101 Texte. 101 Tage. Ein Leseprojekt.

Sandra Kegel (Hg.): Prosaische Passionen

Es gibt einen Buchmessetermin, auf den ich mich jedes Mal sehr freue: Beim Bloggertreffen mit Manesse-Verleger Horst Lauinger gibt es stets besondere Bücher zu entdecken. Denn die Titel aus dem Manesse Verlag sind nicht nur bibliophile Schmuckstücke, nicht einfach nur Klassiker in neuem Gewand, sondern oftmals verlegerische Projekte, die neue Aspekte bereits bekannter Autorinnen und Autoren zeigen, aber auch immer wieder ganze Epochen literarisch neu erschließen. Schöne Beispiele sind etwa der Band über die Apokalypse als Literatur, die Zusammenstellung aus den Tagebüchern von Alexander von Humboldt als »Buch der Begegnungen«, die aufwendige Prachtausgabe der Göttlichen Komödie anlässlich des 700. Todestags von Dante Alighieri oder der großartige Sammelband »Über den Feldern« mit literarischen Texten rund um den Ersten Weltkrieg. In diesem Herbst allerdings wurde bei dem Messetermin ein Buch vorgestellt, das aus all den spektakulären Projekten noch einmal heraussticht – es ist ein editorisches Meisterwerk. »Prosaische Passionen« lautet der Titel, Herausgeberin ist die Literaturkritikerin und FAZ-Feuilletonchefin Sandra Kegel

»Prosaische Passionen« muss als ein Meilenstein gelten, denn diese Anthologie erschließt die Epoche der literarischen Moderne neu und fügt ihr entscheidende Stimmen hinzu, die bisher für eine Gesamtbetrachtung gefehlt haben. Die weiblichen Stimmen. Und daher lautet der Untertitel dieses 900-Seiten-Bandes: »Die weibliche Moderne in 101 Short Stories«.

Es geht um die Zeit ab dem Ende des 19. bis weit hinein in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, um den großen kulturellen Aufbruch in die Moderne. Literarische Experimente, neue Sichtweisen auf die Welt und das Leben prägten die Stilrichtungen jener Jahre. Es war eine Epoche der Umwälzungen, der Brüche, der Ungewissheiten, der Ängste und einer latenten Weltuntergangsstimmung – eine Mischung, die für eine permanente Spannung in der Kunst sorgte und Kunstschaffende neue Wege einschlagen ließ. Denken wir an die Literatur aus jener Zeit, fallen uns spontan Namen ein wie James Joyce, Marcel Proust, Samuel Beckett, Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Robert Musil, Georg Trakl, Gottfried Benn. Gerhart Hauptmann vielleicht. Oder auch Rainer Maria Rilke. Natürlich Virginia Woolf oder Gertrude Stein, klar. Fällt etwas auf? Genau. Wo sind eigentlich die vielen anderen Autorinnen? Die ein wichtiger Teil jener literarischen Avantgarde waren und die heute vergessen sind, ausgeblendet wurden, in der Versenkung eines männlich geprägten Literaturkanons verschwanden. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des 2010 im S. Fischer Verlag erschienenen Lesebuches zur literarischen Moderne bestätigt eindrücklich die Abwesenheit weiblicher Stimmen. 

Der Sammelband »Prosaische Passionen« macht diese Wahrnehmungslücke sichtbar und trägt dazu bei, sie ein großes Stück zu schließen: In jahrelanger, aufwändiger Recherchearbeit sind 101 Texte aus der Zeit der literarischen Moderne zusammengekommen, 101 Texte von Schriftstellerinnen und Dichterinnen. Die Herausgeberin Sandra Kegel schreibt in ihrem Nachwort: »Die vorliegenden Texte führen in ihrer Verschiedenheit ja vor allem eines schlagartig vor Augen: wie eminent weiblich die literarische Moderne war, nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt.« Die gesammelten Short Stories stammen aus über fünfzig Ländern aller Kontinente. Es sind bekannte Namen dabei, aber auch Autorinnen, die vollkommen vergessen waren oder die im westlichen Kulturkreis nie wahrgenommen wurden. Der globale Ansatz dieser epochalen Textsammlung – anders kann sie kaum genannt werden – bricht unsere eurozentrische Sichtweise auf die Literatur auf; er enthält Erst- und Neuübersetzungen aus dem Arabischen, Chinesischen, Dänischen, Englischen, Finnischen, Französischen, Griechischen, Hebräischen, Italienischen, Japanischen, Katalanischen, Koreanischen, Norwegischen, Persischen, Polnischen, Portugiesischen, Russischen, Tschechischen, Türkischen, Schwedischen, Ukrainischen, Ungarischen, Urdu und Walisischen.

Entstanden ist ein weltweites Panorama von Kurzprosa aus weiblichen Federn. Was für ein Projekt! Was für ein Buch! Was für eine Einladung zu einer literarischen Zeitreise, die es so noch nie zuvor gegeben hat. Und die dabei trotzdem erst der Anfang ist, eine dringende Anregung, sich weiter mit Texten der weiblichen Moderne zu beschäftigen – denn es gibt über die Anthologie hinaus noch unendlich viel zu entdecken. Als Rahmen für die Auswahl der Texte wurden die Geburtsjahrgänge der Autorinnen gewählt – alle sind sie zwischen 1850 und 1921 geboren. Aber in der Schlussbemerkung des Verlegers ist bereits ein weiterer Band vage angekündigt.

Die Texte in diesem Buch stehen jeweils für sich; im Anhang gibt es zu jeder der 101 Autorinnen einen kurzen Text mit ihrem Lebenslauf und den wichtigsten Eckdaten ihres Schaffens. 

101 Texte in 101 Tagen: Ein Lesejournal

In den Leseprojekten hier im Blog Kaffeehaussitzer stelle ich üblicherweise Bücher zu einem bestimmten Thema zusammen, um mich im Laufe der Zeit näher mit einem bestimmten Ereignis oder einer bestimmten Epoche zu beschäftigen. Mit diesem Buch, mit »Prosaische Passionen«, starte ich ein weiteres Leseprojekt – aber in diesem Fall reicht dieses eine Werk vollkommen aus, um einen neuen Blick auf eine Zeit zu werfen, die bekannt zu sein scheint, aber nun vollkommen neu entdeckt werden kann. Entdeckt werden muss. Das trifft es ganz gut: Mit diesem Buch beginnt eine wahre Entdeckungsreise und ich bin sehr gespannt auf die Texte und die Autorinnen, die mir begegnen werden.

Die 101 Texte, deren Längen zwischen drei und dreißig Seiten variieren, werde ich an 101 Tagen lesen und sie jeweils in wenigen Sätzen hier vorstellen. Ich werde dabei kreuz und quer durch das Buch streifen, mich nicht an die Reihenfolge der Texte halten, sondern mich einmal hier, einmal dort festlesen. Entstehen wird eine Art Lesejournal und wer es mitverfolgen möchte, sei hiermit herzlich eingeladen, regelmäßig an dieser Stelle vorbeizuschauen. 

Und falls ich es geschafft habe, bereits jetzt Neugier auf dieses Werk zu wecken (was ich hoffe), dem sei der Gang in die Buchhandlung des Vertrauens unbedingt empfohlen.

Wer mehr über die Arbeit an diesem Buchprojekt erfahren möchte: Hier gibt es ein Interview mit der Herausgeberin Sandra Kegel.

