»Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen.« Diese häufig zitierten Sätze schrieb Franz Kafka als Neunzehnjähriger, es sind klarsichtige Worte eines jungen Mannes, der den Großteil seines viel zu kurzen Lebens in dieser Stadt verbringen wird. Sie ist sein Geburtsort, der Platz seiner Familie, von der er sich durch die dominante Präsenz seines Vaters nie wirklich lösen kann. Und so wird Prag sein gesamtes Schaffen prägen; die prachtvollen Plätze und düsteren Gassen, die erleuchteten Kaffeehäuser und dunklen Hinterhöfe, die Nebelschwaden, die aus der Moldau aufsteigen, eine mystische, unterschwellig bedrohliche Stimmung, die nachts in den leeren Straßen liegt, das Morbide einer jahrhundertealten Stadt – all das finden wir in Kafkas Werk wieder. »Das Charakteristische der Stadt ist ihre Leere« – eine Notiz aus seinem Nachlass. Heute, ein Jahrhundert nach seinem Tod, kommt einem dieser Satz surreal vor angesichts der Touristenmassen, die sich tagein, tagaus durch die Stadt an der Moldau schieben und sie schon längst zu einer Kulisse degradiert haben. Oder doch nicht? Hat Kafkas Prag im Verborgenen überlebt? Gibt es sie noch, jene Atmosphäre, die sein Leben prägte? Der Photograph Helmut Schlaiß hat sich auf eine Spurensuche begeben – und herausgekommen ist ein prachtvoller Bildband mit dem Titel »Kafkas Kosmos«. „Flaneur der Dämmerung“ weiterlesen
Apokalypse, Sinnsuche und Literatur
Schon seit sieben Jahren möchte ich diesen Beitrag schreiben. Und seit sieben Jahren suche ich dafür die passenden Worte, denn es geht um einen sehr persönlichen Blick auf die Welt: Um Glauben, Religion und Spiritualität. Auch jetzt, in dem Moment, in dem ich beschlossen habe, damit zu beginnen, weiß ich nicht, wohin der entstehende Text mich führen wird. Wieder einmal hat alles mit einem Buch zu tun, diesmal mit einem ganz besonderen: 2016 ist im Manesse Verlag eine Neuübersetzung der Apokalypse erschienen. Ein spannendes Projekt, denn die Offenbarung des Johannes – wie der offizielle Name ja lautet – ist in dieser aufwendig gestalteten Ausgabe eine Art Auskopplung aus der Bibel. Und wird zu einem literarischen Text, kraftvoll, wuchtig, finster und rätselhaft; auf eine surreale Weise dystopisch wie ein fiebriger Traum. Die Übersetzung aus dem Altgriechischen stammt von Kurt Steinmann, der dazu in einem Interview sagte: »Für mich ist die Apokalypse in erster Linie ein bildhaftes und wortgewaltiges Sprachkunstwerk. In seinen ungeheuren Bildern wirkt es beinahe wie eine Antizipation, eine Vorwegnahme der expressionistischen Literatur etwa von Trakl oder Heym.« „Apokalypse, Sinnsuche und Literatur“ weiterlesen
Die Bücher der Rose
2022 jährte sich das Erscheinen der deutschen Ausgabe von »Der Name der Rose« zum vierzigsten Mal. Dies feierte der Hanser Verlag mit einer wunderschön gestalteten Neuauflage des Romans von Umberto Eco in der bewährten Übersetzung von Burkhart Kroeber. Eine Ausgabe, an der ich nicht vorbeigehen konnte und die ich zum Anlass nahm, nach fünfunddreißig Jahren dieses großartige Werk ein zweites Mal zu lesen. Gleichzeitig erschien – im Zsolnay Verlag, der ebenfalls zu Hanser gehört – der Roman »Die schwarze Rose« von Dirk Schümer; laut der Ankündigung im Klappentext eine Art lose Fortsetzung von Ecos Meisterwerk. Zumindest würde man ein paar alte Bekannte wieder treffen: »Dort, wo Umberto Ecos ›Der Name der Rose‹ aufhört, setzt Dirk Schümers historischer Roman an«, heißt es auf der Buchrückseite. An ein Meisterwerk, an einen der ganz großen Romane der letzten Dekaden anknüpfen? Kann ein so schon fast anmaßendes Unterfangen gut gehen? Gelingen? Ich war skeptisch. Und neugierig. Aber lest selbst. „Die Bücher der Rose“ weiterlesen
