Als ich Anfang zwanzig war, drückte mir ein Freund den Roman »Siddhartha« in die Hand und meinte, ich müsse ihn unbedingt lesen. Darauf folgte eine kurze, aber intensive Phase, in der ich so ziemlich alles von Hermann Hesse verschlungen habe, was mir in die Finger kam. Das ist inzwischen knapp drei Jahrzehnte her, doch kürzlich fand ich beim Durchforsten der Buchregale »Narziß und Goldmund« wieder, das einzige Hesse-Buch, das ich neben jenem »Siddhartha« noch besitze. Als ich den schmalen Suhrkamp-Band in der prägnanten Gestaltung dieser Zeit durchblätterte, fand ich eine markierte Textstelle. Es sind Worte, die mich mich damals bis ins Mark getroffen haben. Und sofort waren eine Menge Erinnerungen wieder da.
»Ihn durchdrang stärker als jemals das Gefühl des Heimatlosen, der keine Haus- oder Schloss- oder Klostermauern zwischen sich und der großen Angst gebaut hat, der bloß und allein durch die unbegreifliche, feindliche Welt läuft, allein zwischen den kühlen, spöttischen Sternen, zwischen den lauernden Tieren, zwischen den geduldigen standhaften Bäumen.«
Die große Angst. Und keine Mauern zwischen sich und dem Leben. Was für eine wunderbare Formulierung für das Gefühl jener Zeit. Wir alle waren gestartet, suchten unseren Platz, unsere Route, unseren Plan. Die Aufbruchstimmung war mit Händen zu greifen, zumindest in der Erinnerung. Denn eigentlich war ich vollkommen orientierungslos aus dem Zivildienst gekommen, jobbte vor mich hin und hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich war auf der Suche und wusste nicht, wohin mit mir.
Da passten Herrmann Hesses Worte perfekt. »Das Gefühl des Heimatlosen, der keine Haus- oder Schloss- oder Klostermauern zwischen sich und der großen Angst gebaut hat.«
Was zuerst bedrohlich klingen mag – die große Angst – beschreibt in Wahrheit das Leben. Und zwar das Leben mit all seinen Zufällen, Unwägbarkeiten, schönen und traurigen Erfahrungen. Ein Leben, das intensiv gelebt werden kann. Wenn man es zulässt. Wenn man bereit ist, Wagnisse einzugehen, Brücken hinter sich abzubrechen und weiterzuziehen, immer weiter.
Dann heißt es im Text:
»Vielleicht … würde er eines Tages in irgendwelche Mauern zurückkriechen. Heimatlos und ziellos aber würde er dennoch bleiben, nie würde er sich wirklich geschützt und sicher fühlen, immer würde die Welt rätselhaft schön und rätselhaft unheimlich ihn umgeben, immer wieder würde er dieser Stille lauschen müssen, in deren Mitte das schlagende Herz so bang und vergänglich war.«
Eine Welt galt es zu entdecken, die schön ist und unheimlich zugleich. Und Mauern waren dabei nur im Weg, hielten die Welt draußen. Diese Gedanken haben mir Hesses Sätze damals vermittelt und sie passten zu meiner Planlosigkeit. Sie ließen mich reisen – mit dem Fahrrad durch Neuseeland, mit dem Bus über nächtliche Andenpässe, trampend durch Europa oder sich treiben lassend durch Australien, sie ließen mich ins Ungewisse aufbrechen, Städte wechseln, manche Freunde aus den Augen verlieren, aber auch neue Freunde finden. Die große Angst – sie selbst war zum Freund geworden, zum Begleiter. Aber sie sorgte auch für eine permanente Rast- und Ruhelosigkeit; etwas, dass ich mir damals niemals eingestanden hätte.
Ich erinnere mich an einen Novemberabend in Berlin, es muss das Jahr 1993 gewesen sein. Zusammen mit einem meiner besten Freunde war ich dorthin getrampt, wir saßen mit einer Freundin in der Madonna Bar in der Wiener Straße und unterhielten uns darüber, wie wir unsere Leben gestalten wollten. Ich verkündete, dass ich am liebsten ganz ohne Ballast unterwegs wäre; ein Rucksack mit Klamotten, eine Kiste Bücher, eine Matratze und eine Musikanlage – das würde reichen, um alle paar Jahre in einer neuen Stadt seine Zelte aufzuschlagen. Mein Freund wollte wissen, was denn verkehrt daran sei, sich an einem Ort zu Hause zu fühlen, Wurzeln zu schlagen, anzukommen. Ich fand damals diesen Gedanken unerträglich, war ein Getriebener der großen Angst – dann saßen wir uns gegenüber und schrieen uns an. Unsere Freundin, die sich aus dem Streit herausgehalten hatte, schaute fassungslos. Zwei neue Biere wirkten deeskalierend.
