Der Krieg, die Lügen und die Politik

Steffen Kopetzky: Propaganda

»Propaganda (von lateinisch propagare ›weiter ausbreiten, verbreiten‹) bezeichnet in seiner modernen Bedeutung die zielgerichteten Versuche, politische Meinungen oder öffentliche Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und das Verhalten in eine erwünschte Richtung zu lenken.« So definiert Wikipedia den Begriff und genau darum geht es im Roman »Propaganda« von Steffen Kopetzky: Um das Beeinflussen von Meinungen in Kriegszeiten. Um das Schönreden, Verschleiern und Vertuschen. Um das Lügen. Und John Glueck, der Held der Geschichte, ist einer dieser Menschen, die genau damit befasst sind.

Als ich den Roman vor einiger Zeit gelesen habe, stieß ich auf eine Textstelle über das Älterwerden. Es waren ein paar Sätze, die mich mitten ins Herz trafen, so wie es nur selten Worte schaffen. Und die ich damals direkt in meine Sammlung von Textbausteinen aufgenommen habe. Hier sind sie noch einmal:

»Wie soll man einem jungen Menschen je erklären können, wie sich das anfühlt? Dass man auch einmal jung gewesen ist, die ganze Zeit unterwegs war, nach vorne preschte, sich angestrengt hat – und auf einmal bleibst du stehen und blickst zurück und erkennst, dass du so weit gegangen bist, dass du niemals mehr dorthin zurückkehren wirst, von wo du einst gekommen bist. Angesichts des weiten Weges fühlst du dich plötzlich müde, aber du kannst nicht wieder nach Hause. Nie wieder.«

Denn als wir Leser John Glueck begegnen, ist er bereits kein junger Mann mehr, ist schon seit über 25 Jahren Mitglied der Propagandaabteilung der US-Streitkräfte – und steht an einem Wendepunkt in seinem Leben. Es ist  1971, der in Vietnam tobende Krieg hat ihn mit einem verwüsteten Gesicht wieder ausgespuckt. Jeder Blick in einen Spiegel lehrt ihn, dass er im Namen der Regierung jahrzehntelang gelogen hat. Zerbrochen und desillusioniert sucht er nach einer Möglichkeit, dies irgendwie wiedergutzumachen. Und kommt in Kontakt mit Friedensaktivisten aus dem Umfeld des Regierungsmitarbeiters Daniel Ellsberg, dem es gelang, Kopien geheimer Dokumente aus dem Verteidigungsministerium zu schmuggeln. Berühmt geworden sind sie als die »Pentagon Papers« und sie bewiesen, dass die Gründe für den Eintritt der USA in den Vietnamkrieg manipuliert waren. Oder einfacher gesagt: Die Bevölkerung wurde jahrelang vorsätzlich getäuscht und betrogen. Mit tödlichen Folgen für tausende von Soldaten und vietnamesische Zivilisten. Nachdem die New York Times und die Washington Post die »Pentagon Papers« veröffentlichten, trug dies maßgeblich dazu bei, den Krieg zu beenden. Als kleiner Exkurs sei hier unbedingt der Steven-Spielberg-Film »Die Verlegerin« empfohlen, in dem Meryl Streep die Washington-Post-Chefin Katharine Graham spielt, als es darum ging, die geheimen Dokumente zu publizieren.

Im Roman »Propaganda« gehört John Glueck zu den Personen, die unter Einsatz ihrer Freiheit – es handelt sich um hochgradigen Geheimnisverrat – die Kopien der etwa 7000 Seiten verstecken und für eine Übergabe an die Presse vorbereiten. 

Die dramatische Aktion rund um die »Pentagon Papers« ist allerdings lediglich die Rahmenhandlung. Denn John Glueck hat dort, wo er sich gerade befindet, viel Zeit zum Nachdenken, und wir reisen mit seinen Erinnerungen zurück in den Oktober 1944. Zurück in Kälte, Schlamm und Nebel, umgeben von dicht stehenden Bäumen, düster, undurchdringlich. Zurück in den Hürtgenwald, einem Teil der Eifel südlich von Aachen. In einen Wald, der in jenem Herbst und Winter zu einem riesigen Friedhof werden sollte. 

