Leïla Slimani über wahre »Cancel Culture«. Ein Textbaustein*

Die wahre »Cancel Culture« - Leïla Slimanis brillante Rede bei der Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin 2021

Der Roman »Das Land der Anderen« von Leïla Slimani ist eines der wichtigen Bücher des Jahres. In diesem Beitrag wird es allerdings nicht um das Buch gehen, sondern um eine Rede. Genauer gesagt, um die Rede, die Leïla Slimani zur Eröffnung des 21. Internationalen Literaturfestivals in Berlin gehalten hat. Die Übersetzung war in der FAS abgedruckt, ich bin zufälllig darauf gestoßen. Während einer Zugfahrt von Leipzig zurück nach Köln blätterte ich durch die Zeitung und blieb an dem Text der Rede hängen. Las sie gleich noch einmal. Und bekomme sie nicht mehr aus dem Kopf. Die französisch-marokkanische Autorin, geboren in Rabat, spricht darin von ihrem Aufwachsen in einer patriarchalen Gesellschaft, in der für Frauen kein selbstbestimmtes Leben vorgesehen ist. Sie erinnert sich an ihre ersten Kontakte mit Büchern und daran, wie die Literatur ihr die Türen in die Welt hinein aufgestoßen hat. Sie ist hindurchgegangen; es war ein steiniger Weg voller Hindernisse und Ressentiments, aber ein Umkehren kam nie in Frage. Und er hat sie bis weit nach oben geführt, Leïla Slimani ist eine der großen Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur.

Über all das spricht sie in ihrer brillanten Rede. Inmer wieder geht es um die Rechte der Frauen, die Macht der Literatur, die Bedeutung und die Kraft der Worte. Sie fordert die Schreibenden dieser Welt auf, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob sich irgendjemand davon beleidigt oder brüskiert fühlt – und weiß, dass dies ein schwieriges Unterfangen ist im Zeitalter der permanenten öffentlichen Empörung. Die Formulierung »Cancel Culture« fällt und sie ordnet sie in einen größeren Kontext ein. Denn die eigentliche, die bedrohliche, die mörderische »Cancel Culture« – sie gibt es wirklich. Und es ist dieser Teil der Rede, es sind diese paar Sätze, die man nicht oft genug zitieren kann. Denn während wir hier um einzelne Formulierungen oder Gedichte an Hauswänden erbittert streiten, werden andere Teile dieser Welt von einer barbarischen Dunkelheit bedroht, die sich immer wieder anschickt, jegliche Kultur auszulöschen. 

Das ist der Auschnitt von Leïla Slimanis Rede, der unbedingt Aufnahme in diese Rubrik der Textbausteine finden musste, in der ich Textstellen sammle, die mich besonders bewegt oder – wie in diesem Fall – besonders inspiriert haben.

»Auf die Frage, können wir weiter Céline, Heidegger oder Nabokov lesen, können wir noch Wagner hören oder die Werke Gauguins bewundern, würde ich antworten, dass wir aufhören müssen, Leser oder Betrachter wie Dummköpfe zu behandeln. Wir sollten auf ihre Klugheit, ihr Wissen und ihren Sinn für die Komplexität der Welt vertrauen. Man kann mit Begeisterung ›Reise ans Ende der Nacht‹ lesen und zugleich den Mann, der es geschrieben hat, verachtenswert finden. Lassen Sie uns dieser Mode der ›Cancel Culture‹ nicht mehr Bedeutung zumessen, als sie hat. Europäische Intellektuelle reden sich gern die Köpfe heiß über das, was an amerikanischen Hochschulen passiert. Doch das hindert uns daran, zu sehen, dass dort nicht die größte Gefahr lauert. Die wahre Cancel Culture ist die, die darin besteht, Buddha-Statuen zu sprengen, in Timbuktu historische Handschriften zu verbrennen, das Kulturerbe Aleppos in Schutt und Asche zu legen oder auf Menschen zu schießen, weil sie in Paris tanzen. Sie löscht Sprachen, Religionen und Gemeinschaften aus. Sie sperrt Künstler ein und macht sie mundtot, sie vernichtet die Träume von Millionen Frauen, die man daran hindert, zu werden, was sie möchten. Das ist es, was wir zuerst bekämpfen müssen.«
 
Jeden Satz würde ich am liebsten drei Mal unterstreichen, so recht hat sie damit. Statt über Straßennahmen zu streiten, sollte es uns darum gehen, die Barbarei der fanatischen Kulturzerstörer zu bekämpfen. Denn mit dem personifizierten Bösen gibt es auf Dauer kein Verhandeln – wie schon unsere eigene Geschichte zeigt.
 
Die ganze Rede zum Nachlesen gibt es hier. Oder, noch besser, hier zum Anschauen; ab ca. Minute 54 beginnt sie.
 
Und wer mehr zu dem eingangs erwähnten Roman »Das Land der Anderen« erfahren möchte, dem sei die Buchvorstellung im Blog »Literarische Abenteuer« empfohlen. Ich selbst kenne ihn noch nicht, aber spätestens nach dem Eindruck, den Leïla Slimanis Rede auf mich gemacht hat, sollte ich schnellstmöglich ihre Bücher lesen. 
 
Übrigens: Was da auf dem Beitragsphoto vor sich hinglimmt, ist ein abgelaufener Kalender, der ein paar Seiten Text enthielt und schon seit Jahren ungenutzt in der Schublade lag.
 
*Hier auf Kaffeehaussitzer gibt es die Textbausteine, eine Sammlung von Texten, die mir wichtig sind. Meistens Stellen aus Büchern, aber dieser Ausschnitt aus einer großartigen Rede gehört unbedingt dazu.
 

3 Antworten auf „Leïla Slimani über wahre »Cancel Culture«. Ein Textbaustein*“

  1. Ich kann dir nur empfehlen, sofort mit dem Lesen der Bücher von Leila Slimani zu beginnen. Du wirst begeistert sein!
    Für mich gehört sie zu den besten Autorinnen der Gegenwart. Und ihr 1. Teil der Trilogie „Das Land der Anderen“ lässt mich unweigerlich an die Erzähltradition von Nagib Machfus denken. Ich kann es kaum erwarten, bis der 2. Teil nächstes Frühjahr erscheint.
    Herzlichst buechermaniac

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