Das Unterwegssein ist mir ebenso wichtig wie das Lesen und die Beschäftigung mit Literatur – es sind essentielle Bestandteile meines Lebens. Und manchmal trifft beides zusammen: Am 21. und 22. September 2023 war ich eingeladen, als Gast bei der Vergabe des Franz-Tumler-Literaturpreises dabei zu sein. Die Reise führte nach Laas in Südtirol; eine Bahnfahrt von Köln über München, Bozen und Meran. Dann weiter. Die Züge wurden immer kleiner, schließlich ging es hoch hinauf in das Vinschgautal; Laas liegt etwa auf halber Strecke zwischen Meran und dem Reschenpass. Ich hatte im vorletzten Blogbeitrag die Tour unter dem Titel »Mit fünf Büchern in die Marmorstadt« angekündigt, aber mit etwa 4.100 Einwohnern hat der Ort eher dörflichen Charakter – doch der Marmor ist tatsächlich das prägende Element. Direkt am Bahnhof ein riesiges Depot aufgereihter Marmorklötze zur Weiterverarbeitung, die Fußwege im Dorfkern sind mit Marmor gepflastert, der Dorfplatz sowieso, es gibt einen Brunnen aus Marmor, sogar die Litfaßsäule im Zentrum trägt eine marmorne Überdachung. In 1.500 Meter Höhe wird er abgebaut; unter Tage, es sind riesige Höhlen mit weißen Wänden. Seit hunderten von Jahren gibt es die Marmorminen, der Abbau verleiht dem Dorf in Verbindung mit der allgegenwärtigen Vinschgauer Obstwirtschaft ein ganz eigenes Flair. Es ist ein besonderer Ort für eine ganz besondere Veranstaltung.
Ein Ort im Zeichen der Literatur
Seit 2007 wird in Laas alle zwei Jahre der Franz-Tumler-Literaturpreis an einen deutschsprachigen Debütroman vergeben, dotiert ist er mit 8.000 Euro. Die fünfköpfige Jury nominiert fünf Romane – jedes Jurymitglied entscheidet sich – nach einer Sichtungsphase der aktuellen Verlagsprogramme – für einen Titel, mit dem es ins Rennen geht. Die Autorinnen und Autoren sind vor Ort, sie lesen jeweils knapp eine halbe Stunde aus ihren Büchern, danach erläutert das nominierende Jurymitglied, warum es genau dieser Roman geworden ist. Und anschließend erfolgt eine Jurydiskussion über das Buch. Das alles live, der Veranstaltungssaal ist gut gefüllt, ganz Laas und Umgebung fiebern mit; überall in Südtirol liegen die nominierten Bücher zum Lesen in den öffentlichen Bibliotheken bereit, es gibt landesweit eine Publikumsabstimmung, denn neben dem Hauptpreis wird auch ein Publikumspreis vergeben – ein Schreibaufenthalt auf einem hoch im Tal gelegenen historischen Gehöft.
Laas selbst steht in diesen Tagen ganz im Zeichen der Literatur – was dem kleinen, etwas abgelegenen Ort einen wunderbaren Charme verleiht. Die Geschäfte entlang der Hauptstraße haben Plakate aufgehängt, auf den Schaufenstern stehen Zitate aus den Büchern, vor der romanischen Kirche, die als Veranstaltungsräumlichkeit dient, ist ein großes Banner aufgespannt, an vielen Stellen stehen temporäre Bücherregale, in denen zu verschenkende Bücher eingestellt werden können. Die angereisten Teilnehmenden – Jury, Nominierte und Gäste – sind in den drei Hotels am Dorfplatz untergebracht, es gibt gemeinsame Abend- und Mittagessen, schnell herrscht eine wunderbar unkomplizierte, fast familiäre Atmosphäre.
