Heimkommen. Ein Textbaustein*

Graham Norton: Heimweh

Es gibt diese Textstellen, die einen beim Lesen innehalten lassen. Über die man geradezu stolpert, die man noch einmal liest und ein weiteres Mal. Und die einem danach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Eine solche Stelle ist mir im Roman »Heimweh« von Graham Norton begegnet. Es ist eine Schlüsselszene des Romans: Der über fünfzigjährige Connor Hayes kehrt nach jahrzehntelanger Abwesenheit nach Mullinmore zurück; es ist ein kleiner Ort in Irland, irgendwo in der Gegend von Cork. Als er sich in seinem Mietwagen langsam der Landschaft nähert, in der er aufgewachsen ist, als die Straßen, die Felder, die in der Luft liegende Stimmung immer vertrauter werden und trotzdem vage fremd bleiben, als er das Städtchen vor sich sieht, in dem vor langer Zeit sein unstetes Leben den Anfang nahm – da fallen sie, die beiden Sätze.

»Das war es, was Heimkommen bedeutete. Anzukommen und festzustellen, dass man eine Sprache fließend beherrschte, von der man vergessen hatte, dass man sie jemals gesprochen hatte.«

Zwei Sätze, kurze Gedankensplitter. Doch absolut perfekt auf den Punkt gebracht. 

Connor war nicht freiwillig gegangen, damals, 1987, kurz nach dem Ende seiner Schulzeit. Nachdem er in einen Verkehrsunfall verwickelt war, bei dem von den sechs jungen Menschen im Wagen drei starben, wurde er zur Persona non grata in Mullinmore. Und mit ihm bekam seine Familie die Ausgrenzung zu spüren: Es kamen keine Gäste mehr in den Pub seiner Eltern, seine Schwester wurde geschnitten. Connor selbst stand ohnehin schon immer am Rand, hatte keine Freunde, war ein Einzelgänger. Um die Situation zu klären, schickt sein Vater ihn nach England, wo er in der Baufirma von Verwandten arbeiten sollte – und damit beginnt eine jahrzehntelange Odyssee. Wobei der Begriff nicht ganz zutreffend ist, denn Odysseus war auf dem Weg in seine Heimat, während Connor in den Jahren des Umherirrens jeglichen Bezug zu seinem Herkunftsort verliert. Niemals von sich hören lässt, auf der Suche ist nach sich selbst und dabei nie richtig ankommt – auch wenn er schließlich in New York ein Leben findet, in dem er sich nicht zu verstellen braucht, um nicht als Außenseiter aufzufallen. Zurück in die engstirnige, provinzielle Enge Irlands kann und will er nicht. 

Währenddessen geht das Leben in Mullinmore weiter, seine Eltern verzehren sich nach Informationen über den Verbleib ihres Sohnes und werden zu alten Menschen, seine Schwester heiratet, wird Mutter. Und die Jahre vergehen. Es sind zwei Handlungsstränge mit geschickt eingebauten Rückblicken auf den dramatischen Tag des Verkehrsunfalls, der uns Leser nach und nach verstehen lässt, was genau damals eigentlich geschehen ist. Und warum es für Connor keinen anderen Weg geben konnte, als alles hinter sich zu lassen. 

Als im Jahr 2012 – genau 25 Jahre nach jenem tragischen Ereignis – Connor in einer New Yorker Bar einen anderen Iren kennenlernt, beginnen die beiden weit nebeneinander her laufenden Handlungsstränge enger zusammenzurücken – bis sie sich in dem Moment von Conners Ankunft in Irland vereinen. Bis die beiden Sätze fallen, die mich so sehr bewegt haben: 

»Das war es, was Heimkommen bedeutete. Anzukommen und festzustellen, dass man eine Sprache fließend beherrschte, von der man vergessen hatte, dass man sie jemals gesprochen hatte.«

Mehr über den Inhalt des Buches möchte ich gar nicht erzählen – denn die Handlung ist so wunderbar verzahnt komponiert, dass jeder weiterer Satz zum Inhalt und seinen Wendungen zu viel preisgeben würde. Lest den Roman, es lohnt sich. 

Und es sollte ja auch vor allem um diese beiden Sätze gehen, die ich umgehend in meine Sammlung von Textbausteinen aufgenommen habe. Das beschriebene Gefühl des Heimkommens kenne ich sehr gut: 1989 bin ich aus der kleinen Stadt am Bodensee, in der ich aufgewachsen bin, weggezogen. Damals war ich zwanzig, der Zivildienst schubste mich in die Welt hinaus – und als er zu Ende war, wollte ich nicht mehr zurück, auch wenn ich die Gegend, den See und die Stimmung dort immer geliebt habe. Aber das Gefühl des Weiterwollens war stärker. Und heute, so viele Jahre später, geht es mir genau so, wie Graham Norton es mit seinen zwei Sätzen beschreibt. Es ist alles vertraut, aber dennoch fremd – doch es dauert jedes Mal nicht lange, bis die Vertrautheit überwiegt. Es ist das Gefühl des Heimkommens, ohne dort Zuhause zu sein oder es je wieder sein zu wollen. Es ist das Gefühl, zurück in der Heimat zu sein. 

Dabei ist »Heimat« ein Begriff, der durchaus kontrovers diskutiert werden kann. Das Wort trägt heute den Geruch des völkisch-nationalen und sobald es genutzt wird, um ein kollektives Bewusstsein zu beschreiben, hat es etwas brutal Ausgrenzendes, etwas Abschottendes. Aber es hat auch eine vollkommen andere Bedeutung: als individuelles Gefühl beschreibt es das Prägende meines Aufwachsens mit all seinen Höhen und Tiefen. Und sobald ich wieder dort bin, am Ufer des Bodensees, merke ich, wie sehr mich alles berührt: Der weite Blick, die Gelassenheit einer kleinen Stadt, die badische Sprachmelodie der Menschen, die Stimmung, die in der Luft liegt und die so ganz anders und eigen ist. Und auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dort wieder zu leben geht mir jedes Mal das Herz auf. Auch das bedeutet »Heimat«. Daher hat mich die Textstelle aus »Heimweh« so berührt und zum Ende dieses Blogbeitrags möchte ich sie ein weiteres Mal zitieren: 

»Das war es, was Heimkommen bedeutete. Anzukommen und festzustellen, dass man eine Sprache fließend beherrschte, von der man vergessen hatte, dass man sie jemals gesprochen hatte.«

* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich, manche davon seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.

Buchinformation
Graham Norton, Heimweh
Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus und Katharina Naumann
Rowohlt Taschenbuch Verlag
ISBN 978-3-499-00650-0

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