Papiergewordene Geschichte, Teil zwei
Im Blogbeitrag »Papiergewordene Geschichte« habe ich vor einiger Zeit alte Bücher aus meinen Buchregalen vorgestellt, die für mich besondere Schätze sind. Nicht, weil sie besonders wertvoll wären, sondern weil sie als Objekte schon selbst Geschichten erzählen – und dadurch ein Stück papiergewordene Geschichte darstellen, vollkommen unabhängig vom Inhalt. Es sind Bücher, die schon seit Jahrzehnten durch die unterschiedlichsten Hände gegangen sind, die historische Umwälzungen überlebt haben und nun durch die Zeiten hindurch zu uns sprechen. Hier kommt die zweite Runde dieser Buchschätze. „Papiergewordene Geschichte, Teil zwei“ weiterlesen
Eine Epoche der Bücher
Seit Monaten lese ich in diesem Buch; den einen Abend ein, zwei Kapitel, den anderen Abend lediglich ein paar Seiten, immer mit großer Konzentration. Und es ist jedes Mal ein Genuss, denn stets schickt es mich auf eine Zeitreise in eine der faszinierendsten und spannendsten Epochen unserer Geschichte, lässt mich alte Texte entdecken, Zusammenhänge verstehen, das eigene Wissen vertiefen und ein Verständnis dafür entwickeln, wie gigantisch die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen jener Zeit waren, prägend für die Jahrhunderte danach. Und dazu ist dieses Buch ein gestalterisches Gesamtkunstwerk – die Rede ist von dem voluminösen Prachtband »Welt der Renaissance« von Tobias Roth. „Eine Epoche der Bücher“ weiterlesen
Mit Goethe im R4
Dieser Beitrag war schon länger geplant. Angesichts der dramatischen Folgen der Corona-Pandemie war ich mir nicht sicher, ob dies der richtige Zeitpunkt für eine solche Buchvorstellung ist. Denn es mag makaber wirken, gerade jetzt von diesem grandiosen Buch zu schwärmen. Doch andererseits zeigt es uns durch seine Entstehungsgeschichte die Dimension der aktuellen Geschehnisse. Und es hat zudem – so finde ich – auch etwas Tröstliches. Doch dazu später. Erst einmal sollte ich erzählen, um welches Buch es eigentlich geht.
Der Photograph Helmut Schlaiß hat sich mit seinem Projekt »Italienische Reise« einen langgehegten Traum erfüllt. Denn es handelt sich dabei nicht um irgendeine italienische Reise, sondern um diejenige von Johann Wolfgang von Goethe, der zwischen September 1786 und Mai 1788 lange in seinem Arkadien unterwegs war. Seine »Italienische Reise« ist die Grundlage dieses Buches; Helmut Schlaiß reiste jahrelang auf den Spuren des berühmten Dichters, in seinem alten R4-Kastenwagen – notdürftig zu einem mobilen Schlafplatz umgebaut – folgte er der von Goethe beschriebenen Route. Der Orignaltext ist im zweiten Teil des großformatigen Werkes komplett abgedruckt. „Mit Goethe im R4“ weiterlesen
Papiergewordene Geschichte
Im Laufe der Jahre sammeln sich viele Bücher an, bei denen man sich irgendwann fragt, warum man sie eigentlich besitzt. Sei es ein Mängelexemplar, das man für zwei Euro neunundneunzig erworben hat, weil einem irgendwie der Klappentext gefiel, seien es Bücher aus Haushaltsauflösungen, von Flohmärkten, Geschenke, belanglose Krimis, die man für eine längere Bahnfahrt noch schnell im Bahnhof gekauft hatte; Bücher, die man einmal unbedingt lesen wollte, die dann aber schon zwanzig Jahre im Regal stehen, weil sie einen dann doch nicht interessierten. Und. Und. Und. Gleichzeitig wird der Platz eng, ständig fließt ein Strom neuer Bücher in die Regale und auf die Stapel davor.
