Welch vortrefflich Werk

Thomas Willmann: Der einserne Marquis

Das Warten hat sich gelohnt. Der 2010 erschienene Roman »Das finstere Tal« von Thomas Willmann hatte mich seinerzeit vollkommen begeistert und seitdem war ich gespannt auf das nächste Buch des Autors. »Er schreibt daran« – so hieß es seitens des Liebeskind-Verlags Jahr für Jahr, wenn ich auf den Buchmessen danach fragte. Das war schon fast eine Art liebgewonnenes Ritual, bis es in diesem September endlich soweit war und tatsächlich ein neuer Roman von Thomas Willmann in den Buchhandlungen auftauchte. »Der eiserne Marquis« lautet der Titel, über zwölf Jahre lang hat er daran geschrieben, über zwölf Jahre lang haben seine Leser darauf gewartet. Und auch wenn ich mich wiederhole: jeder einzelne Tag davon hat sich gelohnt. 

»Der eiserne Marquis« führt uns in die Mitte des 18. Jahrhunderts, hinein in eine Zeit, in der sich große Umbrüche andeuteten. Absolutistische Monarchen herrschten mit eiserner Hand über ihre Länder, während die Epoche der Aufklärung den klerikalen Mief beiseite fegte und den Weg frei machte für neues Denken. Noch beinahe mittelalterliche Strukturen prägten das Leben der Landbevölkerung, während sich gleichzeitig eine Blütezeit der Wissenschaft anbahnte, sich der Beginn der Industrialisierung bemerkbar machte, der Fortschrittsglaube ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Denkens war. Kriege begannen globale Ausmaße anzunehmen – der Siebenjährige Krieg zwischen 1756 und 1763 wurde nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Nordamerika und Indien ausgetragen. Und über alldem lag der erste, noch vorsichtige, aber spürbare Dufthauch einer großen Revolution. Stillstand und Bewegung in Richtung einer ungewissen Zukunft – das sind die beiden Pole jener Epoche, die sie moderner erscheinen lassen, als es uns gemeinhin bewusst ist.   

Dies ist die Zeit des Jacob Kainer, Sohn eines Schulmeisters in der tiefsten österreichischen Provinz, Uhrmachergeselle in Wien, Soldat in preußischen Diensten, genialer Erfinder, Getriebener, Beobachter, Liebender, Besessener, Mörder; ein Mensch auf der Suche nach seiner Bestimmung. Eine Suche, die ihn bis an die Schwelle des Wahns führen wird und vielleicht darüber hinaus. Und der Roman »Der eiserne Marquis« erzählt seine Geschichte. Wobei es die Formulierung »erzählt seine Geschichte« nicht ganz trifft: Der Autor Thomas Willmann schreibt uns hinein in den Kopf, in die Gedanken Jacob Kainers. 920 Seiten lang begleiten wir ihn auf seiner Lebensreise, so intensiv und unmittelbar beteiligt, als seien wir jede Minute lang dabei gewesen. Eine Lebensreise, die uns mitten durch ein Zeitalter des Wandels führt. 

»Der eiserne Marquis«: Ein Sprachkunstwerk

Wie schafft der Autor dieses Kunststück? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach, sie macht jeden gelungenen Roman aus: Durch die Sprache. Und doch ist es in diesem Fall etwas Besonderes: Das gesamte Werk ist in der Tonlage des 18. Jahrhunderts geschrieben – ohne dass es gekünstelt oder aufgesetzt wirkt. Konsequent, ohne Brüche, bis hin zu kleinsten, liebevoll ausgestalteten Details. Etwa wenn Personen nur mit einem Großbuchstaben abgekürzt werden, so wie es in den Werken jener Zeit üblich war (Kleists Marquise von O…. lässt grüßen). Doch am besten lasse ich das Buch hier für sich selbst sprechen; dieser kurze Ausschnitt beschreibt, wie Jacob Kainer nach vielen Irrwegen in Paris eintrifft, einer der größten Städte Europas.

