Alles anders? Ein Textbaustein*

Die Rubrik »Textbausteine« hier im Blog Kaffeehaussitzer wurde ursprünglich dafür geschaffen, um ausgewählte Textstellen aus Büchern vorzustellen. Textstellen, die mich zum Teil schon lange begleiten, die für mich etwas Besonderes darstellen, sei es aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Aussage oder ihrer Bedeutung für eine bestimmte Situation im Leben. Inzwischen sind es schon längst nicht mehr nur Zitate aus Büchern, es gehören auch Songtexte, Ausschnitte aus Magazinbeiträgen oder Gedichte dazu – denn eine Textstelle, die einen bewegt oder berührt, kann überall unvermittelt auftauchen. Zum Beispiel auf der Wand in einem Café.

Es ist schon ein paar Jahre her; mein Arbeitstag endete etwas früher und ich wollte den Nachmittag lesend in einem Kölner Café verbringen. Eine der schönsten Beschäftigungen, die es für mich gibt, für die im Alltag aber leider viel zu wenig Zeit ist. Ich hatte mir einen Platz in einer Ecke gesucht, die Schale Milchkaffe schon vor mir stehen, begann in meinem Buch die Stelle aufzublättern, an der ich weiterlesen wollte – da fiel mein Blick auf die Wand links von mir. Beim Betreten des Cafés hatte ich die Schrift auf der Wand erst nicht wahrgenommen, jetzt aber war dieser Satz nicht zu übersehen: 

»Genau dasselbe Leben noch einmal, nur anders.«

Sieben Wörter, die mich innehalten ließen. Ich legte das Buch auf die Seite und schaute eine Weile den Satz auf der  Wand an; es muss vermutlich etwas seltsam ausgesehen haben. Aber diese sieben Wörter lösten eine wahre Gedankenlawine in mir aus, trafen mich bis ins Mark. »Genau dasselbe Leben noch einmal, nur anders.« Wie oft macht man sich jene Was-wäre-wenn-Gedanken, denkt über Tage oder Ereignisse nach, die das gesamte weitere Leben beeinflusst haben. Wo stand ich gerade? Was hätte ich mir anders gewünscht? Welche Träume sind in Erfüllung gegangen? Welche auf der Strecke geblieben? Und würde ich wirklich etwas anders machen, wenn man die Zeit noch einmal zurückdrehen könnte? Ich saß da und dachte nach. Irgendwann war es für mich klar: Gar nichts würde ich anders machen. Denn jede noch so kleine Entscheidung, noch so unüberlegte oder spontane Handlung hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich in diesem Moment bin. Jede Erfahrung hat das Leben geformt, das ich in diesem Moment lebe – egal ob es sich um euphorische Freude oder zehrende Ungewissheit, tief empfundenes Glück oder nachtschwarze Trauer handelte. All diese unzähligen emotionalen Momente prägen unseren Weg, und egal welchen wir wählen – diese Erfahrungen sind immer dabei, nur die Anlässe mögen andere sein. 

Ich bin nicht der Typ, der etwas plant; tatsächlich ist mir das Planen eher zuwider. Eigentlich bin ich durch alle Entscheidungen meines Lebens irgendwie hindurchgestolpert, was wohl auch an der Einstellung liegt, dass es meiner Meinung nach keine richtigen oder falschen Entscheidungen gibt. Denn man wird niemals erfahren, was nun anders wäre, hätte man sich für eine andere Richtung entschieden. Und jede Entscheidung öffnet neue Türen und verschließt andere, machmal auch für immer. Irgendwann beginnt sich vielleicht ein Weg abzuzeichnen, vielleicht aber auch nicht; die unvorhergesehen Abzweigungen holen einen früher oder später ohnehin ein. Oder, wie an andere Stelle hier im Blog geschrieben: Leben geschieht, wenn man es lässt.

Das waren die Gedanken, die mir an jenem Nachmittag durch den Kopf gingen. Es war eigentlich schon früher Abend, die Strahlen der späten Sonne tauchten das Café in ein gelbes, warmes Licht; nur die Wand mit jenem Satz lag im Schatten, wie ein entscheidendes Detail im Hintergrund, das aber trotzdem das gesamte Bild prägt. Es war ein magischer Moment und die sieben Worte haben mich seitdem nicht mehr losgelassen. Als ich vor ein paar Tagen durch die Photos auf dem Smartphone wischte, tauchte das Bild auf, das jetzt hier als Beitragsphoto zu sehen ist. Das war der Anlass für diesen Beitrag.

