Brief an den Vater

Necati Oeziri: Vatermal

Für die Überschrift dieses Blogbeitrags habe ich mir den Titel von Franz Kafkas »Brief an den Vater« geborgt; eines der bekanntesten Zeugnisse der Literaturgeschichte, in dem ein Autor mit der alles dominierenden Präsenz eines Familienpatriarchen abrechnet. Und auch wenn es vollkommen unterschiedliche Texte sind und nichts miteinander zu tun haben, finde ich den Titel auch hier passend. Denn Arda Kaya, der Protagonist des Romans »Vatermal« von Necati Öziri, schreibt ebenfalls an seinen Vater und prangert dessen Verhalten als verhängnisvoll für das Leben seiner Familie an. Zwar gibt es einen wichtigen Unterschied, denn Ardas Vater dominiert nicht mit seiner Präsenz, sondern hat mit seinem unvermittelten Weggang eine riesige Lücke gerissen. Doch gerade diese Leerstelle prägt das Leben von ihm, seiner Schwester Aylin und ihrer Mutter Ümran auf eine alles erdrückende Weise. 

Der Ich-Erzähler Arda liegt im Krankenhaus. Er ist jung, noch zu Beginn seines Studiums, aber es ist sehr ungewiss, ob er die Klinik lebend verlassen wird. Die Diagnose lautet Autoimmunhepatitis, sein eigenes Immunsystem greift die Organe an und niemand weiß, ob und wie dies zu stoppen ist. Ein junger Mensch, dessen Leben gerade gestartet war, steht bereits vor dem Ende. Und er nutzt dies, um alles aufzuschreiben, was er Metin, seinem Vater, gerne gesagt hätte. Seinem Vater, den er nie kennengelernt, der ihn durch seinen Weggang im Stich gelassen hat. Und gleich auf den ersten Seiten fällt ein starker, ein entscheidender Satz: »Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.« 

Dieser Brief an den Vater ist eine Collage aus Ardas eigenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend sowie aus den Gesprächen, die er mit seiner Mutter und seiner Schwester am Krankenbett führt. Nach und nach erwächst daraus eine Familiengeschichte, die geprägt ist von Entwurzelung, von der Suche nach einem sicheren Leben, vom Scheitern, von Katastrophen und Neuanfängen. Und von jener Leerstelle, die der fehlende Vater hinterlassen hat. Ardas Brief versucht, diese Leerstelle zu beschreiben, versucht, ein Bild des Vaters entstehen zu lassen, doch dessen Person bleibt ein Schatten. Aber ein alles verdunkelnder Schatten. 

Wir lesen von endlosen Stunden auf den trostlosen Gängen der Ausländerbehörde einer grauen Stadt in Deutschland. Von Jugendgangs auf einem kahlen, vermüllten Bahnhofsvorplatz. Von Schikanen durch Polizei und Behörden. Von dem Gefühl, kein echtes Zuhause zu haben. Von Gewalterfahrungen und sich auflösenden Sicherheiten. Und von dem Drama, das Ümrans Eltern – Ardas Großeltern – die Türkei verlassen ließ, um in Deutschland als »Gastarbeiter« Geld für ihre Zukunft zu verdienen. Davon, wie alles anders kam, wie sich die ganze Familie in der Fremde einzurichten versuchte, ohne je die Chance zu erhalten, richtig anzukommen. Wir erfahren von der frühen Hochzeit Ümrans mit Metin, um der familiären Enge zu entkommen. Und wir leiden mit, als Metin verschwindet und die Ehe zerbricht. Und Ümran ebenfalls. Das sind nur ein paar der Eckdaten von Ardas Familiengeschichte; unzählige Details trägt er in seinem Brief an den Vater zusammen, die sich nach und nach zu einem großen Bild der Verluste zusammenfügen, die über mehrere Generationen ein Leben geprägt haben. Und aus all den Bruchstücken der Geschichte ergibt sich – vielleicht – der Grund, warum sein Vater seine Familie im Stich gelassen hat. 

In dem Text »Warum ich lese« schrieb ich vor einiger Zeit: »Bücher helfen mir dabei, nicht stillzustehen, sie bringen mich weiter, lassen mich andere Lebensentwürfe kennenlernen, mich teilhaben an fremden Schicksalen.« Und genau das schafft Necati Öziri mit seinem Roman »Vatermal« und seinem Ich-Erzähler Arda Kaya. Er schickt mich  auf eine Reise zu Menschen, die von der Generation meiner Eltern als »Gastarbeiter« bezeichnet wurden, die im Laufe der Jahre längst zum festen Teil unserer Gesellschaft geworden sind, denen ich täglich auf den Straßen unserer gemeinsamen Stadt begegne – und von deren Schicksalen, Träumen und Wünschen ich doch kaum etwas weiß.  

Den Inhalt des Romans kann man mit einem Blogbeitrag, mit einer Buchvorstellung beschreiben. Doch seine eigentliche Wucht entfaltet er erst, nachdem die letzte Seite gelesen ist und einem das Erzählte nicht mehr aus dem Kopf geht. Es ist ein Buch der zerstörten Träume, aber zwischen all den verlorenen Illusionen finden sich Sätze voll trotziger Schönheit. Sätze, die in Erinnerung bleiben. Sätze, die einem klar machen, dass Aufgeben keine Option sein darf – denn wir haben nur dieses eine, kurze Leben. Sätze, die Hoffnung machen.

Sätze wie dieser: »Aber wenn es eine Sache gibt, die ich begriffen habe, dann, dass wir alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter sind, und das Einzige, was du tun kannst, ist, aufstehen und das Leben suchen, solange du noch kannst.«

Ich muss es noch einmal zitieren: »Aufstehen und das Leben suchen, solange du noch kannst.«

Sätze, die bleiben.

Buchinformation
Necati Öziri, Vatermal
Claasen Verlag
ISBN 978-3-546-10061-8

»Vatermal« stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

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