Wir sind alle drei immer noch miteinander befreundet. Jener Freund lebt nach wie vor am Bodensee, in der Gegend, aus der wir stammen. Die Freundin lebt in Kapstadt. Und ich bin seit über 18 Jahren in Köln. Diese Stadt hatte ich nie auf dem Schirm, es ist vollkommener Zufall, dass ich hier gelandet bin. Sie ist ein Zuhause geworden. Auch eine Heimat? Eher nicht, die Wurzellosigkeit sitzt zu tief. Überhaupt denke ich zur Zeit viel über die Bedeutung des Wortes Heimat nach – wenn es irgendwann Ergebnisse gibt, schreibe ich sie hier auf.
Aber hier bin ich nun: Nachts am Notebook sitzend, das alte Suhrkamp-Taschenbuch neben mir und diese Worte schreibend; mit dem Gefühl, dass alles in den letzten Jahrzehnten genau so hatte sein müssen.
Es ist faszinierend, welche Erinnerungen und Gedanken ein schmales, etwas verschrammtes und leicht vergilbtes Taschenbuch hervorrufen kann. Erinnerungen an die große Angst, die immer noch da draußen ist. Doch inzwischen sind Häusermauern zwischen ihr und mir und die Bücher passen längst nicht mehr in nur einen Karton.
Und das ist so in Ordnung. Denn ein Ort zum Ankommen ist keine schlechte Sache. Irgendwann.
* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.
Zum Weiterlesen seien folgende Beiträge empfohlen:
»Literarische Helden (1): Hermann Hesse« im Blog buchrevier
»Nur für Erwachsene« im Blog Klappentexterin und Herr Klappentexter
Bei den Stichworten Hesse und Heimat darf das Gedicht „Gegenüber von Afrika“ nicht fehlen. Auch viele andere Gedichte aus dem Buch „Aus Indien“ haben Heimat mehr oder weniger direkt zum Thema.
Heimat haben ist gut
Süß der Schlummer unter eigenem Dach,
Kinder, Garten und Hund. Aber ach,
Kaum hast du vom letzten, Wandern geruht,
Geht dir die Ferne mit neuer Verlockung nach.
Besser ist Heimweh leiden
Und unter den hohen Sternen allein
Mit seiner Sehnsucht sein.
Haben und rasten kann nur der,
Dessen Herz gelassen schlägt,
Während der Wandrer Mühsal und Reisebeschwer
In immer getäuschter Hoffnung trägt.
Leichter wahrlich ist alle Wanderqual,
Leichter als Friedefinden im Heimattal,
Wo in heimischer Freuden und Sorgen Kreis
Nur der Weise sein Glück zu bauen weiß.
Mir ist besser, zu suchen und nie zu finden,
Statt mich eng und warm an das Nahe zu binden,
Denn auch im Glücke kann ich auf Erden
Doch nur ein Gast und niemals ein Bürger werden.
[Hermann Hesse]
Lieber Uwe,
ich schätze immer wieder Deine persönlichen und klugen Texte zu Büchern und Erlebnissen. Vieles spricht mir aus der Seele!
Natürlich kennst Du auch „Unterm Rad“ von Hesse. Da kommt eine Wirtschaft vor mit dem Namen „Zum Scharfen Eck“. Im Roman arbeitet dort, wenn ich mich recht erinnere, eine hübsche Tochter wie Hesse das nennt. Meine Frau hat mir, als wir uns vor fast 30 Jahren kennenlernten, den Roman nochmal geschenkt, und wir glaubten später, das Lokal tatsächlich gefunden zu haben, und zwar in Ittenhausen bei Wilflingen (wo Jünger wohnte). Das ist im Hinterland vom Bodensee in der Nähe von Sigmaringen. Man kommt durch Ittenhausen, wenn man von Hechingen, wo ich aufgewachsen bin, Richtung Lindau fährt. Das Eck in Ittenhausen gab es zu meiner Zeit noch lange, eine typische obrschwäbische Wirtschaft mit Metzgerei daneben, und die Familie hatte auch in den späten 90ern sehr sympathische und gut aussehende Töchter. Überhaupt: das Oberland Richtung Bodensee, eine Gegend mit freundlichen Menschen ist, die das Leben meist zu genießen wissen.
Heute ist „Das Eck“ bis auf wenige Ausnahmen im Jahr geschlossen. Und das Hesse-Museum in Calw war vor zwei Jahren in einem sehr unbefriedigenden, lieblosen Zustand.
Danke für Deine Anregung, mal wieder Hesse aus dem Regal zu nehmen.
Liebe Grüße aus Tübingen
Norbert
P.S. Ist Hesse heute noch was für einen 15jährigen? Dieser Lockdown tut den Kinder gar nicht gut, auch wenn er notwendig ist. Unser Sohn spielt zu viel online, die Mädchen in seiner Klasse, höre ich, hängen stundenlang jeden Tag in Istagram fest. Was gibt man denen zu lesen?
