Als Trauermusik im Radio lief

Andreas Pflueger: Wie Sterben geht

Im Februar 2017 schrieb ich hier im Blog: »Um gleich einmal mit der Tür in Haus zu fallen: »Endgültig« von Andreas Pflüger ist einer der besten deutschen Kriminalromane, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Punkt.« Diesen Einstieg würde ich am liebsten noch einmal verwenden, wieder für einen Roman von Andreas Pflüger; diesmal ist es – man ahnt es schon – »Wie Sterben geht«. Ein Agententhriller vom Feinsten, der gerade eine begeisterte Besprechung nach der anderen erhält. Der Vergleich mit John Le Carré ist regelmäßig zu lesen und auch ich dachte bei der Lektüre unweigerlich an den Großmeister des Spionageromans. Und ja, »Wie Sterben geht« hält diesem Vergleich locker stand, auch wenn Le Carrés Romane – zumindest diejenigen, die ich kenne – fast noch eine Spur düsterer sind. Und düster ist es bei Andreas Pflüger, denn die Handlung führt uns in die Zeit des Kalten Krieges, als sich die Nato und die Warschauer-Pakt-Staaten waffenstarrend gegenüberstanden, sich in einem bedrohlichen Patt belauerten, während hinter den Kulissen erbittert um das gekämpft wurde, wofür alle Geheimdienste dieser Welt bereit sind, über Leichen zu gehen. Um Informationen.

Trauermusik im Radio

Über den Inhalt des Buches und seinen atemberaubenden Beginn, bei dem ein Agentenaustausch vollkommen schief geht und die  Glienicker Brücke in die Luft fliegt, wurde in den letzten Wochen schon viel geschrieben. Ich möchte erst einmal ein wenig abschweifen und von einer schon beinahe verschütteten Erinnerung erzählen, die Andreas Pflügers Roman bei mir wieder ans Tageslicht geholt hat. Es ist ein Moment im Wohnzimmer meines Elternhauses. Dort stand ein HiFi-Möbel aus den Sechzigerjahren, das sich meine Mutter als junge, musikbegeisterte Frau etliche Jahre zuvor gegönnt hatte. Darin untergebracht war neben einem Plattenspieler ein Röhrenradio mit einer riesigen Einstellskala für die Sendersuche. Als Kind habe ich oft an dem Sendersuchrad gedreht und war fasziniert davon, wie es mir vollkommen fremde Sprachen in unser Wohnzimmer spülte, oft zwischen dem Rauschen kaum hörbar. In jenem Moment, oder genauer: an jenem Tag, an den ich mich erinnere, lief auf einer Frequenz ununterbrochen Trauermusik. Sie kam von einem sowjetischen Sender, der russische Staatschef Leonid Breschnew war gestorben. An diesem 10. November 1982 war ich dreizehn Jahre alt.

Warum ich das erzähle? Weil ich es spannend finde, dass mir ausgerechnet dieser eine Moment, in dem die getragene Musik aus dem atmosphärischen Rauschen klang, so im Gedächtnis geblieben ist. Es ist eine Erinnerung an die Zeit des Kalten Krieges, dessen letzte Jahre das Aufwachsen meiner Generation geprägt haben. Gleichzeitig war die Zeit um Breschnews Tod ein Wendepunkt, zumindest im Nachhinein betrachtet. Denn zum einen wurde zwischen den Geheimdiensten ein gnadenloser Kampf im Schatten ausgetragen, während das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion jederzeit zu einem Atomschlag hätte führen können. Zum anderen waren die Nachfolger Breschnews – der schwerkranke Andropow und der ebenfalls gesundheitlich stark angeschlagene Tschernenko – jeweils nur kurz in Amt und Würden, bis sie den Weg freimachten für Michail Gorbatschow, der 1985 nur vierundfünfzigjährig Staatschef der Sowjetunion werden sollte. Und Geschichte schreiben würde. Aber das konnte in jener Zeit, als ich viele tausend Kilometer entfernte Trauermusik im Radio hörte, noch niemand ahnen. Und in genau jene Jahre um Breschnews Tod führt uns Andreas Pflüger mit seinem Roman »Wie Sterben geht«. 