Deshalb ist es notwendig, den begrenzten Platz optimal zu nutzen und regelmäßig alle Regalmeterblockierer auszusortieren. Diese Bücher werden verschenkt, in öffentliche Bücherschränke gebracht oder in seltenen Fällen auch einfach zum Altpapier gegeben. Gleichzeitig ist dieses Durchforsten auch jedes Mal wieder eine Entdeckungsreise – man kommt vor lauter Anlesen und Blättern nicht schnell voran. Und das ist jedes Mal ein Genuß.
Und dann gibt es auch noch die besonderen Schätze, diejenigen Bücher, die mich zum Teil schon sehr lange begleiten und die ich niemals weggeben würde. Es sind alte Bücher, die ich in Antiquariaten gefunden habe, aber auch Fundstücke aus Kartons in Hauseingängen oder auf Fensterbrettern. Bei ihnen kommt es nicht auf den Inhalt an, vielmehr erzählen sie selbst Geschichten. Oder sind ein Stück papiergewordene Geschichte, sei es durch Widmungen, Stempel, Bibliotheksaufkleber oder Erscheinungsjahre. Für mich sind dies wahre Schmuckstücke, auch wenn sie meist auf den ersten Blick recht unscheinbar wirken. Für diesen Beitrag habe ich ein paar davon aus dem Regal geholt und zeige hier, was sie so besonders macht. „Papiergewordene Geschichte“ weiterlesen
Verwehte Spuren
»Verzeichnis einiger Verluste« von Judith Schalansky ist eines jener raren Bücher, bei denen man schon beim ersten Aufschlagen merkt, dass man etwas ganz Besonderes in den Händen hält. Das geschieht nicht oft, aber bei diesem Buch, nein, Gesamtkunstwerk war dieses Gefühl sofort da.
Schon der Geruch. Jede Lektüre beginnt mit einem tiefen Einatmen des Buchgeruchs, dieser wunderbaren Mischung aus Papier, Druckerschwärze und Leim, besser als jedes Parfum dieser Welt. Bücher riechen unterschiedlich und das »Verzeichnis einiger Verluste« duftete phänomenal – ich saß mit begeistertem Gesichtsausdruck in der Straßenbahn und erntete einen wissenden Blick von gegenüber. Nach den ersten Seiten beschloss ich, dieses Buch nicht in der Bahn zu lesen, es nicht der Hektik des Arbeitswegs auszusetzen; schon die zweiseitige Vorbemerkung lässt den Leser so tief in das Thema eintauchen, dass es schade um jede Störung von außen ist. „Verwehte Spuren“ weiterlesen
Das Jahrhundertgemetzel
Vor zwei Jahren startete das Leseprojekt Erster Weltkrieg, als sich der Beginn dieses vierjährigen Gemetzels zum hundertsten Mal jährte. Vier Jahre sind eine lange Zeit, doch auch in diesem 51monatigen Morden gab es Fixpunkte, die bis heute symbolisch für die industrialisierte Kriegsführung stehen, bei der Millionen von Soldaten nichts weiter waren als Menschenmaterial oder Kanonenfutter. Der Kampf um Verdun und die Schlacht an der Somme gehören ohne Zweifel dazu. Und beide Ereignisse sind 2016 genau ein Jahrhundert her. Der Graphic-Novel-Künstler Joe Sacco beschreibt in seinem Werk »Der Erste Weltkrieg – Die Schlacht an der Somme« die Geschehnisse an der Somme auf eine ganz besondere Weise. „Das Jahrhundertgemetzel“ weiterlesen
Völker, seht die Signale
Der im Steidl Verlag erschienene, monumentale Band »The Soviet Photobook 1920 – 1941« ist ein Photobuch. Über Photobücher. Über sehr besondere und sehr seltene Photobücher. Mikhail Karasik hat in jahrelanger mühsamer Kleinarbeit in russischen Archiven nach Photobänden aus der Zeit zwischen 1920 und 1941 gesucht, einer Epoche, in der die Photographie in die Propagandamaschinerie der Sowjetunion fest eingebunden war, in der aber auch Meisterwerke der Photokunst und der Gestaltung entstanden sind. Diese Bücher sind heute zu großen Teilen kaum noch bekannt und nur sehr schwer zu erhalten; es ist das Verdienst der Herausgeber mit dem vorliegenden Prachtband einen spannenden Einblick in diese Epoche der Photographie zu geben.