Sandra Kegel (Hg.): Prosaische Passionen

Lesetag 37 folgt …

Lesetag 36
Teresa de la Parra: Freiheit
(aus dem venezolanischen Spanisch von Petra Strien-Bourmer)

Im gestrengen Haushalt ihrer Großeltern lebt die junge Mariá Eugenia. Zwischen gesellschaftlichen Verkuppelungsversuchen und einem vagen, unausgesprochenen Wunsch nach Freiheit rettet sie sich in eine Phantasiewelt aus Lügen und Halbwahrheiten: »Seit ich bei Großmama lebe, lüge ich auf Schritt und Tritt; durch die ständige Übung hat sich meine Fantasie unglaublich entwickelt und es zu einer erstaunlichen Wendigkeit gebracht. (…) Ja, die Lüge nimmt sich der Rechtlosen an und versöhnt ganz unauffällig die Tyrannei mit der Freiheit.« Und doch ist ihr bewusst, dass es aus den Konventionen ihrer Zeit keinen Ausbruch geben wird – als Leser erfahren wir dies wie nebenbei und lassen die junge Frau in eine ungewisse Zukunft gehen. 

Teresa de la Parra (1889 – 1936) wurde als Tochter eines venezolanischen Diplomaten in Paris geboren, wuchs in Venezuela und Spanien auf und zog mit Anfang Zwanzig nach Caracas. Hier begann sie zu schreiben; nach ersten Erfolgen ging sie nach Paris, wo ihr 1924 erschienener Roman »Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt« erschien – die in »Prosaische Passionen« enthaltene Short Story ist ein Auszug daraus. Eines ihrer Grundthemen ist die Zurücksetzung gebildeter Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Teresa de la Parra starb mit nur 46 Jahren an den Folgen einer Tuberkuloserkrankung; ihr Sarg steht heute im Panteón Nacional de Venezuela.

Lesetag 35
Marie Vieux-Chauvet: Das Kind der Wälder
(aus dem kreolischen Französisch von Nathalie Lemmens)

Es sind nur dreieinhalb Seiten Text, doch in ihnen steckt die ganze Tragik eines jungen Lebens. Die Tragik eines Außenseiters, der seinen Frieden und seine Erfüllung gefunden hat. Und der in dem einen Moment, in dem sich alles ändern könnte, alles verliert. Dreieinhalb Seiten, die unter die Haut gehen. 

Marie Vieux-Chauvet (1916 – 1973) ist die große literarische Stimme Haitis, deren Romane »Töchter Haitis« und »Der Tanz auf dem Vulkan« dank der Übersetzung von Nathalie Lemmers nun auch bei uns zu entdecken sind; zwei Klassiker des 20. Jahrhunderts. Marie Chauvet – so der Name, unter dem sie publizierte – begann ihre schriftstellerische Karriere als Theaterautorin; als Haiti unter dem Gewaltherrscher Papa Doc zu einer Diktatur mutierte, wurden ihre Texte kämpferischer – und ihr Leben gefährdeter, je mehr Erfolg sie hatte. Sie emigrierte in die USA, wo sie 1973 in New York starb.

Lesetag 34
Tekahionwake: Eine Heidin in St. Paul’s Cathedral
Impressionen der Irokesendichterin in der Londoner Kathedrale
(aus dem Onondaga-Englisch von Melanie Walz)

Wie wirken die Größe, die Pracht und die Symbolik der Londoner St. Paul’s Cathedral auf eine Besucherin aus einem anderen Kulturkreis? Damit beschäftigt sich diese Short Story, in der Tekahionwake ihre Ich-Erzählerin vom Stamm der Irokesen die Kathedrale besuchen lässt. Die Spiritualität des Ortes spricht zu ihr – weckt aber vor allem Bilder von Ritualen und der Lebensweise ihres Stammes in ihr. Sie überlagern all die Größe, die Pracht und die Symbolik. Und erzeugen eine Sehnsucht nach ihrer Welt, die so ganz und gar anders ist, als die lärmende, geschäftige Stadt, die St. Paul’s umgibt. 

Tekahionwake (1861 – 1913) war Tochter eines Mohawk-Häuptlings und einer Engländerin, ihr Kolonialname lautete Emily Pauline Johnson. Aufgewachsen im Indianerreservat Six Nations of the Grand River im kanadischen Ontario, entdeckte sie bereits in jungen Jahren ihre Begeisterung für Lyrik und begann Gedichte zu schreiben. Sie wurde eine der bekanntesten kanadischen Lyrikerinnnen ihrer Zeit, nahm mit Tekahionwake den Mohawknamen ihres Urgroßvaters an und tourte als Autorin durch ganz Nordamerika. Aufgrund einer Krebserkrankung starb sie bereits mit 52 Jahren.

Lesetag 33
Carmen Laforet: Rosamunda
(aus dem Spanischen von Erna Brandenberger) 

»Endlich wurde es Tag. Das Abteil dritter Klasse roch nach Müdigkeit, Tabak und Soldatenstiefeln. Nun fuhr man aus der Nacht heraus wie aus einem großen Tunnel, und man konnte die zusammengekauerten Menschen auf den harten Bänken sehen, schlafende Männer und Frauen.« Drei Sätze nur und wir sind mitten in diesem Zug, der irgendwo in Südspanien am Meer entlangfährt. Es ist die Kulisse für ein Gespräch zwischen einer alternden Frau, die sich selbst Rosamunda nennt, und einem jungen Soldaten, einem »Soldätchen«. Er hört fasziniert und etwas irritiert zu, sie schmückt ihr trostloses Leben mit viel Phantasie aus. So, wie es – vielleicht – hätte sein können, wenn nicht die alles dominierenden Konventionen jede Individualität zermalmt hätten. Eine Flucht daraus ist für sie als Frau unmöglich. Ein starker Text mit trauriger Theatralik.

Carmen Laforet Díaz (1921 – 2004), wurde in Barcelona geboren, wuchs aber als Halbwaise auf Gran Canaria auf. In den Vierzigerjahren studierte sie Jura an der Universität Barcelona und begann zu schreiben. Mit großem Erfolg, in den kommenden Jahrzehnten wurde sie zu einer herausragenden Persönlichkeit der spanischen Literaturszene – in Zeiten der Franco-Herrschaft und ihrem extrem konservativen Rollenbild war dies ein stetiger Balanceakt auf Messers Schneide – was sie mit zunehmendem Alter vereinsamen ließ. Doch ihr Roman »Nada« gehört bis heute zu einem der meistübersetzten spanischen Werke; neben dem Don Quijote und Márquez‘ »Hundert Jahre Einsamkeit«.

Lesetag 32
Gabriela Zapolska: Ganz der Vater
(aus dem Polnischen von Karin Wolff)

Jeder von uns kennt sie, die ratlosen Momente des Abschieds am Bahnhof. Man steht auf dem Gleis, die Reisenden sind schon im Zug, der gleich losfahren wird, und eigentlich möchte man keine Worte oder Gesten mehr wechseln. Auch vor einem Jahrhundert war dies nicht anders, wie Gabriela Zapolska in ihrer kurzen Geschichte eindrucksvoll zeigt. Zwischen den Zeilen einer oberflächlichen Konversation meinen wir einen Einblick in ein Familienleben zu erhaschen, in dem einiges im Argen liegt. Oder liegen könnte. Aber wer weiß das schon?

Gabriela Zapolska (1857 – 1921) wurde als Maria Gabriela Stefania Korwin-Piotrowska stammt aus dem polnischsprachigen Teil Galiziens, der damals zu Österreich-Ungarn gehörte und heute in der Ukraine liegt. Die Verfasserin von über vierzig Dramen, dreiundzwanzig Romane, hundertachtzig Erzählungen, einem Filmskript und tausendfünfhundert Briefen schaffte es schon früh, den Zwängen des bürgerlichen Lebens zu entfliehen, das ihre Eltern für sie vorgesehen hatten – indem sie ihre arrangierte Ehe verließ und sich einer Laienschauspieltruppe anschloss. Das Schaupiel – sie gründete 1902 in Krakau eine Schauspielschule – und das Schreiben prägten fortan ihr Leben. 

