George Grosz trifft Agatha Christie

Cay Rademacher: Die Passage nach Maskat

Wenn ich einen Blogbeitrag beginne, um ein Buch vorzustellen, habe ich in der Regel bereits eine grobe Gliederung im Kopf. Oftmals wird der Text dann doch ganz anders als gedacht, doch zumindest der Einstieg fällt mir nie schwer. Dieses Mal ist es anders. Einen Abend lang habe ich versucht, die ersten Sätze zu schreiben, aber die Worte wollten nicht so wie ich. Jetzt also der nächste Versuch. Es geht um das Buch »Die Passage nach Maskat« von Cay Rademacher, auf dessen Umschlag das Wort »Kriminalroman« steht. Und ja, auf den ersten Blick ist es eine beinahe klassische Whodunit-Geschichte. Doch beim zweiten Blick gibt es darin noch eine ganze Menge mehr zu entdecken – und dies herauszuarbeiten, ohne zu viel von der Handlung zu verraten, ist nicht ganz einfach. Beginnen wir erst einmal mit der zeitlichen Einordnung. 

Herbst 1929

Ob im frühen Herbst des Jahres 1929 jemand die Katastrophe kommen sah? Knapp elf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs war in Mitteleuropa eine vorsichtige Stabilität eingekehrt, das demokratische Experiment der Weimarer Republik schien zu gelingen. Innenpolitisch war die Lage ruhiger als in den Jahren zuvor, außenpolitisch deutete sich eine vorsichtige Normalisierung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten an, den ehemaligen Kriegsgegnern. Doch nur wenige Wochen später, am 24. Oktober 1929, sollte der Zusammenbruch der New Yorker Börse eine globale Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes auslösen, die wie ein Tsnuami alles mit sich reißen, jene Stabilität hinwegfegen und unzählige Existenzen zerstören würde. Noch Anfang Oktober war dieses Szenario nicht vorstellbar – wenn auch in den Schatten die Gegner der Demokratie auf ihre Stunde warteten; all die rechtsnationalen Seilschaften aus konservativen Gruppierungen, Großunternehmern und Militärs, die der Hass auf die demokratische Ordnung einte.

 Das Schiff und seine Passagiere

In den ersten Oktobertagen des Jahres 1929 legt in Marseille der Ozeanliner Champollion ab. Die knapp zweiwöchige Reise führt über Port Said, den Suezkanal und Aden nach Maskat am Golf von Oman. Und damit beginnt der Roman. Gleich zu Beginn lernen wir Theodor Jung kennen, einen Photoreporter der Berliner Illustrirten Zeitung, die in jener Zeit mit knapp zwei Millionen Exemplaren eine der auflagenstärksten Publikationen Europas war. Jung ist dreißig Jahre alt, doch seine Jugend hat er im Weltkrieg verloren. Er überlebte das große Gemetzel, aber die Jahre an Bord eines U-Boots im Kampfeinsatz haben traumatische Spuren hinterlassen. An Bord der Champollion ist er aus zwei Gründen: Zum einen soll er eine Photoreportage über die illustren Passagiere abliefern. Zum anderen gehört seine Frau genau zu diesen; Dora stammt aus der steinreichen Hamburger Kaufmannsfamilie Rostberg, die ihr Geld mit dem Gewürzhandel gemacht hat. Begleitet wird sie von ihren Eltern, ihrem Bruder Ernst Rostberg und von Bertold Lüttgen, dem Prokuristen der Firma, der gerne selbst Schwiegersohn des alten Rostberg wäre. Alle außer Dora sind zutiefst reaktionär gesinnt, hassen die Demokratie und wünschen sich eine Revanche für die Schmach der Kriegsniederlage. Kurz: Sie gehören genau zu der Gesellschaftsschicht, die nur wenige Jahre später zum Steigbügelhalter der Nazi-Diktatur werden sollte. Und sie verachten Theodor Jung.

Der George-Grosz-Moment

Gleich auf der ersten Seite treffen wir auf jenen Bertold Lüttgen, im Gespräch mit Theodor Jung. Er will den Photographen dazu bringen. das Schiff zu verlassen und die Reise nicht anzutreten. Der Autor Cay Rademacher beschreibt ihn so: »Das linke Auge glitzerte dunkel durch den Qualm seiner Zigarette, vielleicht vor Gier oder Spott. Oder Mordlust. Das rechte Auge blieb hinter dem Monokel verborgen. Er sah aus wie ein Automatenmensch aus einem Film von Fritz Lang, schnippte die Kippe achtlos über Bord, zog ein silbernes Etui aus der Jackettasche und steckte sich eine neue Zigarette an.«

Das ist der Georg-Grosz-Moment des Buches, denn Lüttgen wirkt wie aus dem Grosz-Gemälde »Die Stützen der Gesellschaft« entsprungen, mit denen der Maler genau jene Gesellschaftsschicht der stockkonservativen Demokratieverächter darstellte – bissig, scharfzüngig, karikaturhaft übersteigert und damit exakt auf den Punkt gebracht. Nicht anders der alte Rostberg mit seinem Stiernacken und den Schmissen auf den Wangen, »ein Schwergewichtsboxer, der sich in Frack geworfen hatte«. Nicht anders sein Sohn Hugo, »ein Arier mit Bierbauch«, der seine SA-Uniform zu Hause gelassen hat. Dazu die verkniffene, stets missmutig dreinschauende Mutter Rostberg. 

