, einst begeistertes HJ-Mitglied, wird zum Opfer des Systems und seiner verbrecherischen Machenschaften. Diese drei Erzählstränge bilden den Rahmen für die Handlung des Romans – der uns wieder einen Schritt weiter hinein in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« führt. 

Bevölkert ist »Transatlantik« mit vielen Personen aus der Welt des Gereon Rath, die Volker Kutscher nunmehr seit fünfzehn Jahren mit akribischer Recherche und schriftstellerischer Leidenschaft geschaffen hat. Und wie es so ist beim neunten Band einer Reihe: Selbstverständlich kann man ihn auch einzeln lesen, im Großen und Ganzen ist die Handlung in sich abgeschlossen. Doch natürlich gibt es zahllose Verweise und Anspielungen auf die vorhergehenden Bände, so dass es empfehlenswert ist, mit Teil eins zu beginnen. Dann nämlich entfaltet die Reihe ihren ganz besonderen Reiz.

Alles beginnt mit dem Band »Der nasse Fisch« im Jahr 1929, als Gereon Rath von Köln kommend bei der Berliner Kripo anfängt – nicht ganz freiwillig, aber das ist eine andere Geschichte. Und von Roman zu Roman begleiten wir ihn bei der Lösung seiner Fälle, meist in Berlin, aber auch auf Ermittlungsreisen, die etwa in die ostpreußische Provinz oder nach Nürnberg führen. Dabei verändert sich das geschichtliche Hintergrundrauschen: War zu Beginn vielleicht einmal von einer Straßenschlacht zwischen SA-Schlägern und Kommunisten die Rede, lässt ab und zu der ein oder andere Kollege eine Bemerkung fallen, aus der eine gewisse Sympathie für die NSDAP herauszuhören ist, so wird dieses Hintergrundrauschen lauter und lauter. Und die politische Gemengelage beginnt mehr und mehr die Polizeiarbeit zu prägen. Der fünfte Band mit dem Titel »Märzgefallene« spielt im Jahr 1933, Hitler ist Reichskanzler und die bisher nur am Rand wabernde Dunkelheit ist nicht mehr aufzuhalten. Diese erst schleichende, dann immer dramatischer werdende Entwicklung macht die Besonderheit der Reihe aus und zeigt uns ein Land auf dem Weg in den Abgrund. In den Bänden »Lunapark«, »Marlow« und »Olympia« hält der Alltag des »Dritten Reiches« Einzug – mit einem repressiven Unterdrückungsapparat auf der einen und Millionen von fanatisierten Deutschen auf der der anderen Seite.

Brillant ist die Handlung stets mit wichtigen geschichtlichen Ereignissen verwoben, die in entscheidenden Momenten für unerwartete Wendungen sorgen; sei es etwa von Papens berüchtigter »Preußenschlag« als Anfang vom  Ende der Weimarer Republik, sei es der »Röhm-Putsch«, der Nürnberger Reichsparteitag des Jahres 1935, die Errichtung des Konzentrationslagers Oranienburg, während nur wenige Kilometer weiter die Olympiade in Berlin ausgetragen wurde und – in »Transatlantik« – der Absturz des Luftschiffs »Hindenburg«. Als Leser wissen wir, was auf Gereon und Charlotte Rath zukommen wird. Wir wissen, wie sich Deutschland in atemberaubender Geschwindigkeit in einen gnadenlosen Unrechtsstaat verwandelt hat. Und bangen mit den beiden, die zunehmend zu Getriebenen werden. 

Kaum etwas eignet sich besser, um eine vergangene Epoche kennenzulernen, als gut recherchierte Kriminalromane – und die Gereon-Rath-Reihe von Volker Kutscher ist dabei herausragend. Band für Band tauchen wir in eine Zeit ein, deren Dynamik und Komplexität wir als Nachgeborene heute kaum verstehen können. Und deren menschenverachtender Brutalität wir fassungslos gegenüberstehen. 

