F wie Faschismus. Ein Textbaustein*

Simon Stranger: Vergesst unsere Namen nicht

Es ist schon ein paar Jahre her, ich war damals erst seit kurzem für den Eichborn Verlag tätig und begleitete den norwegischen Autor Simon Stranger auf einer Lesereise. Im Gepäck hatte er seinen gerade auf Deutsch erschienenen Roman »Vergesst unsere Namen nicht«. Es gibt einen Satz in diesem Buch, der sich mir besonders eingeprägt hat und über den ich hier schreiben möchte. Denn er fühlt sich auf eine bedrohliche Art hochaktuell an. 

Der norwegische Originaltitel des Romans lautet »Leksikon om lys og mørke«, frei übersetzt: Lexikon des Lichts und der Finsternis. Simon Stranger erzählt darin die Geschichte der jüdischen Familie seiner Frau im von Nazi-Deutschland besetzten Norwegen. Jedes Kapitel beginnt wie in einem Lexikon mit einem Buchstaben und den passenden Worten, die sich daraus ergeben – von A wie Anklage bis Z wie Zugvögel. Für den Übersetzer Thorsten Alms war dies eine echte Herausforderung, die er souverän gelöst hat. Und beim Kapitel zum Buchstaben F steht er, der Satz, den ich nicht vergessen kann:

»F wie früher, die Vergangenheit, die es immer noch gibt, und wie der Faschismus, der sich hineinfrisst, wie ein Furunkel in die Kultur.« 

Denn genau das erleben wir gerade. Ein eitriges Furunkel ist dabei, sich tief hinein in die Gesellschaft zu fressen, sie auszuhöhlen, die moralische Richtschnur zu verschieben. Wir leben in Zeiten einer globalen Krise, die unsere Welt verändern wird – ob wir es wollen oder nicht. In diesen Jahren der Verunsicherung bieten rechte Parteien und rechtspopulistische Akteure einfache Antworten, die den komplexen Problemen in keinster Weise gerecht werden. Aber vielen Menschen vorgaukeln, dass es wieder so werden könnte, wie es eigentlich niemals war. Und niemals sein kann. 

Und ja, wir leben in einem Land voll existenzieller Baustellen, in dem vieles im Argen liegt und in dem die Politik durch ein permanentes, unausgegorenes Hin und Her dabei ist, das Vertrauen in demokratische Prozesse zu verspielen. Doch jene Partei, die sich Alternative nennt, ist dies nicht. Ganz und gar nicht. Sondern in Wahrheit der Feind unseres Landes; eine Partei, die Deutschland in die Isolation und Abschottung führen und es damit all seiner Zukunft berauben würde. Eine Partei, die für rassistisches, völkisches, ausgrenzendes, kurz: faschistoides Gedankengut steht, das auf den Müllhaufen der Geschichte gehört und schon längst dort liegen sollte. 

Schon einmal hat der Faschismus deutscher Ausprägung ganz Europa mit Zerstörung und unendlichem Leid überzogen – und letztendlich das eigene Land vernichtet. Daher ist »Vergesst unsere Namen nicht« ein wichtiger Beitrag zur Zeitgeschichte, ein literarischer Stolperstein. Und mit einem der Stolpersteine, die der Künstler Gunter Demnig seit über einem Vierteljahrhundert verlegt, begann das Buchprojekt: Als Simon Stranger mit seiner Familie in Trondheim unterwegs war, fragte sein Sohn beim Anblick des Steins mit dem Namen seines Ururgroßvaters: »Warum wurde er umgebracht?« Stranger versuchte, darauf eine Antwort zu finden und fing an zu recherchieren. Herausgekommen ist dabei ein bewegendes Buch, das über vier Generationen eine Familiengeschichte erzählt und vieles rekonstruiert, was ansonsten dem Vergessen anheimgefallen wäre. Eine wunderbare Besprechung gibt es im Blog Zeichen & Zeiten

Gegliedert ist das Buch in mehrere Erzählstränge: Im Zentrum steht die Geschichte von Hirsch Komissar, dem Urgroßvater von Simon Strangers Ehefrau Rikke Komissar. Er stammte aus einer jüdischen Familie und war Inhaber eines Modegeschäfts in Trondheim, als Norwegen während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht überrannt wurde und unter deutsche Besatzung geriet. Und damit waren die jüdischen Norweger dem antisemitischen Vernichtungswahn Nazi-Deutschlands ausgeliefert. Hirsch Komissar wurde 1942 in ein Lager außerhalb Trondheims verschleppt und dort am 7. Oktober erschossen.