Vertraue niemandem

Genug der Abschweifung, schließlich soll ein Buch vorgestellt werden. Nach dem grandios-explosiven Start setzt die Handlung drei Jahre zuvor ein. BND-Agentin Nina Winter hatten wir bereits auf der Glienicker Brücke kennengelernt; jetzt, 1980, ist sie allerdings keine Agentin, sondern Analystin beim Bundesnachrichtendienst in Pullach. Ein Schreibtischjob, bei dem sie sich etwa mit Informationen über den gesundheitlichen Verfall von Leonid Breschnew beschäftigt. Quasi über Nacht ändert sich ihr Leben: Die Top-Quelle des BND in Moskau, ein KGB-Offizier, der unter dem Tarnnamen »Pilger« agiert und den niemand von Angesicht zu Angesicht kennt, fordert sie als neue Führungsoffizierin in Moskau an, nachdem der Vorgänger auf nicht ganz geklärte Weise ums Leben gekommen ist. Ein Wunsch, der zeigt, wie gut »Pilger« – und der KGB bzw. die Stasi der DDR, die ihm zuarbeitete – über die Strukturen des Bundesnachrichtendienstes informiert ist, denn Winter ist eine ausgezeichnete Kennerin der innersowjetischen Strukturen. Sie sagt zu und erhält einen Crashkurs für den Außendiensteinsatz; vom Annehmen einer neuen Identität über die Nutzung toter Briefkästen, das Bemerken und Abschütteln von Beschattungsteams bis hin zum Gebrauch von Waffen. Und macht sich den Leitsatz zu eigen, der ihr Überleben sichern soll: Vertraue niemandem. 

Nina Winter wird als Diplomatin, zuständig für Kulturarbeit, an die deutsche Botschaft in Moskau geschickt. Und begibt sich auf eine Reise, die gespickt ist mit Fallstricken, mit Misstrauen und permanenter Vorsicht, mit Angst und Adrenalinschüben und mit Einsamkeit. Denn »Vertraue niemandem« bedeutet: »Bleibe allein«. 

Grandios schildert Andreas Pflüger das Moskau während der Sowjetzeit, eine graue, trostlose, gewaltgeschwängerte, faszinierende Stadt; abweisend und schön zugleich, gespickt mit Erinnerungen, mit Kunst und Kultur: »Moskau war viel übersichtlicher, als Nina befürchtet hatte. An seinen Rändern wucherten Mietskasernen-Metastasen bis über den Horizont, doch die Entfernungen in der Innenstadt ähnelten denen Berlins; mit Metro oder Tram kam sie überall schnell hin. Am liebsten war ihr der Boulevardring um die alte ›Weiße Stadt‹ mit den Patrizierhäusern, denen nicht einmal Gleichgültigkeit, Fäulnis und Agonie etwas anhaben konnten, weil sie natürliche Würde besaßen. An manchen Tagen stand sie dort mit geschlossenen Augen, fiel durch die Zeiten und hörte das Flüstern von Romanfiguren, die für immer und ewig hier leben würden. Und ein andermal das grelle Lachen des Teufels in Bulgakows Der Meister und Margerita

Ebenso grandios schildert er die Paranoia, die Nina Winter von Beginn an umgibt, die sie nach und nach einhüllt wie ein Kokon, der sie zwar schützt, aber in dem sie sich zu verlieren droht. Im Lauf der paar Jahre, die sie bis auf die Glienicker Brücke führen werden, wird sie sieben Decknamen und Identitäten benutzen. Diese paranoide Grundstimmung prägt die gesamte Handlung und sorgt für einen unterschwelligen Spannungsbogen, der nie abreißt – als Agentin schwebt sie in permanenter Lebensgefahr, denn eine Enttarnung wäre das Ende. Nicht nur für sie. Und so viel kann verraten werden: Ein paar Mal wird es verdammt knapp. Und durch die unterschwellige Spannung bricht sich Gewalt Bahn, mal subtil, mal brachial. 

Das »Vertraue niemandem« wird sich bewahrheiten und sie schützen. Aber trotzdem schafft es Nina Winter, Freundschaften zu schließen, Verbündete zu finden und sich zu verlieben, auch wenn sie sich mit aller Kraft dagegen wehrt. Und sich dabei mehr und mehr in Unwahrheiten und Lügen verstrickt, bis sie auf dem besten Weg ist, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Unter Lebensgefahr, denn »Vertraue niemandem« gilt nicht nur in Russland. Und dann, irgendwann, wird es klar, wie es zu der dramatischen Anfangsszene des Romans gekommen ist. Kommen musste. Oder vielleicht auch nicht – wer kann das in der Welt der Lügen schon so genau sagen. 