Der Autor begeht dabei nicht den Fehler, eine Art Heldengeschichte zu erzählen, ganz im Gegenteil. Gereon Rath versucht lange – zu lange – die politischen Geschehnisse zu verdrängen, nicht an sich heranzulassen. Für ihn sind Polizeiarbeit und Politik voneinander getrennt; ein naiver Gedanke, der ihn zum Ausgegrenzten machen wird. Und hier vermeidet Volker Kutscher einen weiteren Fehler, indem er Gereon Rath nicht zu einem genretypischen, zynischen Einsamer-Wolf-Ermittler werden lässt, auch wenn er nicht unbedingt ein Teamplayer ist und oft im trüben Wasser zwischen Legalität und Illegalität fischt. Doch ab dem Jahr 1933 ist Rath zunehmend isolierter, von Band zu Band brechen mehr Sicherheiten weg, der Staat, das Land verändern sich rasant. Und irgendwann geht es nur noch um das Überleben. Nicht nur für ihn. 

In Band neun, in »Transatlantik«, ist er also tatsächlich in den USA gelandet, genauer gesagt, in Hoboken, New Jersey; direkt gegenüber von Manhattan. Damit aber nicht aus der Schusslinie geraten – auch auf der anderen Seite des Atlantiks muss er es mit einem alten Todfeind aufnehmen. Das ist allerdings schon fast eine Nebenhandlung des Romans, denn diesmal geht es vor allem um Charlotte Rath, die nach wie vor in Berlin ausharrt, auch wenn ein gefälschter Pass schon bereit liegt. Die keine Ahnung hat, ob Gereon noch lebt. Die verzweifelt versucht, ihrem früheren Ziehsohn Fritze aus einer ziemlich üblen Situation herauszuhelfen – er ist zwangsweise in einer Nervenheilanstalt untergebracht. Sie gilt als regimekritisch, muss bei jeder Äußerung vorsichtig sein, weiß nicht, wem sie trauen kann und wem nicht. Und muss ihre Freundin und Mitbewohnerin Greta finden, die verschwunden ist und deren Verschwinden mit einem Mordfall in Verbindung steht. Ihre Ermittlungen führen sie nicht nur hinein in die letzten Reste des einst weltberühmten Berliner Nachtlebens, sondern bis nach Carinhall, dem pompös-geschmacklosen Landsitz von Hermann Göring im Norden Brandenburgs. Scheint sie zuerst auf der Stelle zu treten, nimmt die Handlung irgendwann Fahrt auf und steuert rasant auf einen Punkt in Charlottes Leben zu, an dem sie eine Entscheidung treffen muss. Wieder einmal. 

Und Gereon? Regelmäßig schwenkt die Handlung in die USA, zeigt uns seine ersten Schritte in der neuen Welt, mit einem neuen Namen. Und seinen Kampf mit einem alten Gegner. Seine geliebten Overstolz-Zigaretten gibt es nicht mehr, stattdessen heißt es nun: »Rath klopfte eine Camel aus der Schachtel und steckte sie an.« 

Wie wird es weitergehen? Seit Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 2007 begleiten Gereon Rath und Charlotte Ritter mein Leserleben; jeder Roman hat mich aufs Neue begeistert. Und als 2013 dieser Blog online ging, war der Beitrag über diese Buchreihe einer der ersten. 2017 konnte ich Volker Kutscher interviewen, damals meinte er, dass er die Romanreihe ursprünglich bis 1936 angelegt habe, dem Jahr, in dem die Polizei der SS unterstellt wurde – spätestens dann hätte Gereon Rath gewusst, wohin der Weg führen würde und sich entscheiden müssen, wo er steht. Doch dieser Punkt ist längst überschritten. Geplant ist nun, dass die Reihe vor dem Hintergrund der Pogromnacht 1938 ihren Abschluss finden soll – einem Moment in unserer Geschichte, ab dem es kein Zurück mehr geben würde auf dem Weg Richtung eines unvorstellbaren Zivilisationsbruches

Gegen Ende von »Transatlantik« beginnen die Fäden auf beiden Seiten des Meeres zusammenzulaufen und die Figuren werden in Position gebracht für ein Finale. Für den zehnten Rath-Roman als düsteren Abschluss einer der besten Krimireihen unserer Zeit. 

Buchinformation
Volker Kutscher, Transatlantik
Piper Verlag 
ISBN 978-3-492-07177-2

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