Ein weiterer Erzählstrang beschäftigt sich mit dem Leben von Henry Oliver Rinnan, einem norwegischen Nazi-Kollaborateur, der unzählige seiner Mitbürger erst bespitzelte und auslieferte, später im Namen der deutschen Besatzer selbst folterte und tötete. Bis heute ist Rinnan, der 1947 wegen seiner Verbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, einer der meistgehassten Männer Norwegens, eine personifizierte nationale Schande. In seinem Buch geht Simon Stranger der Frage nach, wie ein Mensch so werden konnte. Welche Umstände Henry Rinnan zu dem sadistischen Monster machten, als das er in die Geschichte eingegangen ist – und dessen Taten in engem Zusammenhang stehen mit der Ermordung Hirsch Komissars. 

Das Haus in Trondheim, in dem Rinnan und seine Helfershelfer ihre Opfer quälten und viele von ihnen ermordeten, stand nach dem Krieg leer, es strahlte etwas unsagbar Böses aus. Als es irgendwann doch von neuen Bewohnern bezogen wurde, war dies ausgerechnet der Sohn von Hirsch Komissar mit seiner Familie. Dies ist ein weiterer Handlungsstrang des Buches – kann man nach all dem Leid ein normales Leben führen, wenn im Keller des Hauses noch Bleikugeln aus Täterwaffen in den Mauern stecken? 

Die erzählerische Klammer, die all dies zusammenhält ist Simon Strangers Beschreibung seiner Recherche; hier vereinen sich die einzelnen Teile. Es entsteht ein tiefer Einblick in die Dunkelheit jener Zeit, vor allem aber sorgt das Buch dafür, dass die Opfer einer mörderischen Ideologie nicht in Vergessenheit geraten – im jüdischen Glauben sind Menschen erst dann wirklich gestorben, wenn sich niemand mehr an sie erinnert. 

Und auch für uns ist die Erinnerung an all die Verbrechen, mit denen unsere Vorfahren Europa überzogen haben, eine Verpflichtung, die uns die Geschichte auferlegt hat. Wir Nachgeborenen tragen keine Schuld an dem, was geschehen ist. Aber wir sind dafür verantwortlich, dass es sich niemals wiederholt. Und dies darf nicht nur eine Floskel bleiben, denn unsere Freiheit und unsere demokratische Werteordnung sind keine Selbstverständlichkeiten. 

»F wie früher, die Vergangenheit, die es immer noch gibt, und wie der Faschismus, der sich hineinfrisst, wie ein Furunkel in die Kultur.«

Es ist mir unerklärlich, wie Menschen so geschichtsvergessen sein können, jene Partei, die das Wort Alternative im Namen trägt und deren Masken gefallen sind, zu wählen oder dies auch nur in Erwägung zu ziehen. So, wie ein Furunkel die Gesundheit schädigt, um im Kontext des zitierten Satzes zu bleiben, ist sie nicht nur die größte Bedrohung unserer Demokratie seit 1945. Sie ist auch die größte Bedrohung unseres Landes und unserer Freiheit. Denn Faschismus ist keine Alternative. War es nie. Wird es nie sein.  

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Das Unerzählbare.

* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich, manche davon seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.

Buchinformation
Simon Stranger, Vergesst unsere Namen nicht
Aus dem Norwegischen von Thorsten Alms
Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0072-6
(Taschenbuchausgabe)

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13 Antworten auf „F wie Faschismus. Ein Textbaustein*“

  1. Das beschriebene Buch klingt genau nach dem richtigen Buch für mich! Ich liebe Literatur (egal ob Roman, Biografie oder Dokumentation/Spielfilm) über Ereignisse von historischer Tragweite. Seitdem ich in der Schule auf Abschlussfahrt in Oswiecim war und die diversen Gedenkstätten vorort besuchen durfte, habe ich einen absoluten Faible für Literatur und Kunst aus dieser Zeit.

    Es passt leider nicht ganz zu den sonstigen Themen deines Blogs, der ja eher mit Büchern zu tun hat, aber am eindrucksvollsten war dabei für mich der Besuch einer Ausstellung von Kunst, die ein traumatisierter Überlebender von Auschwitz gemalt hat. Da blieb einem schon mehrfach der Atem weg.

  2. Vielen Dank für deine kostbaren Einblicke und deine unermüdliche Begeisterung für das Lesen und Teilen von Geschichten. Mit einem Buch in der Hand und Dankbarkeit im Herzen,
    Lena

  3. Danke für die Erinnerung an dieses tolle Buch!
    Am 15.09.2023 erscheint in Norwegen die Fortsetzung unter dem Titel „Museum for mordere og redningsmen“ und ich hoffe sehr, dass Eichborn auch dieses Buch ins Deutsche übersetzen lässt. Gibt es schon Pläne dafür? Viele Grüße! Barbara

  4. Ein ganz großartiges, besonderes Buch. Gerade wegen der Verbindung zur Familiengeschichte und seines Aufbaus. Es wäre schön, wenn weitere Bücher von Stranger übersetzt würden. Ich danke im Übrigen für die freundliche Erwähnung und die Verlinkung. Viele Grüße nach Köln

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