Die amerikanischen Truppen hatten sich die Monate zuvor durch Nordfrankreich gekämpft und endlich deutschen Boden betreten. Die US-Militärführung wollte einen schnellstmöglichen Durchbruch in die Rheinebene, ohne sich ausführlich mit den landschaftlichen Gegebenheiten zu beschäftigen. Und so schickte man die Soldaten los, quer durch die Eifel, durch den Hürtgenwald. Es wurde ein militärisches Desaster, das unwegsame, vollkommen unübersichtliche Gelände war schwer befestigt, vermint, voller Sprengfallen, ein dunkler Wald, der eine Abteilung Soldaten nach der anderen verschlang; wie ein vorweggenommenes Vietnam. Und bis heute sieht man dort die Spuren dieses Gemetzels – zugewachsene Mauerreste, überwucherte Granattrichter, betonierte Panzersperren. 

John Glueck war als Angehöriger der Propagandatruppe »Department for Psychological Warfare« vor Ort. Eigentlich sollte er Ernest Hemingway interviewen und eine Reportage über den berühmten Dichter an der Front schreiben. Hemingway war mit seiner Entourage unterwegs, arbeitete an seinem Ruf, als Schriftsteller mit der Waffe in der Hand die Freiheit zu verteidigen, »Papa Hem schilderte uns die moralische Verworfenheit der Welt und den einsamen, aber entschlossenen Kampf des amerikanischen Idealisten gegen das Böse – dass seine Helden allesamt zum Untergang verurteilte Pechvögel waren, störte uns nicht weiter. … Leben für die Gegenwart. Sterben für die Vergangenheit. Das war die Formel jener grandiosen Enttäuschung, mit der dir klar wird, was es heißt, ein Amerikaner zu sein. Das war Hemingway.«

Die Stippvisite des großen Autors am Rand des Hürtgenwalds währte nicht lange, genügte ihm aber, um daraus den Roman »Über den Fluss und in die Wälder« entstehen zu lassen. John Glueck blieb. Und erlebte das Grauen. 

Die Handlung von »Propaganda« springt zwischen drei Zeitschienen hin und her. Eine davon beschreibt John Gluecks Aufwachsen in der deutschen Community New Yorks, seinen Werdegang und seine Liebe zur Literatur – an einem literarischen Sommerkurs an der Columbia University lernt er Bukowski und Salinger kennen. In einer zweiten geht es um die blutigen Ereignisse im Hürtgenwald, die einen großen Teil des Romans ausmachen. Und die dritte erzählt von seiner Mithilfe bei der Veröffentlichung der »Pentagon Papers«. Dazwischen liegt ein Leben voller Enthusiasmus, voller Enttäuschungen, voller zerbrochener Träume, voller innerer und äußerer Wunden. Die Zeitschienen verknüpfen sich, der Autor schafft eine Verbindung, die von der Düsternis des zerschossenen Hürtgenwalds über napalmverwüstete Dörfer in Indochina bis zu einem Gerichtssaal in den USA reicht. Brillant erzählt verschmelzen historische Fakten und Fiktion zu einem großen Ganzen.

Der Roman schildert beeindruckend, wie Propaganda sich durch die öffentliche Meinung frisst, wie sie demokratische Strukturen zerstören und Gesellschaften verändern kann: »Unsere Propaganda interpretiert nicht mehr unsere Wirklichkeit in einem bestimmten Licht. Sie schafft sie.« Vielleicht heiligte am Anfang der Zweck tatsächlich die Mittel, als es darum ging, Hitler und das abgrundtief Böse zu bekämpfen und dabei die Stimmung in der Bevölkerung nicht schwanken zu lassen – etwa nach solch einer katastrophalen militärischen Aktion wie im Hürtgenwald, verschuldet von unfähigen Generälen. 

Doch wo hört es auf? Nach dem Krieg ist vor dem Krieg; auch wenn es der Kalte sein sollte, einen Feind gab es immer. Dann Vietnam. Und es ließe sich fortsetzen bis zu den Lügen über die nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen des Iraks, mit Folgen bis heute. Eine Schlüsselstelle des Buches findet sich auf Seite 436. 

»Das wahre Ziel war, uns alle in einer Art von Dauerkriegszustand zu halten. Der war so wertvoll für das Weiße Haus und das Pentagon. Krieg stärkt immer die Regierung und schwächt das Parlament, die Justiz und auch die vierte Gewalt, die Medien.«

Zeitlose Worte. Und ein großartiger Roman. 

Buchinformation 
Steffen Kopetzky, Propaganda
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0064-9

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