Das Schiff legt ab. Mit Theodor Jung und dem Rostberg-Clan an Bord. Und mit seiner Frau Dora Jung, geborene Rostberg. Doch nach zwei, drei Tagen ist Jung nur noch mit den Rostbergs zusammen auf dem Schiff. Ohne Dora. Ihr Gepäck ist verschwunden, im Speisesaal ist nicht für sie gedeckt, niemand an Bord will sie gesehen haben. Und sein Schwiegervater erzählt ihm, sie sei natürlich in Berlin und wäre niemals auf dem Schiff gewesen.

Hommage an Agatha Christie

Erinnerungslücke oder Wahnvorstellung aufgrund jahrelangen Tablettenkonsums, um sein Trauma in den Griff zu bekommen? Ein einziger großer Irrtum? Oder ein perfider Plan? Was ist mit Dora geschehen? Theodor Jung steht mit dem Rücken zur Wand. Denn wenn sie nicht in Berlin sein sollte und auch nicht an Bord des Schiffes ist, falls sie völlig verschwunden sein sollte – dann würde ihm bei Ankunft am Zielort eine Verhaftung wegen Mordverdacht drohen. Es beginnt eine verzweifelte Suche nach der Wahrheit, bei der er nach und nach feststellt, dass einige Reisende nicht zufällig auf dem Schiff sind. Erste, noch vage Zusammenhänge deuten sich an, die Recherche führt ihn tiefer hinein in die Familiengeschichte der Rostbergs, als es ihm lieb ist. Und während die Champollion stetig in Richtung Süden fährt, während sich die Schlinge langsam um Theodors Hals zusammenzuziehen beginnt, findet er unerwartete Verbündete, sammelt Informationen, schaut in Schubladen und Aktentaschen – und ganz langsam beginnt alles einen Sinn zu ergeben. Einen sehr beunruhigenden Sinn. Die Möglichkeiten der Recherche sind begrenzt, doch Verzweiflung und Wut leiten ihn. Dinge geraten in Bewegung und so viel kann an dieser Stelle gesagt werden: Nicht alle an Bord kommen lebend in Maskat an. 

Eine verschwundene Person, Hinweise auf ein mögliches Verbrechen, ein vertracktes Puzzle mit Informationshäppchen und das alles im begrenzten Umfeld eines Schiffes: Die Komposition der Handlung ist eine Hommage an Agatha Christie, bevölkert mit Figuren, von denen einige George Grosz geschaffen haben könnte. Was für eine reizvolle Kombination.

Ein Kriminalroman als Vehikel

Cay Rademacher nutzt das Vehikel eines spannenden, klug konstruierten Kriminalromans, um einen Einblick zu geben in die gesellschaftlichen Strukturen der Weimarer Republik und in die Gedankenwelt skrupelloser, nationalkonservativer Unternehmer. Einige charmante kulturelle Verweise sind eingestreut, etwa als die Passagiere bei einem Landausflug im ägyptischen Tal der Könige auf Howard Carter treffen. Oder als im Bordkino Fritz Langs monumentaler Film »Metropolis« gezeigt wird, dessen ausufernde Produktionskosten seinerzeit die UFA fast in den Konkurs getrieben hätten. Und dessen Modernität seiner Zeit voraus war – ein Film als das Symbol der Zwanzigerjahre schlechthin. Kurzum: Ein rundum gelungener Roman, dessen auflösendes Ende sich im letzten Drittel abzuzeichnen beginnt, aber das trotzdem anders ist, als ich es erwartet hätte. 

In Maskat trifft das Schiff am 25. Oktober 1929 ein. Einen Tag, nachdem die Welt sich zu verändern begonnen hatte. 

Buchinformation
Cay Rademacher, Die Passage nach Maskat
DuMont Buchverlag
ISBN 978-3-8321-8197-0

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5 Antworten auf „George Grosz trifft Agatha Christie“

  1. Ich liebe es, wenn ein Buch nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern auch eine Reise durch die Zeit und Kulturen ermöglicht. Nach deiner Beschreibung bin ich jetzt schon gespannt darauf, die Charaktere auf ihrer abenteuerlichen Passage zu begleiten.

    Vielen Dank für diese lebendige Empfehlung! Welches Buch steht als Nächstes auf deiner Leseliste?

  2. Danke, lieber Uwe Kalkowski, für diesen tollen Hinweis. Ich habe mir das Buch daraufhin gekauft und es ist wirklich lohnend zu lesen. Sprachlich auf gutem Niveau, spannend, und die Story zudem in interessanter Kulisse angesiedelt. Diese Reise könnte ich mir so auch vorstellen.
    Ich wünsche Dir einen guten Start ins Jahr 2024 und dass Du für Dich auch künftig immer die richtige Balance findest in diesen turbulenten Zeiten. Beschenke uns weiter mit Deinen hilfreichen Rezensionen!

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