9. Franz-Tumler-Literaturpreis: Nominierte und Jury
Am Abend des 21. September fällt der Startschuss. Bei einem Empfang in der – beeindruckend ausgestatteten – Bibliothek Laas werden die Nominierten und die Jury vorgestellt. Die Nominierten, das sind der in Wien lebende Arad Dabiri mit seinem Roman »Drama«, die ebenfalls in Wien lebende Cornelia Hülmbauer mit ihrem Roman »oft manchmal nie«, die aus Berlin angereiste Irina Kilimnik mit ihrem Roman »Sommer in Odessa«, die zwischen Zürich und Finland pendelnde Tine Melzer mit ihrem Roman »Alpha Bravo Charlie« und Magdalena Saiger, die per Nachtzug aus Hamburg mit ihrem Roman »Was ihr nicht seht« nach Südtirol gereist war.
Die Jury besteht aus Robert Huez, Leiter des Literaturhauses Wien, Manfred Papst, Journalist und Autor aus Zürich, Jutta Person, Journalistin, Literaturkritikerin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin, Gerhard Ruiss, Autor und Literaturwissenschaftler aus Wien und Daniela Strigl, ebenfalls in Wien lebende Literaturkritikerin und Literaturwissenschaftlerin.
Ich habe mich sehr gefreut, vor Ort auch Bozena Anna Badura zu treffen, eine der Gründerinnen und Betreiberinnen des Gemeinschaftsblogs Das Debüt, in dem es ausschließlich um Debütromane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geht – was natürlich perfekt zum Franz-Tumler-Preis passt; sie war dieses Jahr bereits zum vierten Mal als Gast in Laas dabei.
Die Romane, die Lesungen und die Diskussionen
Am Freitagmorgen um neun Uhr starten die öffentlichen Lesungen und Jurydiskussionen, souverän moderiert von Christoph Pichler, Nachrichtensprecher beim RAI-Sender Bozen. Die Jurymitglieder nehmen ihre Plätze ein und als erster der Nominierten betritt Arad Dabiri die Bühne.
Arad Dabiri: Drama
In Arad Dabiris Roman kommt der Ich-Erzähler für einen Tag und Abend von Berlin nach Wien zurück. Zurück in eine Stadt, aus der er Jahre zuvor geflohen war, um dem Drogensumpf und der alles verschlingenden Sinn- und Perspektivlosigkeit zu entkommen. Er trifft die Menschen wieder, mit denen er damals brach und muss sich seinen Gespenstern stellen.
Nominiert wurde »Drama« von Jury-Mitglied Robert Huez. Für ihn ist es ein moderner Großstadtroman, der einen eigenen Platz in der Gegenwartsliteratur verdient hat. »Als sehr gelungen« lobt er das Buch und betont besonders die Vielfalt der sprachlichen Mittel. Für Gerhard Ruiss taucht in »Drama« das Pathos der Popkultur (nicht zu verwechseln mit der Popliteratur) wieder auf. Als Wiener gefällt ihm die andere Sicht auf bekannte Schauplätze sowie eine neue, migrantisch geprägte Perspektive. Bei der Suche des Ich-Erzählers nach Authentizität, nach dem wahren Leben sind die Leser mitinszeniert – »Drama« ist ein Werk, das auch gut als Bühnenstück denkbar wäre. Auf Daniela Strigl wirkte das Buch, als würde Jack Kerouac am Graben in Wien auf Thomas Bernhard treffen. Ihr gefiel darin besonders der Hang zur Anarchie und die Beschreibung des Gefühls, Wien auf den Leim gegangen zu sein. Manfred Papst entdeckte in »Drama« einen doppelten Boden, eine Spannung zwischen der Realität und der Wahrnehmung des Protagonisten. Und Jutta Person gefiel der Spannungsbogen, der bis zum Schluss hält. Für sie steht »Drama« in der Angry-Young-Man-Tradition des Erzählens, die sich seit den Neunzigern gewandelt hat; durch die Stilmittel der Verknappung und Wiederholung gelingt Arad Dabiri ein ganz eigener Sound, immer wieder mit Witz überformt.
