Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr

Das Kafka-Jahr

Als ich zum ersten Mal etwas von Franz Kafka las, stand ich im Licht einer Straßenlaterne. Es ist lange her und muss im Herbst des Jahres 1990 gewesen sein, aber ich habe diesen Moment, diesen Abend nie vergessen. Vielleicht, weil dabei einiges zusammenkam. Es war kurz nach dem Ende meines Zivildienstes, und beim Start ins Leben war ich gleich in einer Sackgasse gestrandet. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, keine Idee, was die Zukunft bringen könnte, keine Perspektive. Ich wohnte zur Untermiete bei einer Kollegin; nicht ganz legal, denn laut Mietvertrag war dies nicht erlaubt – was dazu führte, dass ich immer schnell durch das Treppenhaus huschte und möglichst wenig zu Hause war. Falls man es unter diesen Umständen überhaupt ein Zuhause nennen konnte. Der Zivildienst war gegen einen Job als Altenpflegehelfer eingetauscht worden, das Geld genügte, um jeden Abend auszugehen oder die freien Nachmittage in Cafés zu verbringen. Die nagende Unzufriedenheit wurde dabei durch ständiges Unterwegssein und viel zu wenig Schlaf mehr oder weniger erfolgreich übertüncht. Doch nach einer langjährigen Pause hatte ich einige Monate zuvor das Lesen wieder entdeckt – und in dieser Zeit wurde es mir zur Gewohnheit, immer ein Buch bei mir zu tragen. Eine Gewohnheit, die ich nie wieder abgelegt habe.

An diesem einen Abend war ich verabredet und wartete an eine Straßenlaterne gelehnt. Es war kühl, eine nasse Kälte, die überall hineinkriecht; ich wickelte mich in meinen schweren Wollmantel – ein Erbstück meines verstorbenen Vaters – und zog das Buch aus der Tasche, das ich kurz zuvor in einer Buchhandlung gekauft hatte. »Sämtliche Erzählungen« lautete der Titel und der Autor war Franz Kafka. Ich begann zu lesen, »Betrachtung« heißt die erste Erzählung, die seltsam-melancholische, träumerische Sprache zog mich sofort in ihren Bann und ich vergaß alles um mich herum. Die vorüberhastenden Menschen, die klamme Dunkelheit, das schummrige Licht der Laterne, das nasse Kopfsteinpflaster, die ratternd vorbeifahrenden Straßenbahnen – das alles verschwand. Es waren nur die drei Seiten dieser ersten Erzählung, die das bewirkten, und vielleicht passte Kafkas Sprache, die den Leser permanent im Unklaren lässt und in der stets ein schwer zu greifendes Gefühl der Unruhe mitschwingt, gerade perfekt zu meiner eigenen Stimmung, zur damaligen Lebensphase, zur eigenen Ungewissheit. Mir war sofort klar, dass mich die Texte dieses Autors noch lange begleiten würden und genau so ist es gekommen.

Ich habe damals sehr lange gebraucht, um den Band mit den Erzählungen zu Ende zu lesen, immer wieder Pausen dabei gemacht – die Lektüre zog sich bis in das anschließende Frühjahr hin. In einem Café sitzend stieß ich dabei auf den Text »Die Fürsprecher« und das war ein Schlüsselerlebnis für mich. In einem der ersten Blogbeiträge habe ich diesen Text, oder vielmehr eine kurze Stelle daraus, vorgestellt. Es war besonders dieser eine Satz, der mir so nahe ging, ein Satz, der mir damals eine Perspektive für das eigene Leben vermittelte: »Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.« Es fühlte sich an, als sei über die Zeiten hinweg eine Botschaft angekommen: Es geht darum niemals stehen zu bleiben, offen zu sein und offen zu bleiben für Veränderungen. Denn Leben ist Veränderung und Stillstand bedeutet das Ende. Doch solange wir uns bewegen, eine Stufe nach der anderen erklimmen, kann nichts passieren, wir müssen uns nur trauen. Inzwischen weiß ich, dass man diese Passage auch vollkommen anders deuten kann – aber genau dies ist ja das Wunderbare an Kafkas Texten. Mir gibt diese Stelle Kraft. 

Ein paar Jahre später arbeitete ich als Buchhändler und fuhr im Februar 1996 mit einer Kafka-Gesamtausgabe im Gepäck für eine Woche nach Prag. Eine Woche, um ausschließlich in Cafés, Restaurants und Kneipen zu sitzen und Kafka zu lesen. Es war eine spontane Idee, die mir kam, als ich einen Reiseführer mit dem Titel »Cafés in Prag« in die Hände bekommen hatte. Daraus wurde eine prägende Erfahrung, die mich an die Grenzen meines Leserlebens brachte, die ich aber niemals vergessen werde oder missen möchte. An einer anderen Stelle hier im Blog habe ich davon berichtet

Während ich dies schreibe, liegt das Taschenbuch mit den Erzählungen, das ich damals aus der Manteltasche zog und mit dem alles anfing, neben mir. Abgegriffen, die Seiten gebräunt von der vergangenen Zeit, der Buchrücken zerknickt. Doch als ich gerade erneut den Text gelesen habe, mit dem das Buch beginnt, da sah ich mich wieder an jene Laterne gelehnt stehen, in den schweren Wollmantel meines Vaters gehüllt und alles um mich herum vergessend. Seitdem sind über drei Jahrzehnte vergangen, aber ein Blick auf die ersten Zeilen genügt, um diesen Moment vor dem inneren Auge wieder auferstehen zu lassen. 