Lieber Norbert,
obwohl ich am Bodensee aufgewachsen bin, war ich noch nie im Hesse-Haus in Gaienhofen. Wird Zeit, das mal zu ändern …
Ob Hesse heute 15-jährige begeistern kann? Eine pauschale Antwort darauf gibt es wohl nicht. Mir selbst hätten seine Bücher mit 15 sicher nicht gefallen, ich bin erst als junger Erwachsener darauf gestoßen.
Die Seite https://www.buecherkinder.de kennst Du bestimmt, oder? Für mich eines der besten Empfehlungsportale für Kinder- und Jugendbücher. Ansonsten als Tipp von mir: Die Samurai-Serie von Chris Bradford.
Liebe Grüße
Uwe
Was Du ihnen zu lesen geben könntest? Ich würde vorschlagen „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr, was mich im Alter von 12, 13 tief berührte: Es ist ein Buch aus der Sicht eines Kindes (und für ein Kind) beschrieben, was damals in diesem Land passiert und führt sicher zu einer Sensibilisierung (und erste Begegnung) mit dem Thema. Beste Grüße aus Berlin, Uwe (der auch aus dem Süden stammt: Lkr. Freudenstadt, dann Studium in Konstanz).
Hallo Norbert,
auch ich bin ein großer Fan des wunderbaren Kinderbuches „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Doch meine Erfahrung ist, dass 15-jährige Jungen bei den Wörtern „rosa“ und „Kaninchen“ im Titel schon gleich die Schotten dicht machen, egal wie gut das Buch ist.
Ich hätte folgende Empfehlungen, natürlich ohne Gewähr, die in dieser Altersgruppe in den letzten Wochen gut angekommen sind:
1. „El Greco und ich“ von Mark Thompson, mare-Verlag
2. „Blackbird“ von Matthias Brandt, Kiepenheuer & Witsch-Verlag
In beiden Büchern geht es um Freundschaft, Schicksalsschläge, erste Begegnung mit dem Tod, erste Begegnung mit der Liebe in der Zeit zwischen Kind sein und Erwachsen werden.
Beide Bücher sind übrigens auch für Eltern interessant. Wenn sowohl die Jugendlichen, als auch die Eltern die Bücher lesen, steigert das häufig das Interesse und man kommt im Anschluss der Lektüre, wenn es gut läuft, zu wunderbaren Buchgesprächen.
Danke für diesen Textbaustein mit der persönlichen Lektüre-Erfahrung.
Als Jugendlicher und Heranwachsender machte ich einen Bogen um mancherlei Empfehlungen zum Hesse-Lesen.
Später holte ich etwas davon nach. Siddharta wie Narziß und Goldmund haben wohl das Motiv der Wanderschaft gemein, die Lebensreise. Von wo auch immer ausgehend, verwurzelt, entwurzelt, unterwegs sein auf unterschiedlichen Pfaden einschließlich Umwegen oder sogar Irrwegen, mit unterschiedlich gelingendem Ankommen oder möglicher Rückkehr, davon wußte der Autor zu erzählen.
Hesses „Reise nach Nürnberg“ blieb wohl auch nicht so erfüllend, wie er sich dies vorgestellt hatte. Aufgesucht hatte er die mittelalterlich-romantische Version und fand eine expandierende Industrie-Stadt.
„Narziß und Goldmund“ wurde mir vor mehreren Jahren nach dem Tod unserer Mutter ans Herz gelegt. Nun lange ich ins Bücherregal, finde kein angestrichenes Zitat, aber im Verlags-Vorspann die Titel-Variante: „Narziß oder Der Weg zur Mutter“.
Hm, auch in Hesses „Liebesgeschichten“ finde ich keine Anstriche, doch das Lesezeichen bei der Geschichte „Chagrin d’amour“:
„Plaisir d’amour ne dure qu’un moment,
Chagrin d’amour dure toute la vie.
Als er das Lied beendet hatte, verließ Marcel das Schloß, aus dessen Fenstern ihm der helle Kerzenglanz nachfloß. Er kehrte nicht zu den Zelten zurück, sondern wanderte in anderer Richtung aus der Stadt in die Nacht hinein, um der Ritterschaft ledig, als Lautenschläger ein heimatloses Leben hinzubringen.
Die Feste sind verklungen und die Zelte vermodert, der Herzog von Brabant, der Held Gachmuret und die schöne Königin sind seit manchen hundert Jahren tot, niemand weiß mehr von Kanvoleis und von den Turnieren um Herzeloyde. Über die Jahrhunderte hinweg ist nichts übriggeblieben als ihre Namen, die uns fremd und veraltet klingen, und jene Verse des jungen Ritters. Die werden noch heute gesungen.“
(1907) Seite 182-183
Gute Wünsche und schöne Grüße
Bernd
Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar.
Beste Grüße
Uwe