Es ist ziemlich spät in der Nacht, gerade sitze ich am Küchentisch, schreibe das alles auf und merke, wie dabei die Gedanken auf die Reise gehen. Ich muss daran denken, wie ich mit siebzehn gefrustet von allem war und vorhatte, die Schule abzubrechen und eine Kochlehre zu machen. Der Plan dahinter: Koch war ein Beruf, der von Australien als Einwanderungsberuf akzeptiert worden wäre. Meine Eltern taten dies als Spinnerei ab, wurden aber etwas unruhig, als ich mir – eher aus Neugier – von der australischen Botschaft Informationsbroschüren für einen Einwanderungsantrag bestellt habe; natürlich alles per Brief, es war das Jahr 1986. Sie überredeten mich, wenigstens bis zur Fachhochschulreife durchzuhalten und ich bin ihnen bis heute dafür dankbar. Denn die Jahre des Studiums im Leipzig der späten Neunziger gehören zu den großartigsten Zeiten meines Lebens. Andererseits: Heute ein Restaurant in Sydney oder Melbourne zu betreiben, klingt auch nicht schlecht – das ist das, was ich damit meinte, als ich schrieb, es gibt keine falschen oder richtigen Entscheidungen. 

Ich liebe Bücher über alles, und in die Buchbranche hineinzustolpern – denn anders kann man es tatsächlich nicht nennen – klingt im Nachhinein nur folgerichtig. Doch als ich nach meinem Zivildienst in Freiburg nicht wusste, was ich machen sollte und mich einige Jahre lang mit einem Job in einem Altenheim über Wasser hielt, war die Idee mit der Buchhändlerlehre noch lange nicht geboren. In jener Zeit besuchte ich das Berufsinformationszentrum des Arbeitsamts, um mir Anregungen zu holen. Dabei stieß ich auf das Berufsbild es Restaurators, des Buchrestaurators, um genau zu sein. Ich weiß nicht, wie es heute ist, aber damals war dies kein Ausbildungsberuf, sondern eine Kombination aus mehreren Stationen. Wenn ich mich richtig erinnere, musste man zuerst eine Lehre absolvieren, in diesem Fall eine Buchbinderlehre. Anschließend würde ein – schlecht oder unbezahltes – Praktikum in einer Museumswerkstatt folgen. Und danach gab es die Möglichkeit, ein viersemestriges Aufbaustudium an einer Fachhochschule draufzusetzen, um sich Diplom-Restaurator nennen zu dürfen. Insgesamt hätte dies sechs Jahre gedauert. Mindestens.

Ich habe seinerzeit eine Weile über diesen Weg nachgedacht, dann die Überlegungen aber verworfen. Zu unsicher, keine Ahnung, wie ich das hätte finanzieren sollen – das waren die Gründe. In den letzten Jahren habe ich mir immer wieder vorgestellt, wie es wäre, als Beruf Bücher zu restaurieren. Diese Mischung aus handwerklichem Können und kulturgeschichtlichem Wissen hat in meiner Vorstellung etwas so Reizvolles, dass es vielleicht doch ein möglicher Weg gewesen wäre, irgendwie hätte sich sicherlich alles ergeben, wie in so vielen anderen Situationen auch. Aber ich werde es nie erfahren. 

Und das ist nicht schlimm, denn das Leben ist gut, so wie es ist. 

Hier auf Kaffeehaussitzer gibt es die Textbausteine, eine Sammlung von Texten, die mir wichtig sind. 

5 Antworten auf „Alles anders? Ein Textbaustein*“

  1. Lieber Uwe,
    „alles anders“ heißt ja nicht „alles besser“. Wir können uns ja ständig so oder so entscheiden. Vieles wäre sicher ganz anders, wenn man erst einmal anfängt darüber nachzudenken, was wäre wenn… . Aber ich muss auch sagen, dass ich auch eher dazu neige, mich und mein Leben so gut zu finden, wie es ist. Andere Entscheidungen hätten einen anderen Menschen aus mir gemacht. Dennoch gefällt mir das Nachdenken über diese Frage sehr und mir ist auch sofort 4 3 2 1 von Paul Auster eingefallen, als ich deinen Textbaustein gelesen habe.
    LG
    Petra

  2. Warum nicht jetzt noch das Handwerk des Buchrestaurators lernen? Besser spät als nie…
    Viele Grüße aus der Wiege der Buchdruckkunst
    Vera

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