Mein Lieblingszitat aus »Drama«: »An jedem freien Fleck sucht man vergeblich nach ihm. Hüllen deuten ihn an, doch täuschen final. Überall ist er verloren, der Appetit am Leben.«
Cornelia Hülmbauer: oft manchmal nie
In kurzen, kaleidoskopartigen Momentaufnahmen erzählt Cornelia Hülmbauer vom Aufwachsen in der niederösterreichischen Provinz. Ein schmuckloses, aber lebendiges Dorf an einer Bundesstraße, eine funktionierende Infrastruktur – doch zwischen den Zeilen aus der Perspektive eines Kindes, später einer Jugendlichen, sind bereits der Zerfall und das Verschwinden dieser Welt erkennbar.
Nominiert wurde »oft manchmal nie« von Jury-Mitglied Gerhard Ruiss. Für ihn lässt sich das Buch auf viele verschiedene Weisen lesen: Etwa als eine Art Photoalbum oder Bilderbuch, als Sammlung unterschiedlichster Assoziationen. Er mochte die Beschreibung des Milieus der österreichischen Straßendörfer mit ihrer sterbenden Infrastruktur; ein Ort, der von der modernen Welt überrollt wird. Es ist eine klassische Entwicklungsgeschichte in vielen Einzelbildern und ein Text, der nie ins Tragische abdriftet, nie einer verschwundenen Welt nachtrauert. Manfred Papst berichtet, dass er das Buch mit Gewinn gelesen habe. Auch ihn erinnert der Text an ein Photoalbum voll intensiver Einzelbilder; er mag die poetische und präzise Sprache, die mit Aussparungen arbeitet, immer wieder sprechende Details verwendet, ohne den Leser damit zu überfordern. Für Daniela Strigl ist »oft manchmal nie« ein gelungenes Beispiel für die Kunst der erzählerischen Ökonomie und damit ein Gegenentwurf zu »Drama« mit seiner sprachlichen Opulenz. Die einzelnen Textbilder enden stets an der richtigen Stelle; »poetische Pointen« nennt sie dies. Durch die künstliche kindliche Perspektive entstehen interessante Verfremdungseffekte, das Landleben an der Bundesstraße ohne Idylle erinnert etwas an den »Wilden Westen«. Roberz Huez nimmt dieses Bild auf, er spricht vom »Highway 66 in Niederösterreich«. Auch er findet die besondere Form des Romans spannend, denn »genau so funktioniert Erinnerung«. Jutta Person entdeckt in diesem Buch zahlreiche Wiedererkennungseffekte; es ist ein Tableau von Bildern, die den Übergang in eine modernere Welt und den soziologischen Wandel perfekt erfassen. Die Abläufe in der Autowerkstatt der Eltern schildern die Verknüpfung von Mechanik und Magie in der vordigitalen Zeit – ohne jegliche Sentimentalität oder Nostalgie.
Mein Lieblingszitat aus »oft manchmal nie«: »im aufenthaltsraum der mechaniker gab es ein breites metallenes waschbecken. sie wuschen sich die schwarzen hände mit gelbem waschsand, den sie aus weißen plastikkübeln entnahmen.« (Diese »Handwaschpaste«, wie wir sie nannten, gab es auch in meiner Kindheit, ich hatte sie vollkommen vergessen und spüre beim Lesen sofort wieder die seifig-raue Konsistenz an den Fingern.)
Irina Kilimnik: Sommer in Odessa
Es ist der Sommer 2014, als wir Olga in Odessa kennenlernen. Eine junge Frau, gefangen in den Strukturen ihrer Familie, die von dem patriarchalischen Großvater dominiert wird. Vor dem Hintergrund der beginnenden russischen Aggression, vor der einsetzenden Spaltung der Gesellschaft versucht sie ihren Weg zu finden. Irina Kilimnik ist in Odessa aufgewachsen und beschreibt diese faszinierende Stadt am Schwarzen Meer auf eine wunderbar atmosphärische Weise.