Die Faszination für Franz Kafka und sein Werk hat mich nie wieder losgelassen und seine Texte begleiten mich seit dieser prägenden Zeit des Aufbruchs ins Leben. Und manche entwickeln erst dann eine ganz eigene Wucht, wenn man ein paar Jahre älter geworden ist und erfahren hat, wie begrenzt unser Dasein ist. 

Am 3. Juni 2024 jährt sich sein Todestag zum hundertsten Mal und viel wird über ihn geschrieben oder gesprochen werden, im Kafka-Jahr 2024. Auch ich möchte diesen Anlass nutzen, um wieder einmal durch seine Werke zu flanieren und um mich mit seinem Leben, seiner Person und seiner Zeit zu beschäftigen. »Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr« ist der Name dieses Leseprojekts. Im Mittelpunkt stehen die Bücher, die ich aus dem heimischen Regal gezogen habe sowie Bücher, die noch dazukommen werden – auch einige Neuerscheinungen, die für dieses Frühjahr geplant sind. Die Idee ist, in jedem Monat des Jahres einen Blogbeitrag zum Thema zu veröffentlichen. 

Dies ist meine Bücherliste zum Kafka-Jahr, weitere Anregungen und Empfehlungen sind natürlich wie immer hochwillkommen. Besonders freuen würde ich mich über Bücher über Franz Kafka aus der Feder von Autorinnen, denn bisher habe ich keine gefunden. 

  • Franz Kafka: Gesammelte Erzählungen
  • Franz Kafka: Gesamtausgabe
  • Franz Kafka: Betrachtung
  • Franz Kafka: Brief an den Vater. Faksimile-Ausgabe
  • Franz Kafka: Die Verwandlung. Graphic Novel von Corbeyran & Horne
  • Franz Kafka: Ein Landarzt. Illustriert von Kat Menschik
  • Andreas Kilcher (Hrsg.): Frank Kafka – Die Zeichnungen
  • Rainer Stach: Kafka. Die frühen Jahre
  • Rainer Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidung
  • Rainer Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis
  • Klaus Wagenbach (Hrsg): Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben
  • Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt
  • Hans Zischler: Kafka geht ins Kino
  • Hartmut Binder: Gestern Abend im Kaffee – Kafkas versunkene Welt der Prager Kaffeehäuser und Nachtlokale
  • Hartmut Binder: Auf Kafkas Spuren
  • Klaus Wagenbach: Kafkas Prag
  • Hans-Gerd Koch: Kafkas Berlin
  • Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos – Eine fotografische Spurensuche
  • Hans-Gerd Koch (Hrsg.): Kafkas Familie – Ein Fotoalbum
  • Adriano Sofri: Kafkas elektrische Straßenbahn
  • Rüdiger Safranski: Kafka – Ums sein Leben schreiben
  • Sebastian Guggolz (Hrsg.): Kafka gelesen – eine Anthologie

Ich bin gespannt auf das Lesen und darauf, wohin es mich führen, welche neuen Erkenntnisse es für mich geben wird. Eines dürfte allerdings jetzt schon sicher sein: Kafkas Sprache, die jede Deutung erlaubt oder auch keine – sie wird uns weiterhin im Unklaren lassen. Und das macht seine Werke zu zeitloser, großer Literatur.

Drüben im Blog intellectures gibt es ebenfalls einen Beitrag mit Lektüretipps zum Kafka-Jahr.

#KaffeehaussitzersKafkaJahr

21 Antworten auf „Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr“

  1. Herzlichen Dank für den persönlichen Einblick in Ihre Kafkalektüre.
    Ich freue mich immer wieder auf Kafkaleser zu treffen. Ich lese Kafka seit vierzig Jahren immer wieder und in diesem Jahr nochmals intensiver und veröffentliche manches zum Kafkajahr unter https://franz-kafka.org
    Eine Tipp bzgl. Autorin hätte ich auch noch: Marthe Robert, Einsam wie Franz Kafka.

  2. Hallo Uwe. Ich bin mit meinem Literaturblog ein Frischling unter den Buchbloggern und möchte dein wirklich sehr ansprechendes Leseprojekt über das Kafka-Jahr nutzen, um mich mal mit ein paar Worten zu melden. Ich war schon öfter hier auf deinen Seiten und jedesmal kann ich mich kaum davon loseisen. Da erzählt eben ein Buchprofi. Das nur so nebenbei.