Lesetag 31
H. D.: Ohrring
(aus Englischen von Uda Strätling)

1920 im Restaurant eines Athener Nobelhotels, in dem sich die internationale Upper Class trifft: In einem Ozean aus Tratsch, Gerüchten und belangloser Konversation fallen zwei Gäste auf. Ein Paar, dessen Ankunft an einem der begehrten Ecktische für ein solch offensives Nicht-Hinsehen sorgt, dass sie von allen Anwesenden umso mehr wahrgenommen werden. Besonders die riesigen Diamenten, die von der etwas unscheinbaren Frau des Paares getragen werden. Diamanten, die deplatziert wirken, doch die Neugier aller wecken. Wer sind die beiden? Stimmen, Gerüche, Besteck- und Gläserklirren, Zigarrettenqualm und eine fast körperlich spürbare Anspannung, die über allem liegt – das alles steckt in diesem Text von H. D., der zudem gespickt ist mit Verweisen auf die antike Mythologie und die Umbrüche in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. In dieser Atmosphäre beginnen sich die Gedanken der Protagonistin zu verwirbeln, immer schneller und schneller – bis sich alles in einem wahren Textstrudel aufzulösen beginnt.  

H. D. (1886 – 1961) sind die Initialen der US-amerikanischen Schriftstellerin Hilda Doolittle, unter denen sie den größten Teil ihres Werks veröffentlichte. Ihr Leben verlief – selbst nach heutigen Maßstäben – auf eine so ausgeprägte Weise unkonventionell, dass ich ihren Lebenslauf unmöglich in wenigen Worten zusammenfassen kann. 

Lesetag 30
Kate Roberts: Heimkehr
(aus dem Walisischen von Wolfgang Schamoni)

Älterwerden: Die Welt wandelt sich, wirkt zunehmend bedrohlicher, Menschen, Orte und Gewohnheiten verschwinden in der Erinnerung, beginnen zu verblassen und tauchen unvermittel fetzenartig wieder im Gedächtnis auf. Und mit jedem Jahr beginnt man sich fremder zu fühlen, während die Erinnerung Trost versprechen, der letzte Anker sind, die einen mit dieser Welt verbinden. Kate Roberts schafft es, in ihrer Erzählung diese Gefühlswelt der Vergänglichkeit zu schildern; die Realität der Gegenwart vermischt sie dabei zart mit Erinnungsbruchstücken. 

Kate Roberts (1891 – 1985) war die Tochter eines Steinbrucharbeiters und schaffte den sozialen Aufstieg in den Beruf einer Lehrerin. Als ihr jüngster Bruder 1917 im Ersten Weltkrieg fiel, begann sie mit dem Schreiben – um ihre Trauer zu verarbeiten. Ihre Werke – Erzählungen, Kurzgeschichten, später Romane – schrieb sie auf Walisisch; passend zu ihrem politischen Engagement in in der walisischen Nationalpartei. Mit dem Kauf der Verlagsdruckerei Gwasg Gee wurden sie und ihr Mann 1935 zu Verlegern – nach dem Tod ihres Mannes leitete sie den Betrieb alleine weiter. 1950 erhielt sie von der University of Wales die Ehrendoktorwürde.

Lesetag 29
Magda Szabó: Der Bote
(aus dem Ungarischen von Henriette Schade)

Nach mehrwöchiger Bettlägrigkeit soll eine alte Frau ins Krankenhaus verlegt werden. Für sie ist es klar, dass sie bald zurückkehren wird, genesen und bereit für weitere Jahre ihres Lebens – und sie wundert sich über die Traurigkeit ihrer Familienangehörigen, die sie verabschieden. Bis der letzte Satz der Geschichte einen Schleier hinwegzureißen scheint, der über dem Erzählten liegt. Eine besonders starke Passage ist der Einstieg in die kurze Geschichte: »Seit Wochen hatte sie nun schon zwischen Kissen und Arzneien gelebt, wie ein alter Fischer am Ufer eines besonders reißenden Flusses; manchmal ließ sie die Hand in das glatte, glitzernde Wasser gleiten, und zwischen den bis zu den Knochen abgemagerten Fingern blieb für einen blitzartigen Augenblick ein Gedanke haften, doch der schwache Griff vermochte ihn nicht zu halten …«

Magda Szabó (1917 – 2007) stammte aus einer österreich-ungarischen Beamtenfamilie; sie studierte Latein, klassische Philologie und ungarische Literatur mit anschließender Promotion. Während ihrer Tätigkeit im Ministerium für Religions- und Unterrichtsfragen des neuen ungarischen Staates begann sie, erste Lyrikbände zu veröffentlichen, die für viel Aufmerksamkeit sorgten. Während der stalinistischen Diktatur wurde sie entlassen und erhielt Publikationsverbot; nach 1958 erschienen in kurzen Abständen mehrere Romane, die in den Sechzigerjahren auch auf Deutsch veröffentlicht wurden – lektoriert von Hermann Hesse. Sie erhielt den wichtigsten ungarischen Literaturpreis, den Kossuth-Preis, wurde in den Achtzigern international bekannt – doch in der deuschsprachigen Wikipedia gibt es bis heute keinen Eintrag zu ihr. 

Lesetag 28
Patricia Highsmith: Die Tänzerin
(aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz)

Zwei Seiten. Mehr benötigt die Großmeisterin der psychologischen Kriminalromane nicht, um ein Drama aus Liebe, Eifersucht und Wut zu erzählen – buchstäblich auf offener Bühne. 

Patricia Highsmith (1921 – 1995) gehört zu den wichtigsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts. In ihrem vielschichten Werk geht es vor allem um die Gründe für bestimmte Handlungen, nicht um die moralischen Fragen von Gut und Böse. Im Diogenes Verlag erschienen 2021 ihre Tagebücher und Aufzeichnungen, die fünf Jahrzehnte ihres Schaffens und ihrer innerlichen Zerrissenheit dokumentieren

Lesetag 27
Caroline Bond Day: Der rosa Hut
(aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell)

Dass Kleider Leute machen, wissen wir spätestens seit Gottfried Keller. Doch in dieser kurzen, aber intensiven Short Story von Caroline Bond Day erhält die sprichwörtliche Redensart nochmals eine neue Bedeutung. Und zwar eine Bedeutung voller Bitterkeit. Der im Titel genannte rosa Hut schenkt der Ich-Erzählerin neues Selbstbewusstsein: Sie geht in Geschäfte, in denen sie sonst nicht bedient würde. Wird respektvoll in der Öffentlichkeit behandelt. Erfährt Sympathie und Entgegenkommen. Von Weißen. Die durch ihre Kleidung und ihr Auftreten nicht bemerken, dass sie als Tochter eines Schwarzen und einer Schottin sonst üblicherweise zu den Ausgegrenzten gehört. Zu denjenigen, die niemals mit Respekt, sondern stets mit rassistischer Verachtung behandelt werden. Nur wenige Seiten benötigt die Autorin, um einer Gesellschaft die Maske der Scheinheiligkeit vom Gesicht zu reißen. Und von Beginn an steht die Frage im Raum: Wie wird es ausgehen?

Caroline Bond Day (1889 – 1948) war die erste Afroamerikanerin, die 1919 einen Universitätsabschluss im Fach Anthropologie erlangte. Ihre wissenschaftliche Forschung widmete sie den Lebensumständen afroamerikanischer Familien mit Schwarzen und weißen Vorfahren. Gleichzeitig begann sie zu schreiben, vor allem Theaterstücke. Doch ob es sich um Wissenschaft oder Literatur handelte: ihr Leben lang war sie Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Schwarzen in einer von Weißen dominierten Gesellschaft. 