Nominiert wurde »Sommer in Odessa« von Jury-Mitglied Daniela Strigl. Für sie ist das von Irina Kilimnik beschriebene Odessa das Sinnbild der Ukraine im Sommer 2014 – ein Krieg steht bevor, die politischen Konflikte zwischen den Bewohnern der Stadt werden bis hinein in die Familien ausgetragen. Sehr gelungen ist die eingefangene Sommerstimmung in dieser Stadt am Meer – und die trügerische Anmutung von Normalität, die zunehmend schwindet. Dabei werden die Fäden der weitverzweigten Familiengeschichte auf eine altmeisterliche Weise zusammengehalten. Gerhard Ruiss gefällt die sehr dialogreiche Sprache, die niemals aufgesetzt wirkt und die sich immer wieder auch in der indirekten Rede fortsetzt. Für ihn ist der Roman mit Odessa als literarischen Ort ein zeitgeschichtliches Dokument, denn heute wird die Stadt mit russischen Raketen beschossen. Manfred Papst hat viel über Odessa gelernt, die Stadt wirkt auf ihn wie ein komplizierter Schmelztiegel. Auch er lobt die Dialoge, mit denen die lebenspralle Handlung temporeich Fahrt aufnimmt. Für Jutta Person erzählt »Sommer in Odessa« auf den ersten Blick eine humoristische Familiengeschichte, doch ist es lediglich ein vermeintlicher Humor, der die ernsten Töne nur überdeckt. Die familiären Prägungen sind verknüpft mit einer historischen Grundstruktur, die als zweite Ebene weit in die Sowjetzeit zurückreicht. Robert Huez hat den Roman als »Anti-Familiengeschichte« gelesen; die Protagonistin Olga entwickelt sich weg von ihrer Familie, sucht ihren eigenen Weg – während parallel zu den Rissen innerhalb der Familie die Brüche in der gesamten Stadt mehr und mehr wahrnehmbar sind.
Mein Lieblingszitat aus »Sommer in Odessa«: »Wenn die Kastanienbäume zu blühen anfangen, beginnt Odessas schönste Zeit. … Die weißen Blüten ragen wie kleine Kerzenleuchter zu Tausenden in die Höhe und übertragen eine fast festliche Stimmung auf die Passanten, die unter ihnen flanieren. … In den alten Innenhöfen riecht es nach gebratenen Auberginen, Knoblauch und gegrillter Dorade.«
Tine Melzer: Alpha Bravo Charlie
Wie ein Versuch über die Einsamkeit liest sich Tine Melzers Roman. Der Ich-Erzähler Johann Trost ist ein pensionierter Pilot mit so gut wie keinen sozialen Kontakten, der mit Mühe versucht, sich Alltagsroutinen zu schaffen, um die Leere seiner Tage zu übertünchen. Am Ende der Erzählung wartet auf ihn – und auf die Leser – eine Überraschung, die dem Geschilderten unvermittelt eine vollkommen neue Perspektive gibt.
Nominiert wurde »Alpha Bravo Charlie« von Jury-Mitglied Manfred Papst. Er ist »hingerissen von dem Buch« und liebt den Protagonisten Johann Trost, der alleine lebt und sich seine eigene Gegenwelt aufbaut. Auf der einen Ebene sieht er in ihm einen liebenswürdigen, älteren Herrn mit guten Manieren, der Passagier seines Lebens wird, nachdem er viele Jahre als Pilot gearbeitet hat. Auf der anderen Ebene steht er für einen Gegenentwurf zu unserer zweckrationalen Welt: Ist er so seltsam? Oder sind wir es? Sprachlich findet er »Alpha Bravo Charlie« makellos, sehr poetisch und mit einem feinen Witz, der an die Haarrisse in alten Gemälden erinnert. Auch Robert Huez ist fasziniert von der Figur des Johann Trost – besonders, da er auch eigene Eigenschaften in ihm entdeckt. Daniela Strigl haben die Beobachtungen durch den Blick des Protagonisten auf die Welt sehr gut gefallen; sie sind kritisch, aber menschenfreundlich. Jutta Person fand die Person des Johann Trost ebenfalls sehr liebenswert, allerdings mit einem leicht beunruhigenden Element. Mit feiner Selbstironie durchschaut der Erzähler sich selbst und geht damit mit seinem Scheitern und seiner Einsamkeit um. Gerhard Ruiss findet nicht, dass Johann Trost ein Sonderling oder ein Außenseiter ist; vielmehr ist er aus dem System gefallen und dabei, für seine leeren Tage ein neues Ordnungssystem zu suchen. Die harten Brüche in seinem Leben und der Prozess der Vereinsamung werden trocken erzählt.
