Das Verschwinden der Leichtigkeit

Der Eiffelturm: Steinsockel eines Pfeilers

Braucht man ein großformatiges Buch mit Photos vom Bau des Eiffelturms und mit darin abgebildeten Originalbauplänen? Natürlich nicht. Wozu auch? Konnte ich daran vorbeigehen, als ich es im Schaufenster einer Buchhandlung sah? Auf keinen Fall. Und das hat mit einer Erinnerung zu tun, die schon ziemlich lange zurückliegt, die ich aber niemals vergessen werde. Deshalb ist der Band »The Eiffel Tower« aus dem Taschen Verlag jetzt in meinem Bücherregal eingezogen. Es ist der viersprachige Nachdruck des im Jahr 1900 erschienenen Prachtbands »Gustave Eiffels 300-Meter-Turm« und ein echtes Schmuckstück. Und ich erzähle eine alte Geschichte, die auf eine traurige Weise in unser Heute passt. 

Am Osterdonnerstag 1990 stand ich mit meinem guten Freund Dirk auf der Standspur eines Autobahnkreuzes in der Nähe von Metz. Im Nieselregen. Wir hatten die Idee gehabt, von Freiburg aus über Ostern nach Paris zu trampen – ein Unterfangen, dass sich als etwas komplizierter herausstellte als gedacht. Aber wie immer beim Trampen sind wir irgendwie angekommen; zum Schluss erreichten wir in einem alten R4 die glitzernde Stadt an der Seine. 

Wir waren zu der Zeit beide Zivildienstleistende, Dirk in der Uniklinik Freiburg, ich auf der Pflegestation eines Altenheims. Beide waren wir umgeben von Krankheit, Verfall und Tod – was dazu führte, dass wir nächtelang zusammensaßen und uns Gedanken über das Leben machten. Unser Leben. Und wie wir ihm einen Sinn verleihen konnten. »Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, dass ich gar nicht gelebt hatte.« Als dieser Satz von Henry David Thoreau im Film »Der Club der toten Dichter« fiel, hatte er uns beide mitten ins Mark getroffen. Doch trotz der schweren Themen, mit denen wir uns beschäftigten, lag über alldem eine gewisse Leichtigkeit. Die Leichtigkeit eines Aufbruchs ins Leben mit seinen unendlich vielen Möglichkeiten und offenen Wegen. Wege in Richtung eines Horizonts, der endlos weit entfernt zu sein schien. Eine Leichtigkeit, die uns vollkommen planlos nach Paris trampen ließ, kaum Geld in der Tasche, ohne eine Vorstellung davon, wo und wie wir unterkommen sollten und wie wir uns in einer der – auch damals schon – teuersten Städte Europas versorgen sollten. Es wurde daraus eine billige Absteige in der Nähe des Gard du Nord, es wurden daraus Picknicks auf Parkbänken mit günstigem Rotwein und trockenem Baguette. 

Und warum Paris? Paris war für uns damals mehr als nur eine Großstadt. Es war ein Versprechen. Ein Symbol. Für das Leben, für die Ästhetik, den Stil, für den Aufbruch. Ein Sehnsuchtsort, damals noch weit entfernt von der heutigen Instagramability, die großartige Städte zu bloßen Kulissen degradiert. Langer Rede kurzer Sinn: All das trug uns bis zum Fuß des Eiffelturms. Und jetzt bin ich endlich bei der Geschichte, die ich erzählen möchte. 

Gustave Eiffel/Bertrand Lemoine: The Eiffel Tower. Nachdruck des Bands »Gustave Eiffels 300-Meter-Turm« aus dem Jahr 1900

Der Eiffelturm ist eines der schönsten Bauwerke der Welt, grandios schon alleine wegen seiner vollkommenen Zwecklosigkeit (vom Funkmast auf der Spitze einmal abgesehen), gebaut aus einzig und allein einem Grund: Weil man es konnte. Stahlgewordene Architekturästhetik, ein zeitloses Monument. Andächtig standen wir davor und hatten den großen Wunsch, die Aussichtsplattform auf der Spitze zu besuchen, doch leider reichte dafür unser schmales Reisebudget hinten und vorne nicht. Als wir den gigantischen Turm umrundeten fiel uns etwas auf: In zweien der vier Pfeiler fuhren Aufzüge nach oben, im dritten konnten Sportliche eine Treppe benutzen. Beim vierten Pfeiler war der Eingang verschlossen, im Innern führte ebenfalls eine Treppe nach oben. An dieser Stelle war es seltsam ruhig, der touristische Trubel spielte sich an den drei Eingängen ab – beim vierten Pfeiler war weit und breit kein Mensch zu sehen. Wir schauten uns an, und wer von uns die Idee hatte, kann ich nicht mehr sagen, aber in Windeseile kletterten wir den Granitsockel des Pfeilers nach oben – was leichter ging, als es das obige Beitragsphoto vielleicht vermuten lässt – und schwangen uns über das Treppengeländer. Der vierte Pfeiler des Eiffelturms gehörte uns. 

Es war eine phantastische Erfahrung: Stufe um Stufe erklommen wir die Treppe dieses riesigen Bauwerks, vollkommen alleine, während tief unter uns hunderte von Menschen in den Schlangen anstanden, herumschlenderten oder auf Bänken saßen. Wir fühlten uns unsichtbar, umgeben von zahllosen Stahlträgern, vernietet zu einem Gesamtkunstwerk. Und immerhin sind wir bis zur ersten Plattform gekommen. Hier stoppte eine verschlossene Türe unseren Weg nach oben. Mit einem Taschenmesser stocherten wir in dem Schloss herum, aber leider sprang es nicht wie in einem Film einfach auf. Inzwischen waren von unten bereits mehrere Wachleute im Anmarsch. Sie schauten grimmig. Und wir bekamen eine nicht wirklich unfreundliche, aber sehr bestimmte Eskorte zum Ausgang. 