»Ebenso sah ich Paris nicht nahen – vermochte die Stadt lediglich zu fühlen als eine Präsenz. Hinter dem Schleier – oder schon mehr: dem Vorhang – des Nebels war mittlerweile die Sonne dem Ende ihres Tagwerks entgegengesunken und zog mit sich den Rest an Leuchten aus der Luft. Doch selbst in dem verfinsternden, ausgewaschenen Grau empfand ich vor uns etwas sich ballen, Schwere sammeln, als würden Luft und Licht sich verdicken. So musste ein Blinder am Fuße der Alpen die Gebirge über sich ragen und dräuen empfinden. Ein behäbig mahlendes Grollen drang, nicht an die Ohren, sondern in Bauch und Brust; die dämpfende, betäubende Feuchte des Nebels schien unmerklich schwanger von dem berühmten Miasma Paris’, dem Gestank fauligen Wassers, modernden Steins, treulosen Geldes, Hunderttausender wesender Leiber. Mir war wie einem Seefahrer, welcher unter sich aus gottlosen Tiefen etwas Gewaltiges, Uraltes aufsteigen ahndet – kurz bevor der Leviathan die Meeresoberfläche durchbricht und Mann und Schiff verschlingt.«

Auf der letzten Frankfurter Buchmesse hatte ich die Gelegenheit, mit Thomas Willmann zu sprechen, der mir vom Schreiben dieses Romans erzählte – Wort für Wort hat er sich in diese längst vergangene Zeit versetzt, an manchen Tagen ist ihm nicht mehr als eine einzige Seite gelungen. Eine langwierige Arbeit, doch das Ergebnis ist ein einzigartiges Sprachkunstwerk. Zwar kann mir vorstellen, dass sich manch Leser mit diesem Stil erst einmal schwertut, aber ich empfehle sehr, sich darauf einzulassen. Und ja, die ersten Seiten musste ich mich an die Sprache gewöhnen, doch dann habe ich jeden einzelnen Satz dieses außergewöhnlichen Romans genossen.

Beim Lesen gingen mir immer wieder Erinnerungen an Filme durch den Kopf, kurze Sequenzen etwa aus »Amadeus« (besonders die Eröffnungsszene, denn auch »Der eiserne Marquis« beginnt in einem Irrenhaus), aus »Barry Lyndon« oder aus »Das Parfum«. Die drei genannten Beispiele haben alle eine literarische Vorlage, doch »Der eiserne Marquis« ist pures Kopfkino. Daher versuche ich mich einmal an einem Filmtrailer. In diesem Fall an einem Kopfkinotrailer.