Mein Lieblingszitat aus »Alpha Bravo Charlie«: »Schlafen kann ich noch nicht, weil ich diesen Tag noch nicht genug liebgewonnen habe.«
Magdalena Saiger: Was ihr nicht seht
Ein namenlos bleibender Ich-Erzähler lässt alles hinter sich, seinen gut dotierten Job im Kunstbetrieb, sein Netzwerk, sein altes Leben. In einer versteckt gelegenen Lagerhalle am Rand eines aufgegebenen Tagebaus beginnt er, ein riesiges Kunstwerk zu schaffen. Ein Kunstwerk, das nie jemand sehen wird und sehen soll. Um das Verschwinden geht es in diesem Roman: Das Verschwinden eines Dorfes, das dem Tagebau zum Opfer gefallen ist. Das Verschwinden des Einzelnen aus der Gesellschaft. Und um die Frage, was Kunst eigentlich ist, wenn sie wieder verschwindet, bevor sie jemand zu Gesicht bekommt.
Nominiert wurde »Was ihr nicht seht« von Jury-Mitglied Jutta Person. Sie beschreibt, wie sie von der ersten Seite an mitgerissen war, lobt den Mut der erzählten Geschichte und den ganz eigenen Ton, der oft mit einer Art grimmigen Humor daherkommt. Den Zivilisationsekel, der den Ich-Erzählter zum Aussteigen bringt, findet sie stark beschrieben. Der Kontakt zu Giacometti, dem anderen Menschen, der am Rand der Zivilisation lebt und sich als Wächter des durch den Tagebau verschwundenen Dorfes sieht, ist in ihren Augen wunderbar ausgestaltet. Eine Frage bleibt unbeantwortet: Wie kann das Schöne erlebbar sein ohne das Schreckliche? Oder wie beschreibt man das absolute Kunstwerk? Beim Lesen hatte sie das Gefühl, als würde der Roman ein Labyrinth um seine Handlung bauen – ein besonderer Clou. Daniela Strigl hat »Was ihr nicht seht« als ernsten Text gelesen, einen »grimmigen Humor« konnte sich nicht entdecken. Für sie war es ein sehr pathetischer Text, doch das Pathos passt gut zum Erzählten: Es geht um das Pathos der Schönheit und das Pathos der Erhabenheit. Und um ein anachronistisches Bekenntnis zum autonomen Kunstwerk, dessen Sinn in seiner Vernichtung besteht. Für Gerhard Ruiss beschreibt das Buch goße Prozesse, wobei der Akt der Schöpfung, der gesamte Schaffensprozess in der Dekonstruierung besteht. Oder als Frage formuliert: Wie bringe ich etwas zum Verschwinden, indem ich es erschaffe? Manfred Papst empfand den Text keinesfalls als pathetisch. Für ihn ist es ein eigener, souveräner Ton mit feinem Humor – der aber nicht unbedingt grimmig. »Was ihr nicht seht enthält hundert surrealistische Geschichten in einer Nußschale – es ist eine unglaubliche Verdichtung des Erzählten«. Für Robert Huez ist es nicht nur ein Kunstroman mit vielen Spannungsverhältnissen, sondern fast schon ein verstecktes Sachbuch zur Geschichte des Labyrinths und zur Beschaffenheit von Papier.
Mein Lieblingszitat aus »Was ihr nicht seht«: »Diesen Text wird nie jemand lesen. Würdet ihr ihn lesen, ihr würdet euch wundern.«
Und dann: Die Preisverleihung
Am Nachmittag waren alle fünf Bücher vorgestellt. Bemerkenswert an der Diskussion fand ich die wertschätzende Atmosphäre: Es ging nicht darum, die Debütromane auf mögliche Schwächen abzuklopfen oder sie in Grund und Boden zu kritisieren. Vielmehr weckten die Gespräche der Jury eine große Neugier auf die vorgestellten Romane und hätten mich sofort dazu bewegt, sie beim nächsten Buchhandlungsbesuch zu erwerben – wenn ich sie nicht schon haben würde. Und manche Passagen ließen sie noch einmal aus einem anderen Blickwinkel sehen.