    Ich bin grosser Kafka-Anhänger. Ich weiss nicht, was mich so fasziniert an seiner Sprache, vielleicht bleibt das auch ein Geheimnis, wie seine Welt, wie die Deutung seiner Kompositionen überhaupt. Deshalb freue ich mich besonders auf dieses Literaturjahr, in dem wir noch einiges über Kafka hören werden. Und deshalb gefällt mir auch dein Leseprojekt über dein persönliches Kafka-Jahr.

    Werke anderer Autoren über Kafka kann ich im Moment keine vorschlagen. Doch mir fällt da spontan ein Namensbezug ein. Murakami… Haruki Murakami. Kafka am Strand. Hat zwar nichts mit Franz Kafka zu tun – der Bezug zu Kafkas surealer Welt ist bei Murakamis Romanfigur aber nicht zufällig. Wäre doch auch ganz interessant und irgendwie passend. Im Kafka-Jahr neben Kafkas Werken auch mal Murakamis «Kafka am Strand» lesen. Ist nur so eine Idee.

    Herzliche Grüsse und vielen Dank für die vielen lesenswerten Stunden auf deinem Blog. Michael

  3. Ich finde die Idee dieses Projekts toll! Die Kafka-Biographie von Reiner Stach steht auch schon länger hier, vielleicht lese ich die demnächst auch endlich mal.

    Ich hätte noch zwei Tipps zur Ergänzung für Dich:

    Reiner Stach – Ist das Kafka? 99 Fundstücke

    Astrid Dehe/Achim Engstler – Kafkas komische Seiten

    Beide Bücher beleuchten mit Blick auf kleine Details aus Kafkas Biographie sein Leben und Werk, sehr zu empfehlen.

  4. Danke für diesen ehrlichen Einblick in deine Kafka-Erfahrung! Es ist faszinierend zu lesen, wie dich seine Werke in verschiedenen Lebensabschnitten begleitet und geprägt haben. Deine persönliche Verbindung zu seinen Texten und die Art und Weise, wie du sie in deine eigene Lebensreise integrierst, sind wirklich inspirierend. Ich freue mich darauf, deine Reise durch das Kafka-Jahr zu verfolgen und bin gespannt auf die Erkenntnisse, die du dabei gewinnst. Vielen Dank, dass du deine Gedanken und deine Leseliste mit uns teilst! Habe den Artikel gerne gelesen :)))

  5. Sorry, das Buch von Canetti heißt „Prozesse. Über Franz Kafka“.
    Das kommt davon, wenn man so selten kommentiert und vor Nervosität nicht weiß, was man tut.

  6. Von Elias Canetti gibt es ein Buch „Über Franz Kafka“.

    Und wenn es auch ein Roman sein darf:
    2017 erschien bei ebersbach & simon von Unda Hörner „Kafka und Felice“.
    Habe ich nicht ungern gelesen, ersetzt den Briefwechsel mit Felice aber natürlich bei weitem nicht, auch wenn das Buch auf diesem beruht, wie es auf dem Schutzumschlag zu lesen ist.

  7. Empfehlung habe ich zwar keine, möcht aber wenigstens hier hinterlassen, dass ich mich auf das Kafkajahr freue. K. ist einer der Autoren, denen ich nur in wenigen Momenten nähergekommen bin und über die ich so gut wie nichts Greifbares weiß. Ich baue darauf, dass Du mir nun einen späten Einstieg erleichtern könntest.

    Danke im Voraus, Uwe!

  8. Habe Deinen Artikel sehr gerne gelesen – seh dich direkt im langen Mantel mit Kafka in der Hand unter der Laterne stehen :)
    Meine Empfehlung wäre „Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Über Franz Kafka“ – Louis Begley und/oder die Kafka Biografie von Max Brod.
    Liebe Grüße, Sabine

    1. Vielen Dank für die beiden Tipps, die schaue ich mir mal an.
      Und ja, diesen Mantel habe ich geliebt und er hat mich durch etliche Winter begleitet. Bis er sich irgendwann buchstäblich aufgelöst hat.
      Liebe Grüße
      Uwe

  9. Franz Kafka – Jaroslav Hašek
    Diese beiden Essays schrieb Jiří Gruša als Dissident, nach seiner Ausreise im Dezember 1980 in den Westen über München, Toronto und von dort aus nach Bonn. „Dvě stati k stému výročí“ für die Zeitschrift Listy 13, im Jahre 1983. In deutscher Sprache „Der Schuß von der Marienschanze“ in Jiří Gruša: Franz Kafka aus Prag. Frankfurt am Main, S. Fischer 1983, später Der Schuss von der Marienschanze in Jiří Gruša: Als ich ein Feuilleton versprach. Wien: Czernin 2004. Mit Genehmigung des Wieser Verlages entnommen aus Jiří Gruša, Essays und Studien bis 1989, Werkausgabe Band 1, Herausgegeben von Hans Dieter Zimmermann und Dalibor Dobiáš, Wieser Verlag.

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