Lesetag 26
Sigrid Undset: Mädchen
(aus dem Norwegischen von von Ruth Stöbling)

Es ist faszinierend, wie viele Themen die norwegische Nobelpreisträgerin auf elf Seiten unterbringen kann: Der Mikrokosmos einer Straße mit all seinen Hinterhöfen, Tordurchfahrten und Kellern als ein perfekter Spielplatz für die zahlreichen Kinder, die dort leben. Der Unterschied zwischen den Banden der Jungs und den Verbindungen unter den Mädchen. Die unbemittelte Mittelklasse und das mühsame Aufrechterhalten eines äußeren Scheins. Das klassistische Kastenwesen einer bürgerlichen Gesellschaft. Und das Psychogramm einer Freundschaft zwischen zwei Mädchen, feinfühlig, lebendig und zeitlos beschrieben – ohne dabei auf die ein oder andere kleine Spitze zu verzichten. 

Sigrid Undset (1882 – 1949) führte ein bewegtes Leben, das in ihrer Jugend von prekären Bedingungen geprägt war und sie 1928 mit der Verleihung des Literaturnobelpreises bis ganz an die Spitze der norwegischen Literaturwelt führte. Als engagierte Gegnerin des Faschismus musste sie 1940 fliehen, nachdem Norwegen von der Wehrmacht angegriffen worden war und besetzt wurde. 1945 kehrte sie aus dem Exil zurück und verbrachte ihre letzten Jahre in Lillehammer. Beim Besuch des Norsk Litteraturfestival hatte ich vor einigen Jahren die Gelegheit, ihr beeindruckendes Anwesen dort zu besichtigen, in dem heute ein Museum untergebracht ist. 

Lesetag 25
George Egerton: Ein leerer Rahmen
(aus dem Englischen von Ilona Traub)

In der Enge der Mittelmäßigkeit zu landen ist etwas, vor dem viele Menschen Angst haben – und das etlichen von ihnen trotzdem widerfährt. Sie hadern damit und können an der Situation doch nichts ändern: So ergeht es der Protagonistin in George Egertons Story »Ein leerer Rahmen«. Und selten habe ich dieses Gefühl so perfekt wiedergegeben gefunden, wie in diesem Text. Besonders stark ist dabei die Personenbeschreibung, die wirkt wie ein mit kräftigen Strichen gemaltes Porträt. Hier ein Ausschnitt: »Der Schein des Feuers, der ihr Gesicht von unten erhellt, berührt es grausam. Unbarmherzig wie eine Rivalin sucht und betont er die Spuren, die vergangene Erschütterungen in ihrem Antlitz hinterlassen haben, vertieft die Mulden der zarten, nachdenklichen Schläfen und die beiden tiefen Linien zwischen ihren klugen, unregelmäßigen Augenbrauen. Ihr Gesicht ist eher interessant als schön. Neun Männer würden daran vorübergehen, aber der zehnte würde seine unsterbliche Seele für sie geben.« 

George Egerton (1859 – 1945) ist als ein Männername das Pseudonym der Autorin Mary Chavelita Dunne, Tochter einer Waliserin und eines Iren. Während ihrer Jugendzeit trennten sich die Eltern, sie wurde in ein deutsches Internat geschicht. Es folgte eine Ausbildung zur Krankenschwester in London und New York. 1886 zog sie mit dem verheirateten Reverend Henry Higgenson nach Norwegen, hatte dort nach dessen Tod eine Affäre mit Knut Hamsun, dessen Roman »Hunger« sie ins Englische übersetzte. Zurück in England heiratete sie George Egerton Clairmonte und startete ihre schriftstellerische Karriere, die sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer wichtigen Vertreterin der »New Women«-Bewegung werden ließ. Nachdem ihr Mann sie betrogen hatte, trennte sie sich von ihm und heiratete erneut. Ihr Sohn fiel im Ersten Weltkrieg, in den Zwanzigerjahren wurde sie die Theateragentin von George Bernad Shaw und William Sommerset Maugham. Ihr eigenes Werk gereit dabei in den Hintergrund und ist heute erneut zu entdecken. 

Lesetag 24
Chawa Schapira: Die Träumerin
(aus dem Hebräischen von Barbara Linner)

Über die Träume von Gerechtigkeit, über das Anreden gegen das Patriarchat, über den Widerstand gegen überholte Konventionen und den dringenden Wunsch, die Gesellschaft zu verändern. Und das Älterwerden. Über den Rückzug ins Private, das Verblassen der einstigen Träume, über die Verleugnung der eigenen Ideale. Und über den allergeheimsten Wunsch von allen. Drei Seiten Sarkasmus pur, genährt von einer Welt, in der sich nie etwas zum Besseren zu wenden scheint.

Chawa Schapira (1876 -1943) wuchs in einem westukrainischen Schtetl auf; sie erhielt eine fundierte Schulbildung und erlernte zahlreiche Sprachen. Ihr Leben war geprägt von familiärer Unrast und Flucht: Flucht vor der Internierung während des Ersten Weltkriegs, Flucht vor Pogromen, verbunden mit einem Wechsel der Staatsbürgerschaft. In Prag ließ sie sich nieder, heiratete dort Josef Winternitz, den jüdischen Gemeindevorsteher.  Die deutschen Besatzer deportierten sie ins KZ Theresienstadt, wo sie am 28. Februar 1943 starb. Informationen über ihr Leben und ihr Werk sind heute nicht einfach zu finden. 

Lesetag 23
Colette: Mir ist heiß
(aus dem Französischen von Roseli und Saskia Bontjes von Beek)

»Mir ist heiß.« Eine Fieberphantasie? Ein endloser Tag während einer alles erdrückenden Hitzewelle? »Mir ist heiß« – dieser kurze Satz zieht sich durch die Erzählung und lässt uns die Hitze schon beinahe körperlich spüren. Eine Hitze, die den Garten und die Natur verdörren lässt, während der Ich-Erzählerin Träume von klaren Teichen, von zerplatzenden Regentropfen und herbstlicher Kühle den Sinn verwirren. Und sie vor Sehnsucht fast vergehen lassen. Ein dreiseitiger Monolog voller Atmosphäre, stilistisch brillant. 

Colette, eigentlich Sidonie-Gabrielle Colette (1873 – 1954), galt hierzulande lange als Verfasserin banaler Unterhaltungsromane – mit denen sie in der Tat unter der Fuchtel ihres ausbeuterischen Ehemannes ihre ersten Schritte als Schriftstellerin  unternahm. Nach der Scheidung konnte sie als Autorin von Weltrang und als Journalistin durchstarten; 1909 war sie mit ihrem Roman »La Vagabonde« für den Prix Goncourt nominiert, es folgten zahlreiche weitere Werke – und viele Ehrungen: Sie war u.a. die erste Präsidentin der Académie Goncourt, sie wurde 1953 zum Grand Officier der Ehrenlegion ernannt. Bei ihrem Tod erhielt sie ein Staatsbegräbnis und ein Ehrengrab auf dem Friedhof Père-Lachaise.

Lesetag 22
Kate Chopin: Die Geschichte einer Stunde
(aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Blumenberg)

Diese nicht einmal vier Seiten erzählen von einem Unglück, von einer Nachricht, von Trauer, von klammheimlicher Freude, die durch einen kleinen Spalt in die Gedanken der Protagonistin hineindrängt. Sie erzählen von einem nichtgelebten Leben, von der Trostlosigkeit eines ehelichen Alltags. Und von einer Tragödie. Der eigentlichen. »Die Geschichte einer Stunde« ist große Literatur auf kleinstem Raum. 