Dann zog sich die Jury zur Beratung zurück und knapp zwei Stunden später war es soweit. Die romanische, säkularisierte St. Markus-Kirche ist ein beindruckender Raum für eine Veranstaltung. Und sie war bis auf den letzten Platz gefüllt, als die Siegertitel verkündet wurden. Der 9. Franz-Tumler-Preis 2023 geht an Tine Melzer mit »Alpha Bravo Charlie« und Irina Kilimnik erhält den Publikumspreis 2023. Zur Jurybegründung geht es hier.
Auch an dieser Stelle noch einmal herzlichen Glückwunsch an die beiden Preisträgerinnen und an die Nominierten – es war großartig, Euch und Eure Bücher kennenzulernen.
Einige Ansprachen und Gratulationsrunden später saßen alle Beteiligten im Gasthaus »Sonne« und ließen die Zeit in Laas mit vielen Gesprächen gemeinsam ausklingen. Überhaupt waren es die Gespräche, die den Aufenthalt in diesem Dorf mit seiner ganz eigenen Atmosphäre so besonders machten. Gespräche mit den Autorinnen und dem Autor, Gespräche mit den Jury-Mitgliedern, mit anderen Gästen, mit den Initiatoren des Preises, mit den Menschen vor Ort, die all dies organisiert haben. Ein inspirierender Austausch über Literatur und das alles umgeben von hohen Bergen und tiefhängenden Wolken. Es war wunderschön.
Auf der langen Reise von Köln nach Südtirol und zurück habe ich alle fünf für den Preis nominierten Bücher gelesen. Sind sie auch sehr unterschiedliche Romane, so hat mich jeder auf seine Weise gefesselt und begeistert. Fünf neue literarische Stimmen, von denen wir hoffentlich noch mehr hören werden. Und alle sind in kleinen Verlagshäusern erschienen, etwas, das auf den Nominierungslisten von Literaturpreisen nicht selbstverständlich ist; empfohlen sei zu diesem Thema der Beitrag im Gemeinschaftsblog We Read Indie.
Mein ganz persönlicher Favorit der fünf Bücher ist übrigens »Drama« von Arad Dabiri, da mich die dort beschriebene Suche nach einem Platz im Leben, das permanente Betäuben einer bedrohlichen Leere und die Angry-Young-Man-Attitüde – wie es Jutta Person nannte – an meine eigene Zeit erinnern, in der ich jung war, die Wege weit ausgebreitet vor einem lagen und ich keine Ahnung hatte, wohin mich die Jahre führen würden.
Ich bedanke mich bei dem Organisationsteam des Franz-Tumler-Literaturpreises und der Gemeinde Laas für die Einladung, für das intensive Literaturerlebnis und für die wunderbare Gastfreundschaft. Etwa 1.600 Bahnkilometer bin ich insgesamt gefahren und jeder einzelne davon hat sich gelohnt. Unterwegssein und Literatur – eine perfekte Kombination.
Als Bonustrack gibt es zum Abschluss noch ein kleines Photoalbum.
Bücherinformationen
Arad Dabiri, Drama
Septime Verlag
ISBN 978-3-99120-022-2
Cornelia Hülmbauer, oft manchmal nie
Residenz Verlag
ISBN 978-3-7017-1770-5
Irina Kilimnik, Sommer in Odessa
Verlag Kein & Aber
ISBN 978-3-0369-5897-2
Tine Melzer, Alpha Bravo Charlie
Jung und Jung Verlag
ISBN 978-3-99027-275-6
Magdalena Saiger, Was ihr nicht seht
Edition Nautilus
ISBN 978-3-96054-309-1
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Danke für diesen Ausflug, Einblick und literarischen Überblick
Schöne Grüße!
Danke fürs Vorbeischauen.