Was für ein Leben! Vermutlich ist das der Gedanke, der mir beim Lesen des Romans »Damenopfer« am häufigsten durch den Kopf ging. Denn auch wenn es sich um ein fiktionales Werk und nicht um eine Biographie handelt, so erzählt Steffen Kopetzky dennoch eine wahre Geschichte. Die Geschichte eines Lebens. Eines kurzen Lebens zwar, das aber so spektakulär verlief, dass alleine schon die Eckdaten klingen wie ein Roman. Denn die 1926 verstorbene Larissa Reissner hatte viele Rollen inne in den knapp dreißig Jahren, die ihr gegeben waren. Die Tochter eines russischen Juristen mit deutschen Wurzeln glaubte fest daran, die Welt zum Besseren verändern zu können. Als Mitglied der Bolschewistischen Partei war sie in der russischen Oktober-Revolution aktiv, kämpfte während des russischen Bürgerkriegs in der Roten Armee und war Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Sie trug entscheidend zur Rückeroberung der Stadt Kasan bei; eine der Schlüsseloperationen für den endgültigen Sieg der Bolschewiki über die Weißgardisten. Aber Larissa Reissner focht nicht nur mit der Waffe: Sie war Schriftstellerin, verfasste Reportagen, Zeitungsartikel und Reiseberichte. Ständig unterwegs entwarf sie Pläne, um die Revolution in die Welt hinauszutragen, kannte zahllose Intellektuelle; Boris Pasternak und Leo Trotzki sprachen an ihrem Grab. Und das sind nur ein paar der biographischen Details dieses außergewöhnlichen Lebenslaufes, der sich kaum in Worte kleiden lässt. Doch Steffen Kopetzky hat es geschafft: Mit seinem Roman holt er den Menschen hinter diesen Details aus dem Schatten der Geschichte und bringt uns Larissa Reissner so nahe, wie es fast ein Jahrhundert nach ihrem Tod nur möglich ist.
Und dieser Tod – sie starb am 9. Februar 1926 an Typhus – steht im Mittelpunkt des Buches. Ihre Beerdigung ist der rote Faden, der sich durch die gesamte Romanhandlung zieht. Wir begleiten die drei Totengräber Arkadi, Alexej und Timofei vom frühen Morgen dieses Tages an, erleben mit, wie sie in eisiger Kälte Tee kochen, übermüdete Gespräche führen, durch den Schnee über den riesigen Wagankowoer Friedhof in Moskau stapfen – bis hin zu der Stelle, an der sie im tiefgefrorenen Boden das Grab für Larissa Reissner ausheben müssen. Und als sie erfahren, wer an diesem Platz beerdigt werden soll, löst das bei dem ehemaligen Matrosen Timofei Boluchin tiefe Bestürzung aus; er erinnert sich an seine Zeit in der Marine und an die junge revolutionäre Dichterin, die literarische Kurse für die Matrosen gab. »Sie lehrte mich, nicht nur auf die Revolution zu hoffen, sondern selbst Revolution zu sein.«
Im Laufe der Handlung treffen wir die drei immer wieder; so, als würde eine Kamera regelmäßig auf das Grab schwenken. Sie kommen gut voran, es wird tiefer und tiefer – und am Ende laufen wir mit dem Sarg in einer Prozession zum Friedhof. Es ist eine grandiose schriftstellerische Idee, den Ablauf der Beerdigung in den Mittelpunkt des Buches zu stellen, denn ein Leben wie das der Reissner erzählt sich nicht chronologisch, es ist zu vielschichtig, zu rast- und ruhelos. Steffen Kopetzky berichtet episodenhaft von ihr und verflicht dies mit den Fortschritten der Totengräber.
Es entsteht ein revolutionäres Kaleidoskop, das diese Zeit des Umbruchs aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet – und dabei stets den Scheinwerferkegel auf Larissa Reissner wirft. In vielen Kapiteln treffen wir auf die Akteure jener Zeit, erleben, wie sie auf die Nachricht vom Tod der charismatischen Revolutionärin reagieren und wie sie sich an sie erinnern. In anderen Abschnitten begleiten wir Larissa Reisner selbst; sind bei ihr, wenn sie bei einem literarischen Abend in einer Datscha außerhalb Moskaus auftaucht, begleiten sie bei ihrer Geheimmission unter anderem nach Leipzig, um mit Akteuren vor Ort die Revolution nach Deutschland zu tragen. Es war die Zeit des Hamburger Aufstands von 1923, mit dem die von der Sowjetunion gesteuerte KPD die Regierung des durch Inflation, Reparationszahlungen und Rheinlandbesetzung geschwächten Deutschlands stürzen wollte – der aber in kürzester Zeit niedergeschlagen werden konnte. Reissner schrieb dazu den Text »Hamburg auf den Barrikaden«. Immer wieder geht es um ihre Aktivitäten im Bürgerkrieg, um ihre Zeit in Afghanistan, wo sie offiziell lediglich als Gattin des sowjetischen Botschafters Fjodor Raskolnikow – ehemaliger Flottenkommandeur und einer der wichtigen Akteure der russischen Revolution, der sich seinen Kampfnamen bei Dostojewski geborgt hat – lebte, inoffiziell aber versuchte, den Emir in Kabul von einer gemeinsamen Aktion mit der Roten Armee zu überzeugen, um das englische Kolonialreich in Indien anzugreifen. Und damit dem europäischen Imperialismus eine tödliche Wunde zu versetzen.