Kate Chopin (1850 – 1904), geborene Katherine O’Flaherty, hatte bereits mit vierunddreißig heftige Schicksalsschläge ertragen müssen: In kurzen Abständen starben ihre Eltern, drei ihrer Geschwister und ihr Mann. Doch nur wenige Jahre später gelang der sechsfachen Mutter mit ihren Louisiana-Stories der literarische Durchbruch. Sie schrieb viel beachtete Gedichte, Erzählungen und Romane, in denen es – wie etwa in »Awakening« um Themen wie Ehebruch oder überholte Moralvorstellungen ging. Mit vierundfünfzig starb sie an den Folgen einer Hirnblutung. Ihr Werk geriet in Vergessenheit und wurde erst lange Zeit später, im Jahr 1969, wiederentdeckt. Heute ist »Awakening« ein fester Bestandteil des US-amerikanischen literarischen Kanons. 

Lesetag 21
Maria Messina: Die geschlossene Tür
(aus dem Italienischen von Christiane Pöhlmann)

Wenn einen eine echte oder eingebildete Krankheit an die Wohnung fesselt. Wenn das Leben träge und ereignislos von Tag zu Tag schleicht. Wenn der Ehemann stets den sich Kümmernden gibt, aber durch sein Verhalten die Einsamkeit zementiert. Wenn eine Türe, die er während seiner Abwesenheiten immer abschließt, eines Tages unverschlossen bleibt. Was dann? Sie öffnen und in die Räume des Hauses gehen, die krankheitsbedingt von einem schon längst nicht mehr betreten wurden? Was wird dort warten? Eine Wahrheit, die man vielleicht schon ahnt? Auf wenigen Seiten porträtiert die italienische Autorin Maria Messina eine von allem isolierte Frau, deren trostloses Schicksal vorgezeichnet zu sein scheint. Wahrscheinlich. 

Maria Messina (1887 – 1944) wurde in der Nähe Palermos geboren, verbrachte eine von zahlreichen Umzügen geprägte Jugend in Süditalien, bevor sie ab 1911 in Neapel sesshaft wurde. Ihre Eltern schickten sie als Kind nicht zur Schule, ihre Bildung und ihr Schreibtalent erwarb sie sich zu großen Teilen autodidaktisch. Maria Messina verfasste zahlreiche Novellen und sechs kurze Romane, als 1914 bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, schrieb sie gegen die Zeit und gegen ihre Krankheit an, bis es nach 1928 nicht mehr möglich war. Während des Zweiten Weltkriegs wurde ihr Archiv zerstört und sie geriet in der Nachkriegszeit in Vergessenheit – bis ihr Werk in den 1980er Jahren durch den Schriftsteller Leonardo Sciascia wiederentdeckt wurde. 

Lesetag 20
Rokeya Sakhawat Hossain: Sultanas Traum
(aus dem Englischen von Beatrix Hesse)

Die Ich-Erzählerin Sultana wandelt durch Ladyland, eine Traumlandschaft, in der Frauen nicht gezwungen sind, sich zu verschleiern, in der Männer zuhause eingesperrt werden, um sich um den Haushalt zu kümmern, in der ein Arbeitstag der Frauen nur zwei Stunden dauert und genügend Zeit für das Leben lässt, in der Sonnenenergie die Stromversorgung liefert und in der Gewalt der Vergangenheit angehört. Ausgelöst wurde diese Entwicklung, indem das Bildungssystem für Frauen geöffnet wurde. Ein Text als eine vom technischen Zukunftsglauben des beginnenden 20. Jahrhunderts geprägte radikalfeministische Utopie, der einer patriarchalisch geprägten Welt einen Spiegel vorhält. Bis heute.

Rokeya Sakhawat Hossain (1880 – 1932) wurde in Bengalen, einer Region in Britisch-Indien geboren; heute Bangladesch. Nachdem ihr fortschrittlich denkender Ehemann früh gestorben war, gründete sie mit erspartem Geld und ihrem Erbe eine Mädchenschule und engagierte sich in einem islamischen Frauenverband. Rokeya Sakhawat Hossain schrieb auf Bengalisch, der Sprache des Volkes; sie kämpfte Zeit ihres Lebens für die Emanzipation der Frauen und gilt als eine bedeutende islamische Feministin. 

Lesetag 19
Simone de Beauvoir: Monolog
(aus dem Französischen von Ulla Hengst)

Während einer Silvesternacht sitzt die dreiundvierzigjährige Murielle alleine in ihrer Wohnung, umgeben vom Partylärm der Nachbarn. In einer Mischung aus Selbstmitleid und Wut denkt sie über ihr Leben nach; Wut auf ihre Mutter und ihren Bruder, Wut auf ihre Ex-Männer, Wut auf ihre tote Tochter, Wut auf die Nachbarn, Wut auf die feiernden Menschen, Wut auf ihr Schicksal, Wut auf die Langeweile, Wut auf die ganze Welt. Ein wütender Monolog, vulgär, nur mit rudimentärer Zeichensetzung und voller grammatikalischer Fehler – die sprunghaften Gedanken, die sie mitten in der Nacht heimsuchen. Dies ist eine der längeren Erzählungen der Anthologie und von Seite zu Seite tauchen wir tiefer ein in das Leben dieser wütenden Frau. Und von Seite zu Seite ist ihr wütendes Selbstmitleid immer schwerer erträglich – denn sie lebt in einer Parallelwelt, in der alle anderen die Schuld an ihrem tristen Leben tragen. Und von Seite zu Seite wird ihr Wutanfall armseliger und verlogener – es ist faszinierend, dies zu verfolgen und dabei einzutauchen in die verschrobenen und zynischen  Gedanken eines vollkommen gescheiteren Menschen.

Die große Simone de Beauvoir (1908 – 1986) bedarf wohl keiner Vorstellung, daher sei an dieser Stelle auf ihren Roman »Alle Menschen sind sterblich« hingewiesen, der zu den Büchern meines Lebens gehört.

Lesetag 18
Sofja Tolstaja: Eine ganz überflüssige Bekanntschaft
(aus dem Russischen von Ursula Keller)

Ein Besucher setzt sich im Salon an das Klavier und spielt Beethovens Sturmsonate. Und sorgt damit bei Alexandra »Sascha« Alexejewna, der Dame des Hauses, für einen sinnlichen Moment geradezu religiös-mystischer Art. Einen jener Momente, nach denen es schwerfällt, wieder gedanklich in die Banalität des Alltags zurückzukehren. Doch noch viel, viel mehr schlummert hinter diesem Augenblick, oder scheint es nur so? Ist da eine Sehnsucht nach dem Ungewissen, ein unterdrückter Wunsch nach einem Ausbruch aus den Zwängen der Normalität zu erahnen? Die kurze Geschichte ist ein stilistisches Juwel ganz in der Tradition der russischen Erzählkunst des späten 19. Jahrhunderts.

Sofja Tolstaja (1844-1919) ist die einzige Autorin in dieser Anthologie, die aufgenommen wurde, obwohl ihr Geburtsdatum vor der zeitlichen Klammer der Jahrgänge zwischen 1850 und 1921 liegt. Mit achtzehn heiratete sie den schriftstellerischen Superstar Leo Tolstoi – und stellte fortan ihr eigenes literarisches Talent hintenan, so, dass es viele Jahrzehnte kaum wahrnehmbar war; bis weit hinein in unsere Zeit. Einer ihrer Romane, »Lied ohne Worte«, ist bis heute nie in russischer Sprache erschienen. 

Lesetag 17
Florbela Espanca: Das Sonett
(aus dem Portugiesischen von Gesa Hasebrink)

»Draußen senkte sich der Novemberabend in Trauerschleiern nieder, schmiegte sich wie ein Vorhang aus grauem Stoff dunkel und schwer an das Fenster. Das Heulen von Sirenen zerriss die Schatten der Dämmerung mit klagenden Seufzern voll Schermut und Trostlosigkeit.« Im Gegensatz zu diesem Draußen befinden wir uns in der gemütlichen und warmen Wohnung einer Dichterin, die einem Freund ein neues Sonett vorträgt. Was diesen wiederum dazu bringt, die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der mit einer Schriftstellerin verheiratet war und ihre Romanheldinnen ständig in in ihrer Person wiederzuerkennen glaubte – bis er nicht mehr wusste, was Realität und was Fiktion war. Eine kurze, elegante Erzählung, mit kunstvoll ineinander verschachtelten Ebenen. 