Durch die Bilderserie am Schluss dieses Beitrags kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Ein Photoalbum zu einem Photobuch über Photobücher.
Sieben Kilogramm Ästhetik
Ein Markenzeichen des Taschen Verlags sind die hochwertigen, voluminösen Prachtbände zu völlig unterschiedlichen Themen. Mit dem Band »Deutschland um 1900 – Ein Porträt in Farbe« ist ein weiteres Exemplar erschienen, eine fast sieben Kilogramm schwere Photo-Zeitreise in eine längst vergangene Welt. Das Besondere daran verrät der Titel: Wir sehen diese Welt in Farbe. Und können so noch besser als sonst ermessen, welche Stadtbilder wir im Laufe eines Jahrhunderts verloren haben; es ist eine verschwundene Ästhetik, ein Buch wie ein Spiegel, der unserer – von der Tristesse moderner Stadtplanung geprägten Zeit – entgegengehalten wird. „Sieben Kilogramm Ästhetik“ weiterlesen
Kulturen-Crash am Ende der Welt
Der neuseeländische Autor Carl Nixon zeigt uns in seinem Roman »Settlers Creek« sein Heimatland. Es ist nicht das Postkarten-Neuseeland der atemberaubenden Landschaften, riesigen Schafherden auf grünen Wiesen oder der Maori-Folklore. Es ist ein Land, schwer getroffen von den globalen Wirtschaftskrisen der letzten Jahre, ein Land mit einer der höchsten Selbstmordraten unter Jugendlichen und voller unversöhnlicher Gegensätze zwischen den Ureinwohnern und den Weißen. Das alles verbindet sich im Schicksal Box Saxtons, von dem diese Geschichte erzählt. „Kulturen-Crash am Ende der Welt“ weiterlesen
Maigret als Gesamtkunstwerk
Bereits vor einiger Zeit hatte ich hier beschrieben, wie ich Georges Simenons Kommissar Maigret für mich entdeckt habe. Inzwischen sind wieder ein paar Bände der Reihe in der Sammlung dazugekommen und jeder einzelne von ihnen ist ein kleines Buchjuwel. Alleine die sorgfältig ausgewählten Schwarzweiß-Photos auf dem Titelbild sind ein Hingucker – handelt es sich doch oft um die Werke bekannter Photographen der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre. So gehen Titelbild, Gestaltung und Inhalt eine perfekte Symbiose ein, wie so oft beim Diogenes Verlag.
Im Blog Analog-Lesen hatte Sebastian Kretzschmar einmal ein Loblied auf Diogenes veröffentlicht und dem Titel »Das gute Gefühl, ein Diogenes-Buch zu lesen« müsste ich hier eigentlich nichts mehr hinzufügen (leider ist der Blog nicht mehr online, daher gibt es keine Verlinkung).
Eigentlich. Denn jetzt halte ich ein wahres Schmuckstück in den Händen, das mich völlig begeistert. „Maigret als Gesamtkunstwerk“ weiterlesen
Lasst alle Hoffnung fahren?
Das Buch »Zehn Milliarden« von Stephen Emmott hat es in sich. Und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist es buchgestalterisch ein echter Hingucker, mit einem aufwändig produzierten und sehr haptischen Umschlag, der Innenteil schon fast ein typographisches Gesamtkunstwerk. Und zum anderen geht es um nichts Geringeres als den Untergang unserer Welt. „Lasst alle Hoffnung fahren?“ weiterlesen
Stolz noch im Verfall
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Leipzig eine der wichtigsten deutschen Industriestädte und einer der bedeutendsten europäischen Handelsplätze. Industrie und Handel, beides prägte das Stadtbild der Gründerzeit und der folgenden Jahrzehnte. Da Leipzig im 2. Weltkrieg »nur« zu einem Drittel zerstört wurde, sind viele Spuren dieser Zeit noch sichtbar, auch wenn die sozialistische Planwirtschaft fast genauso verheerende Auswirkungen hatte wie der Krieg. „Stolz noch im Verfall“ weiterlesen