Vom NKWD zum KGB zum FSB

»Wie Sterben geht« ist nicht nur eine spannende Zeitreise in die Zeit des Kalten Krieges, in der zahlreiche historische Figuren ihren Auftritt haben, sondern gibt einen Einblick in die damalige Arbeit im Geheimen und in die Strukturen des KGB und der russischen Machtelite. Der Roman beschreibt die Kontinuität des sowjetischen Unrechtsstaates, der aufgebaut war auf brutaler Überwachung, auf Zensur, auf der Unterdrückung individueller Freiheit, auf sibirische Straflager, auf Verhöre in Folterzellen und auf Genickschüsse im Hof der Lubjanka. Egal, ob Stalins NKWD oder der Nachfolgedienst KGB – die Methoden unterschieden sich nur um Nuancen. Aus dem KGB wiederum ist in den Neunzigern der FSB hervorgegangen, der Geheimdienst des heutigen Russlands, Putins Russlands. Eines Staates, der zurzeit Krieg führt. Nicht nur in Europa, sondern gegen Europa – in der Tradition des Sowjetimperialismus, unter dessen Knute die osteuropäischen Länder viele Jahre zu leiden hatten und der 1979 Afghanistan mit Tod und Verwüstung überzog. Genau in jener Zeit, in der Andreas Pflügers Roman spielt. Als die Welt fast täglich eine atomare Katastrophe erwartete.

Das Nachwort des Buches beendet der Autor mit den Sätzen: »Beim Schreiben hätte ich mir gewünscht, es gäbe weniger Analogien zwischen dem heutigen Russland und der damaligen Sowjetunion. Putin ist beides: Eine Hofschranze der Lubjanka und der Mann, der den KGB wieder an die Macht brachte. Es wirkt nur auf den ersten Blick bizarr, dass er sich als Erben der Romanows sowie der sowjetischen Herrscher sieht. Das ist er tatsächlich. So verblendet, grausam, gottlos und lächerlich.«

Sätze, die ich beim Lesen am liebsten doppelt unterstrichen hätte. 

Doch um diesen Blogbeitrag nicht ganz so düster enden zu lassen, möchte ich mit einem weiteren Zitat aus dem Buch schließen. Es ist die Stelle, in der Nina Winter zum ersten Mal in ihrem Leben die Leninka betritt, die Leninbibliothek, eine der fünf größten Bibliotheken der Welt: »Sie standen auf einer getäfelten Empore, von der zu beiden Seiten Treppenstufen hinunterführten. Die Wände waren im Moskauer Grün gestrichen, etwas zwischen frisch gemähtem Gras und Laubfrosch. Zwölf mächtige Kronleuchter zählte sie. Haushohe Fenster, weiße Rüschenstores. Dazwischen Büsten russischer Denker, die mahnend auf die unzähligen Menschen an den Lesepulten herabschauten. Ein Raum wie in Versailles, nur eindrucksvoller. In der Stille hörte Nina das Umblättern von Seiten.«

Denn auch das war das Moskau jener Zeit. Und die Kenntnis der Gedichte von Anna Achmatowa, deren Werk Nina Winter verehrt, wird eine entscheidende Rolle in dem Roman spielen, von dessen Inhalt ich nun kein weiteres Wort mehr ausplaudern werde. Denn ihr solltet ihn unbedingt lesen. 

Buchinformation
Andreas Pflüger, Wie Sterben geht
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-43150-4

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4 Antworten auf „Als Trauermusik im Radio lief“

  1. Die Breshnew Todesnachricht-Kaminer schrieb es sei Schwanensee gewesen, was damals in Serie durch die Röhrenfernsehre flackerte. Immer vor einer Todesnachricht.
    ich habe diesen Blogbeiteag sehr gern gelesen. Die Verflechtung der eigenen Erinnerung an diese Zeit und die wunderbare Rezension dieses Buches, haben mich erwischt.
    Ich erinnere mich, dass wir die Vormittage in der Polytechnischen Oberschule Juri Gagarin mit Fernsehen verbringen durften als Breshnew, Andropow und Jelzin zu Grabe getragen wurden.
    Danke für diesen Beitrag

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