Florbela Espanca (1894 – 1930) hatte in ihrem kurzen Leben zahlreiche Schicksalsschläge zu ertragen: Mehrere Fehlgeburten, zwei gescheiterte Ehen, und der Tod ihres geliebten Bruders bei einem Flugzeugabsturz. Als bei ihr ein Lungenödem festgestellt wurde, verlor sie den Rest ihres Lebensmutes; nach zwei fehlgeschlagenen Suizidversuchen setzte sie ihrem Leben mit sechsunddreißig selbst ein Ende. Doch all die Jahre schrieb sie, vor allem Gedichte voller Melancholie und Trauer. Von Fernando Pessoa wurde sie »alma sonhadora«, meine Zwillingsseele, genannt. 

Lesetag 16
Eileen Chang: Straßensperre
(aus dem Chinesischen von Wolf Baus)

Ein Kammerspiel in einer Straßenbahn: Als in Shanghai eine Tram vor einer Straßensperre zum Halten kommt, wissen die Fahrgäste nicht, wie lange sie warten müssen und versuchen, die Zeit irgendwie zu füllen. Mit Lesen, mit dem  Blättern in einer Zeitung, in der eigentlich ein Mittagessen eingewickelt ist, mit Starren ins Leere. Wie eine Kamera schwenkt die Erzählung von Fahrgast zu Fahrgast, fängt Gesprächsfetzen ein, nimmt Gedanken auf. Die Kamera beginnt Lü Zongzhen, Buchhalter in einer Bank und Wu Cuiyuan, Assistentin an der Universität, zu umkreisen. Aus einer Verlegenheit heraus beginnen beide ein Gespräch, das eine unerwartete Wendung nimmt. Auf wenigen Seiten gelingt der Autorin ein tiefer Einblick in die Leben zweier Menschen, die beide auf ihre Art unglücklich sind. 

Eileen Chang (1921 – 1995) wurde als Zhang Ailing in Shanghai geboren. Ihr wohlhabende Familie sorgte für eine zweisprachige Erziehung, so dass sie schon als Kind mit der chinesischen wie der westlichen Kultur in Berührung kam. Ihre Stationen: Schule in England, Studium in Hongkong, später Rückkehr nach Shanghai. 1960 zog sie in die USA und lehrte im Center for Chinese Studies in Berkeley. Sie schrieb Romane und Erzählungen in chinesischer wie in englischer Sprache; in ihren letzten Lebensjahren lebte sie in Los Angeles und übersetzte sie chinesische Klassiker ins Englische.

Lesetag 15
Nella Larsen: Der falsche Mann
(aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Martl)

Ein Ball. Eine wogende Menschenmenge. Tanzende Paare. Julia Romley und ihr Mann Jim mittendrin, ein glückliches Paar, strahlend, verliebt. Aber ein Gast ist im Saal, der auffällt, »das Gesicht gelblich und verhärtet, wie nach vielen Jahren in den Tropen.« Und der mit einem einzigen Satz ihr Glück zerstörten könnte. Was tun?

Nella Larsen (1891 – 1964) wurde in Chicago als Tocher einer Dänin und eines multiethnischen Afrokariben geboren. Sie arbeitete als Krankenschwester, ließ  sich 1923 an der New York Public Library als erste Schwarze zur Bibliothekarin ausbilden und begann erste Short Stories zu schreiben. Larsen hatte viel Kontakt zu Autorinnen und Autoren der Harlem Renaissance, veröffentlichte 1928 ihren ersten Roman und erhielt ein Guggenheim-Stipendium, das sie nutzte, um eine Zeit lang in Paris und auf Mallorca zu leben. 1933 ließ sie sich scheiden, litt unter Depressionen und zog sich zurück; ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Nachtschwester in einem Krankenhaus. Sie starb vereinsamt; erst nach ihrem Tod wurde ihr schmales, aber bedeutendes Werk wiederentdeckt.

Lesetag 14
Elizabeth Bowen: Was Menschen Übles tun
(aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier)

Ein Vorort von London, ein Haus der gehobenen Mittelschicht, ein oft abwesender Ehemann und eine Frau, die fast eingeht vor Langeweile in einem ereignislosen Leben. Sie spielt die Rolle der Ehefrau und Mutter, sie lebt »hinter einem Schutzwall«. Hinter diese Mauer des Anstands und der guten Sitten hat sie sich zurückgezogen – und verzweifelt. Die ganze Tristesse ihres Lebens beschreibt sie in einem Brief an einen Mann, einen Dichter, den sie erst kürzlich kennengelernt hat. Und wir wissen bereits bei jedem Wort, dass er ihn niemals lesen wird. Lesen kann. Die kurze Erzählung ist die Momentaufnahme eines Daseins, das eingezwängt ist in die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Ein zeitloser Text. 

Elizabeth Bowen (1899 – 1973) entstammt einer anglo-irischen Landadelsfamilie, geboren wurde sie als Elizabeth Dorothea Cole. Ihre Kindheit war geprägt von der psychischen Krankheit des Vaters und dem frühen Tod der Mutter. 1923 erschien ihr erstes Buch, eine Sammlung von Short Stories. Danach nahm ihre schriftstellerische Karriere rasch Fahrt auf; sie veröffentlichte mehrere Romane, war befreundet mit Virginia Woolf, Carson McCullers oder Iris Murdoch. Bowens Leben und Schreiben war geprägt von Rastlosigkeit und der Suche nach einem Platz in einer sich verändernden Gesellschaft.

Lesetag 13
Virginia Woolf: Der Fleck an der Wand
(aus dem Englischen von Melanie Walz)

Die Ich-Erzählerin bemerkt, in ihrem Sessel sitzend, an der gegenüberliegenden Wand des Raumes einen dunklen Fleck. Eigentlich eine banale Beobachtung – doch daraus ergibt sich ein wirbelndes Gedankenkarussell mit einem schon fast meditativen Charakter. Sie denkt über die Geschwindigkeit nach, mit der wir durch unsere Leben rasen, über Verluste und Verlorenes, über das Kunstverständnis der Vorbesitzer ihres Hauses, über die Staubschichten auf den Möbeln, über die Ewigkeit, über das Leben eines Baumes, über Altertumsforscher und ihre Ausgrabungen, über Selbstbild und Fremdwahrnehmung der eigenen Person, über unsinnige gesellschaftliche Regeln, über … über … über – die Gedanken wirbeln durcheinander, der Fleck – ist es ein Nagel, der Abdruck eines Rosenblattes oder ein Loch in der Wand? – bleibt darin der Ankerpunkt, zu dem sie immer wieder zurückkehrt. Und der sich letztendlich als … aber lest das lieber selbst. Es ist brillant. 

Die große Virginia Woolf (1882 – 1941) muss ich hier wohl nicht vorstellen. Vor vielen Jahren bin ich auf ein Zitat von ihr gestoßen, das mich seitdem begleitet: »Der einzige Rat, den man jemand fürs Lesen geben kann, ist tatsächlich der, keinen Rat anzunehmen, dem eigenen Instinkt zu folgen, den eigenen Verstand zu gebrauchen und zu eigenen Schlussfolgerungen zu kommen.« Und das passt perfekt zu der literarischen Entdeckungsreise, die hier gerade stattfindet.