Warum erzähle ich von diesem – wie man früher gesagt hätte – Dummejungenstreich? Zum einen einfach nur, weil es mir Spaß macht, weil ich mich bis heute gerne daran erinnere und weil jenes Buch im Schaufenster mich wieder direkt zwischen all die Stahlträger katapultierte. Zum anderen aber vor allem deshalb, weil es eine Erinnerung ist, die beispielhaft dafür steht, wie sehr sich unsere Welt seitdem verändert hat. Heute wäre das nicht mehr machbar; ich war schon lange nicht mehr am Eiffelturm, vermute aber, dass ein solch unbefugtes Eindringen – so es denn noch ginge – nun viel ernstere Konsequenzen hätte. Und die Wachmänner Waffen auf uns richten würden.

Für mich steht die spontane Kletteraktion symbolisch für die Leichtigkeit jener Zeit der anbrechenden Neunzigerjahre. Alles schien möglich, der Kalte Krieg war beendet, die Ostblock-Diktaturen waren wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen, die permanente Drohung eines Atomkriegs, mit wir der wir aufgewachsen waren, schien verschwunden, Grenzen öffneten sich, eine Ahnung von Freiheit lag in der Luft. Diese Aufbruchsstimmung fiel zusammen mit dem eigenen Start ins Leben von uns jungen Erwachsenen – es war das überwältigende Gefühl, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Doch es hielt nicht lange an; zu Beginn des Jahres 1991 begannen die Kriege zwischen den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und fast gleichzeitig der Krieg in Kuwait. Das politische Klima begann sich zu wandeln, die Aufbruchsstimmung erhielt immer weitere und größere Risse, bis sie am 11. September 2001 komplett zerbröselt war. 

Seitdem dominieren Terror und Krieg unsere Alltagswahrnehmung, dazu kommen die jährlich dramatischer werdenden Folgen des Klimawandels, die Wiederauferstehung des Nationalismus in Europa und seit dem 24. Februar 2022 die Rückkehr des aggressiven russischen Imperialismus. Der eigentlich schon längst bemerkbar gewesen sein müsste – die brutalen russischen Angriffe in Tschetschenien, Georgien, Syrien und der seit 2014 permanente Kriegszustand im Osten der Ukraine zeigen überdeutlich, welch Despot im Kreml regiert. Ein Despot, der das Ende der Sowjetunion als Niederlage ansieht und nun in seinem revanchistischen Furor Tod und Verderben über die Ukraine bringt. Und damit uns, das freie Europa, massiv bedroht. 

Ja, unsere Welt von heute ist eine gänzlich andere als diejenige, in der zwei Jungs einen Pfeiler des Eiffelturms kurz für sich alleine hatten. Die Unbeschwertheit jener Zeit ist verschwunden – und deshalb habe ich diese Geschichte erzählt. Umgeben von Hiobsbotschaften und zerbrechenden Gewissheiten ist es ein gutes Gefühl, sich daran zu erinnern, dass es einmal anders gewesen war. Jene kurzen Jahre der Sorglosigkeit waren eine grandiose Zeit – wobei mir dies erst jetzt klar geworden ist, denn damals hätte ich es niemals in dieser Art formuliert. Zu sehr waren wir in unseren Gedanken gefangen, was um alles in der Welt wir aus unserem Leben machen sollten. Und vielleicht verkläre ich das alles auch ein bisschen, vielleicht hat es auch mit dem Älterwerden zu tun, aber ich vermisse diese Jahre mit ihrer Leichtigkeit. Ob sie jemals zurückkehren werden? Im Moment sieht es nicht danach aus. Aber wer weiß. 

Doch nach Paris würde ich gerne wieder einmal fahren – und das Buch »The Eiffel Tower« bekommt einen Ehrenplatz im Regal. 

Eiffelturm: Aufstieg zur ersten Plattform

Buchinformationen
Gustave Eiffel/Bertrand Lemoine, The Eiffel Tower 
Nachdruck des Bands »Gustave Eiffels 300-Meter-Turm« aus dem Jahr 1900
Viersprachige Ausgabe
Taschen Verlag
ISBN 978-3-8365-8441-8

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9 Antworten auf „Das Verschwinden der Leichtigkeit“

  1. Ach ich erinnere mich noch genau: ‚Diese Aufbruchsstimmung fiel zusammen mit dem eigenen Start ins Leben von uns jungen Erwachsenen – es war das überwältigende Gefühl, dass sich nun alles zum Guten wenden würde.‘ Ich hatte aber Gluck, dass ich diese Freiheit erlebte (in Rumanien), aber es ist alles nicht ganz so geworden, wie wir es uns erwunschten und wofur wir gekampt haben. Schone Erinnerung!

  2. Was für eine schöne Geschichte und eine schöne wertvolle Erinnerung.
    Eine Kollegin erzählte davon, wie sie auf einer Reise mit einer Freundin im Auto unterm Eiffelturm übernachtete. Sie hatten kein Geld für eine Unterkunft – aber immerhin das Auto. Heute auch nur den Sockel zu Fuß zuerreichen ist ungleich schwerer.

    1. Vielen Dank. Der Zivildienst war in der Tat eine prägende Zeit für mich – und auch wenn ich währenddessen immer wieder darüber geflucht habe, möchte ich ihn in meinem Leben nicht missen.

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