»Der eiserne Marquis«: Ein Kopfkinotrailer

Ein Blick auf die ärmlichen, ungepflasterten Straßen eines Dorfes. Schnitt. Ein Junge, der an einer Werkbank sitzt und bei schwacher Beleuchtung an kleinsten Zahnrädern feilt. Schnitt. Der gleiche Junge, etwas älter, mit einer vollgepackten Kraxe auf dem Rücken. Er läuft als Begleitung eines Uhrenhändlers eine Straße entlang, am Horizont taucht die prächtige Silhouette Wiens auf. Schnitt. Kurze Szenen belebter Straßen, Blicke in eine gepflegte Uhrmacherwerkstatt. Schnitt. Eine Kirche. Schnitt. Der Junge – Jakob Kainer ist nicht sein richtiger Name, doch wir erfahren nie einen anderen – ist inzwischen ein junger Mann, der vorgibt, in jener Kirche zu beten, aber nur Augen für eine wunderschöne junge Frau hat. Deren Kleidung und Auftreten sie als Angehörige der Adelsschicht ausweisen. Schnitt. Blick aus der Luft auf ein Landschloss, die Kamerafahrt geht nach unten, bis zu einer Umfassungsmauer, in der eine kleine Pforte halb offensteht. Schnitt. Eine in der Abenddämmerung nur vage erkennbare Person betritt einen Wald und verschwindet zwischen den Bäumen, diesmal geht die Kamerafahrt nach oben, der Wald in seiner riesigen Ausdehnung kommt ins Bild, nirgendwo ist ein Licht in der Dunkelheit zu sehen. Schnitt. Ein zerstörtes Dorf, aus einigen ausgebrannten Häusern steigen noch Rauchwolken auf. Ein Regiment Soldaten in abgerissenen Uniformen marschiert über eine schlammige Straße, es regnet, die Fahnen hängen nass herunter, vorneweg laufen die Trommler. Schnitt. Nahaufnahme auf eine Trommel und die Schlägel, die einen Rhythmus trommeln. Jetzt zoomt die Kamera in die Weite, Soldaten in Gefechtsordnung sind zu sehen, die sich in einer langen Reihe über ein Schlachtfeld bewegen. Manche stürzen, es gibt Explosionen, alles verschwindet im Pulverdampf. Schnitt. Eine hochherrschaftliche Reisekutsche, schlammverspritzt, fährt auf ein großes Gebäude zu. Schnitt. Ein elegant, aber zweckmäßig gekleideter Reisender steigt aus und betritt das Gebäude; darin befinden sich Soldaten mit Verbänden, Krücken, in vielen Betten liegen diejenigen, die es besonders schlimm getroffen hat. Es ist ein Lazarett. Schnitt. Wir sehen Jakob in Begleitung des Reisenden in der Kutsche sitzen. Schnitt. Bei Anbruch der Nacht fährt die Kutsche durch ein Stadttor von Paris. Schnitt. Es folgt eine schnelle Abfolge kurzer Szenen: Belebte Straßen, ein prächtiges, aber leicht ungepflegt wirkendes Haus, in die Jahre gekommene Zimmer mit unzähligen Büchern, Kellerräume voll wissenschaftlicher Instrumente im Licht zahlloser Kerzen, Jakob und der Reisende, die hemdsärmelig an Tischen stehen und etwas zu untersuchen scheinen, man meint, einen Arm des  Mannes im Kerzenlicht seltsam schimmern zu sehen, ein Maskenball, eine elegante Frau, ein verwirrter Jakob, der über die Tanzfläche stolpert, ein großer Platz, auf dem sich Menschen in absoluter Panik gegenseitig zu Tode trampeln, schließlich ein kurzer Blick in ein hohes Gewölbe im Feuerschein, so kurz, dass etwas Grauenvolles erahn- aber nicht erfassbar ist. Schnitt. Endlich die Nahaufnahme des Gesichts eines um viele Jahre gealterten Jakobs in einem dunklen, zellenartigen Raum, im Hintergrund ist eine verschlossene Türe zu erkennen. Schnitt und Schluss. 

Wie ein Kinotrailer soll auch dieser Kopfkinotrailer neugierig auf den Inhalt machen, ohne zu viel zu verraten – ich hoffe, es ist gelungen. Er kratzt nur an der Oberfläche der vielschichtigen und komplexen Handlung dieses opulenten Romans. Ein Roman, dem es gelingt, allein mit Worten eine andere Zeit zu erschaffen und uns tief in sie hinein zu ziehen; so intensiv, wie ich es bisher nur bei der Thomas-Cromwell-Trilogie von Hilary Mantel erlebt habe und nicht geglaubt hätte, dass dies noch einmal so perfekt gelingen würde.

Und um den letzten Satz in der Sprache jener Zeit zu schreiben: Welch brodelnd Leidenschaft, welch tiefste Verzweiflung, welch unstillbar Hunger nach Leben – welch vortrefflich Werk!

Buchinformation
Thomas Willmann, Der eiserne Marquis
Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-95438-165-4

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3 Antworten auf „Welch vortrefflich Werk“

  1. Wow, lieber Kollege, dein Mix aus Original-Zitat und Filmtraier macht mich neugierig. Das Buch werde ich gleich morgen im Buchladen bestellen.
    Mit Dank und herzlichen Grüßen
    Peter

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