Lesetag 12
Yosano Akiko: Laientheater
(aus dem Japanischen von Eduard Klopfenstein)

Der Titel der Erzählung ist gut gewählt, denn in der Kommunikation zwischen zwei Eheleuten der gehobenen japanischen Gesellschaftsschicht geht es zwar um die Aufführung eines Laientheaters – sie wirkt aber selbst wie eines. Und wir haben die Gelegenheit, an der Fassade der männlichen Überheblichkeit vorbei einen Blick auf die von starren Konventionen geprägten Umgangsformen zu werfen. In einem Japan, das seinen Weg sucht zwischen der Tradition und den kulturellen Einflüssen des Westens.

Yosano Akiko (1878 – 1942) hatte bereits mit fünfzehn die meisten japanischen Klassiker gelesen. Ihre Literaturbegeisterung prägte ihr Leben, sie wurde zu einer der wichtigsten Dichterinnen der japanischen Moderne, die etwa 50.000 Tanka verfasste und fünfzehn bedeutende Essaybände. Yosano Akiko schrieb 1905 gegen den Russisch-Japanischen Krieg an, gegen das traditionelle japanische Frauenbild, erneuerte die Waka-Dichtung, übersetzte mittelalterliche japanische Klassiker in modernes Japanisch und war Gründerin einer Koedukationsschule, in der Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet wurden.

Lesetag 11
May Ziadeh: Die Geschichte einer Frau mit Geschichte
(aus dem Arabischen von Leslie Tramontini)

»Wie der Satz des Pythagoras als ein Regelwerk der Mathematik, genauso steht die Ordnung der guten Sitten über den Verfehlungen der Menschheit und richtet über sie.« Die »guten Sitten«, von denen die Autorin spricht, sind der gesellschaftliche Moralkodex, der unerbittlich eine Frau ausgrenzt, auch wenn sie selbst Opfer eines infamen Betrugs geworden ist. Der Bericht einer Ich-Erzählerin über eine schöne Unbekannte, der sie regelmäßig auf den Straßen und in den Salons von Kairo begegnet, ist auf eine bittere Weise zeitlos. 

May Ziadeh (1886 – 1941), eigentlich Mary Elias Ziadeh, war Tocher einer christlichen Palästinenserin und eines Libanesen. Mit fünfundzwanzig veröffentlichte sie ihren ersten Lyrikband, 1915 eröffnete sie in Kairo einen literarischen Salon, in dem sich Intellektuelle aus der gesamten arabischen Welt trafen. Zeit ihres Lebens engagierte sie sich für Frauenrechte, weigerte sich, den Schleier zu tragen, übersetzte aus dem Französischen, Englischen und Deutschen und schrieb zahlreiche Erzählungen, Gedichte und Romane. Mehrere Schicksalsschläge trieben sie 1932 in eine tiefe Depression, aus der sie nicht wieder herausfand. Sie starb im Alter von fünfundfünfzig Jahren. 

Lesetag 10
Anna Seghers: Das Bett des Odysseus

In diesem kurzen Text geht es um die berühmte Szene am Ende von Homers »Odyssee«, in der Penelope ihren zurückgekehrten Ehemann auf die Probe stellt – um herauszufinden, ob er es tatsächlich ist. Doch Anna Seghers schafft darum herum mit wenigen Worten eine Atmosphäre der Erschöpfung, einer Leere, in der die Frage im Raum steht: Was nun? Was folgt, nachdem alle Abenteuer bestanden, alle Feinde erschlagen sind? Eine Stille beginnt sich auszubreiten, die alles andere überlagern wird. 

Anna Seghers (1900 – 1983), geboren als Netty Reiling, gehört zu den großen deutschen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr bewegtes Leben war geprägt von Flucht, Exil und unermüdlichem Schreiben gegen die Pest des Faschismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sie nach Deutschland zurück und wurde zu einer der staatstragenden Künstlerinnen der DDR, deren literarischer Rang außer Frage steht, die aber auch zahlreiche Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes schweigend tolerierte. 

Lesetag 9
Natalia Ginzburg: Das Alter
(aus dem Italienischen von Maja Pflug)

Es mag ein Zufall sein, aber als ich kürzlich durch die Massen des Partyvolks in der Kölner Innenstadt lief, wurde mir wieder einmal mit aller Deutlichkeit klar, dass das Älterwerden unumkehrbar ist und einen Tag für Tag von der Welt entfernt, die einmal vertraut gewesen war. Nur dass Natalia Ginzburg in diesem literarischen Essay die eleganteren Worte dafür findet: »So geschieht etwas mit uns, was bis heute nie vorgekommen war: Bis heute schritten wir in den Jahren fort und waren stets beseelt von einer lebhaften Neugierde für die, die nach und nach unsere Altersgenossen wurden. Jetzt dagegen fühlen wir, dass wir in Richtung einer Grauzone vorrücken (…).« Und weiter: »Die Welt, die sich rund um uns dreht und verändert, weist nur noch blasse Spuren der Welt auf, die unsere gewesen ist.« Ein wunderschöner Text, voller Melancholie.

Natalia Ginzburg (1916 – 1991) war eine der wichtigsten italienischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Als Jüdin musste sie während der deutschen Besatzung in den Abruzzen untertauchen, ihr Mann wurde von der Gestapo ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte sie in Turin, in London und in Rom, engagierte sich in der Kommunistischen Partei Italiens, schrieb zahlreiche Romane und Erzählungen und wurde für ihr literarisches Werk vielfach ausgezeichnet. 

Lesetag 8
Mabel Dove Danquah: Erwartung
(aus dem Englischen von Olaf Richter)

Bei der Feier des zwanzigsten Jahrestages seiner Thronbesteigung entdeckt Nana Adaku II. im Reigen der Tänzerinnen eine Frau, die sein Begehren weckt. Er beschließt sie zu seiner 41. Ehefrau zu nehmen – was mit einem Geldgeschenk an die Eltern schnell geregelt werden soll. Die kurze Erzählung, die mit einer wunderbar ironischen Überraschung ändert, gibt einen Einblick in die gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen Ghanas an der Schwelle zu einer neuen Zeit.

Mabel Dove Danquah (1905 – 1984) wurde in Accra geboren. Nach ihrem Schaulabschluss folgten Reisen durch Europa und die USA bevor sie nach Ghana zurückkehrte. Neben ihrer Arbeit in einer Handelsfirma schrieb sie Zeitungsartikel, engagierte sich im Unabhhängigkeitskampf und veröffentlichte 1931 ihr literarisches Debüt – dem viele weitere Erzählungen folgten. Sie wurde Herausgeberin der Accra Evening News und zog 1952 als Abgeordnete in das ghanaische Parlament ein – als erste Frau des gesamten afrikanischen Kontinents.

Lesetag 7
Zelda Fitzgerald: Ein Südstaatenmädchen

(aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné)

Vordergründig erzählt Zelda Fitzgerald die Geschichte von Harriet, dem Südstaatenmädchen. Doch der eigentliche Protagonist der Handlung ist Jeffersonville, Alabama: »Die Stadt liegt verloren an einem breiten, braunen, wirbelnen Fluss, der an hohen, roten Böschungen vorbeischießt.« Auf wenigen Seiten entsteht ein Ort vor unserem Auge, der eine »rastlose Trägheit« verströmt, eine Stadt in der Hitze und der Schwüle des Südens – so grandios atmosphärisch geschildert, dass man schon fast die feuchtwarme, in den Sonnenstrahlen des späten Nachmittags flirrende Luft zu spüren meint.

Zelda Sayre Fitzgeralds (1900 – 1948) großes schriftstellerisches Talent verschwand zeitlebens hinter dem Namen ihres berühmten Mannes Scott F. Fitzgerald. Die beiden galten als Glamourpaar jener Zeit, doch ihre Ehe war geprägt von Scotts Alkoholproblemen, Gewaltausbrüchen und Affären. Da er ihre Scheidung verhinderte, gab es für Zelda Fitzgerald daraus kein Entkommen. Nach seinem Tod wurde bei ihr Schizophrenie festgestellt; sie starb mit nur siebenundvierzig Jahren beim Brand einer Nervenklinik.