Diesen Plan versucht sie im Geheimen voranzutreiben und bringt zu diesem Zweck zwei unterschiedliche Menschen zusammen: Den sowjetischen General Michail Tuchatschewski und Oskar von Niedermayer, einen Funktionär der Deutschen Reichswehr. Der Name Niedermayer klingt vertraut für die Leser von Steffen Kopetzkys Büchern. Er leitete während des Ersten Weltkriegs eine Geheimmission des Deutschen Kaiserreichs und verfolgte den Plan, die Bevölkerung Zentralasiens zum Angriff auf Indien zu bewegen – auf das Herzstück des British Empire. Im Roman »Risiko« geht es um dieses wahnwitzige Projekt; um eine Expedition, die sich irgendwo in den Bergen Afghanistans im Nichts verlor. Bei dieser Gelegenheit: ein grandioses Buch, unbedingt lesen!
Von Niedermayer taucht in »Damenopfer« jedenfalls wieder auf, denn Larissa Reisner erfährt in Kabul von dessen akribisch ausgearbeiteten, aber gescheiterten Plänen – damit beginnt das Buch – und versucht, deren Verfasser in Deutschland ausfindig zu machen. Es gelingt, und zwischen ihr und den beiden so unterschiedlichen Männern entwickelt sich eine Beziehung, eine ménage à trois, während sie planen, das Britische Weltreich zu erschüttern. Ihr früher Tod bereitet den Planungen ein Ende. Niedermayer wird die geheime Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee vorantreiben, später in die NSDAP eintreten und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem sowjetischen Gefängnis sterben. Sein Konterpart General Tuchatschewski sollte die Terrorherrschaft Stalins nicht überleben, er wurde 1937 vom NKWD erschossen.
Schon bei Larissa Reissners Beerdigung liegt ein Schatten über den Menschen auf dem Weg zum Friedhof, über Moskau, über dem ganzen Land. Zu Beginn ihrer Existenz mag die Sowjetunion das revolutionäre Ergebnis einer Utopie gewesen sein, die sich anschickte, eine gerechtere Welt zu erschaffen. Doch ertrank diese Utopie schon bald in Strömen von Blut und neu entstehenden Hierarchien. An einer Stelle wird der Kronstädter Matrosenaufstand erwähnt, dessen Teilnehmer 1921 das Ende der Einparteiendiktatur forderten und von der Roten Armee zu Tausenden niedergeschossen wurden. In den Straßen Moskaus sitzen kriegsversehrte Bettler, deren Orden für ihre Verdienste im Bürgerkrieg sie nicht vor dem Hunger schützen. Immer wieder sind Details dieser Art in die Erzählung eingestreut, sie verleihen dem Buch eine ganz eigene Stimmung. Eine Stimmung, die nichts Gutes verheißt. Denn war schon die junge Sowjetunion in kurzer Zeit zu einem Unrechtsstaat mutiert, so sollte das Schlimmste erst noch kommen. Nicht einmal zwei Jahre nach Larissa Reissners Beerdigung, im November 1927, greift Stalin nach der alleinigen Macht – Millionen von Menschen wird dies das Leben kosten. Und Stalins künftige Schergen und Folterer laufen bereits in der Prozession zu Reissners Grab mit – eine grandiose Szene des Buches, die einen Ausblick auf die kommende dunkle Zeit gibt. Und einen Schlusspunkt setzt, denn mit Larissa Reissners Tod endet nicht nur ihr Leben, sondern die Jahre der Idealisten, die aufbrachen, um eine bessere Welt zu erschaffen. Und dabei untergingen, während sich eine Schreckensherrschaft wie ein dunkler Schatten über Russland legte. Und dieses Land geprägt hat, bis heute.
Es ist kaum möglich, alle Facetten dieses brillant recherchierten und mitreißend geschriebenen Romans einzufangen. Was ist Fiktion? Was sind historische Wahrheiten? Es ist egal, alles wirbelt durcheinander, es entsteht das Bild einer längst vergangenen Epoche, und am Ende bleibt einem nur, die vier Worte zu wiederholen, mit denen dieser Text beginnt: Was für ein Leben!
Zum Abschluss dieses Blogbeitrags gibt es einen kurzen Textauszug aus dem Buch, in dem wir Larissa Reissner selbst begegnen, als sie durch die Straßen Moskaus läuft.
»Mit ihrer bunt zusammengenähten und mit Glas, Lapislazuli und Perlen bestickten afghanischen Umhängetasche ist sie auch jetzt, was sie immer schon war: eine Erscheinung, die den Passanten einerseits vertraut vorkommt, andererseits einen so außergewöhnlichen Anblick bietet, dass sie stehen bleiben und den Kopf nach ihr drehen. Sie trägt ein weißes Kleid mit großer Weste, einen englischen Hut und dazu diese Patchwork-Tasche. Niemand von denen, sie sie bewundernd für die Epiphanie dieses frisch erstrahlenden Maitags in Moskau halten, ahnt, dass sich in ihrer schönen Tasche das Material zu einem Weltkriegsplan verbirgt.«
Nicht lange danach verschwindet sie im Dunkel der Geschichte. Steffen Kopetzky hat sie mit seinem wunderbaren Buch wieder daraus hervorgeholt. Eine große Leseempfehlung!
Buchinformation
Steffen Kopetzky, Damenopfer
Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-7371-0151-6
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*In der Rubrik »Gestatten …?« werden auf Kaffeehaussitzer in loser Reihenfolge Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Geschichte vorgestellt, die ich durch Bücher über sie – oder von ihnen – besser kennengelernt habe.