Lesetag 6
Ricarda Huch: Die Maiwiese

Diese Erzählung von Ricarda Huch ist eine bissige, bitterböse Allegorie auf überkommene Moralvorstellungen, auf die Spießigigkeit der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Arroganz der sich allen anderen überlegen fühlenden Weltverbesserer. Geschrieben in Form eines Märchens passt dieser Text genau so gut in unsere Zeit wie in jene seiner Entstehung. 

Ricarda Octavia Huch (1864 – 1947) gehörte zu den bekanntesten deutschsprachigen Autorinnen der Zwanziger Jahre, die zahlreiche Ehrungen erhielt, so wurde etwa zur Ehrensenatorin der Universität München ernannt. 1933 trat sie aus Protest gegen den Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus der Preußischen Akademie der Künste aus. Trotz Beobachtung durch die Gestapo blieb sie in Deutschland, konnte auch weiter – eingeschränkt – veröffentlichen. Heute ist ihr Werk kaum noch bekannt und so gut wie nicht erhältlich. Eine Ausnahme bildet z. B. ihre Studie über die Romantik, die 2017 als Band der Anderen Bibliothek erschien.

Lesetag 5
Tove Ditlevsen: Für Dich summ ich ein Wiegenlied
(aus dem Dänischen von Ursel Allenstein)

Auf wenigen Seiten erzählt Tove Ditlevsen von einer, von ihrer Abtreibung. Es ist kurz vor Weihnachten, im von der Wehrmacht besetzten Kopenhagen – ein harter Text und doch strahlt er in all der Verzweiflung und Trostlosigkeit eine kaum greifbare, melancholische Schönheit aus. Etwa wenn sie schreibt: »Ich bereue meine Entscheidung nicht, aber in den dunklen Irrgängen meiner Seele bleiben trotzdem schwache Spuren zurück, wie von Kinderfüßen im feuchten Sand.«

Tove Irma Margit Ditlevsen (1917 – 1976) ist eine wichtigsten dänischen Autorinnen der Moderne. In Deutschland erlangte sie erst seit einigen Jahren durch die im Aufbau Verlag erscheinenden Übersetzungen insbesondere der »Kopenhagen-Trilogie« einen großen Bekanntheitsgrad. Sie seziert in ihren Werken mit gnadenloser Wucht ihr eigenes, von Verlust, Depressionen und Sucht geprägtes Leben – lange bevor das autofiktionale Schreiben zu einem eigenen Genre wurde.

Lesetag 4
Kim Myeong-Sun: Ein geheimnisvolles Mädchen
(aus dem Koreanischen von Young-Sun Jung)

Ein abgelegenes Dorf an einem Fluss. Ein Gräberfeld. Ein alter Mann, der darauf bedacht ist, seine Enkelin von der Welt außerhalb ihres Hauses abzuschirmen. Und ein Beobachter. Ein kurzer Text genügt der Autorin, um ein familiäres Drama vor unseren Augen entstehen zu lassen – und uns einen kleinen Einblick zu geben in die verschwundene Welt des alten Korea.

Kim Myeon-Sun (1896 – 1951) war Tochter eines gutsituierten Geschäftsmannes und seiner Konkubine, die zuvor als Gisaeng gearbeitet hatte. Zwar ermöglichte ihre Herkunft väterlicherseits ihr eine höhere Schulbildung und ein Studium, doch konnte sie nie die als gesellschaftlichen Makel angesehene Herkunft ihrer Mutter überwinden. Sie lebte ein intensives intellektuelles Leben und starb nur 55jährig in einer psychiatrischen Anstalt. Heute gilt sie als eine der wichtigen Pionierinnen der modernen koreanischen Literatur.

Lesetag 3
Alfonsina Storni: Cuca
(aus dem argentinischen Spanisch von Hildegard Elisabeth Keller)

Es sind sieben Seiten, unterteilt in sechs Episoden: Ängste und Verlangen lassen die Ich-Erzählerin langsam, aber unaufhaltsam in einen Wahn abgleiten, in dem sie nicht mehr von ihrer Außenwelt erreicht werden kann. Das Ende der kurzen, aber intensiven Geschichte verstärkt diesen Eindruck – und stellt gleichzeitig alles in Frage. Was ist Realität?

Alfonsina Storni (1892 – 1938) wurde in der Schweiz geboren und wuchs als Tochter einer Auswandererfamilie in Argentinien auf. Das Leben der avantgardistischen Dichterin, Journalistin, Schauspielerin, Sängerin  und Frauenrechtlerin war geprägt von Unrast, von Höhen, Tiefen und wiederkehrenden Depressionsschüben. Als bei ihr Brustkrebs diagnostiziert wurde wählte sie den Freitod. Im Verlag Edition Maulhelden erscheint ihr Werk in deutscher Übersetzung.

Lesetag 2
Susanne Kerckhoff: Die verbrannten Sterne

»Gestern habe ich meine Sterne verbrannt. Wie es sich anhört: Ich habe meine Sterne verbrannt. Ich besaß mehrere von diesen gelben Sternen, für den Herbstmantel, für den Pelz, für mein Kostüm.« Mit diesen wenigen Worten schafft es die Autorin, uns mitten hinein in die Gedanken einer Frau zu schicken, bei denen es um das nackte Überleben geht. In der Stadt, in der sie schon immer lebte, ist sie zum Flüchtling geworden. Und jeder Tag zählt. Ein kurzer Text als eine flüchtige Momentaufnahme, die unter die Haut geht.

Susanne Kerckhoff (1918 – 1950) wurde in Berlin in einem bürgerlichen Umfeld geboren und überstand das »Dritte Reich«, indem sie unauffällig blieb. Nach 1945 wurde ihr Schreiben politisch, 1947 zog sie in den Ostsektor, um am Aufbau einer neuen Welt mitzuwirken und traf dabei auf eine SED, die dabei war, eine neue Diktatur zu schaffen. Nachdem ihr Abweichlertum vorgeworfen wurde und sie kaltgestellt werden sollte, nahm sie sich das Leben. Fast vergessen, wurde sie in den letzten Jahren wiederentdeckt.

Lesetag 1
Gwendolyn Brooks: Selbstbeschwichtigung
(aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott)

Die schwarze Besitzerin eines Schönheitssalons erhält Besuch von einer weißen Vertreterin für Lippenstift und Eaux de Toilette. Ein auf den ersten Blick freundliches Verkaufsgespräch beginnt, doch in diesen viereinhalb Seiten schwingt so viel an Alltagsrassismus mit, dass er das kurzzeitig vertauschte Machtgefälle – die Vertreterin hat die Rolle der Bittstellerin, allerdings einer sehr selbstbewussten – komplett überlagert, das Gespräch zunehmend dominiert und uns Leser fassungslos zurücklässt. Brillant erzählt. 

Gwendolyn Brooks (1917 – 2000) war Trägerin des Pulitzerpreises, eine bedeutende Dichterin und erhielt über siebzig Auszeichnungen von Universitäten und Colleges weltweit. In deutscher Übersetzung ist keines ihrer Werke lieferbar. (Das wird sich allerdings bald ändern, denn ihr Roman »Maud Martha« – aus dem der Text in der Sammlung stammt – erscheint im Frühjahr 2023. Bei Manesse.) 

Buchinformation
Sandra Kegel (Hg.), Prosaische Passionen – Die weibliche Moderne in 101 Short Stories
Manesse Verlag
ISBN 978-3-7175-2546-2

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7 Antworten auf „101 Texte. 101 Tage. Ein Leseprojekt.“

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