Apokalypse, Sinnsuche und Literatur

Manesse Verlag: Die Apokalypse

Schon seit sieben Jahren möchte ich diesen Beitrag schreiben. Und seit sieben Jahren suche ich dafür die passenden Worte, denn es geht um einen sehr persönlichen Blick auf die Welt: Um Glauben, Religion und Spiritualität. Auch jetzt, in dem Moment, in dem ich beschlossen habe, damit zu beginnen, weiß ich nicht, wohin der entstehende Text mich führen wird. Wieder einmal hat alles mit einem Buch zu tun, diesmal mit einem ganz besonderen: 2016 ist im Manesse Verlag eine Neuübersetzung der Apokalypse erschienen. Ein spannendes Projekt, denn die Offenbarung des Johannes – wie der offizielle Name ja lautet – ist in dieser aufwendig gestalteten Ausgabe eine Art Auskopplung aus der Bibel. Und wird zu einem literarischen Text, kraftvoll, wuchtig, finster und rätselhaft; auf eine surreale Weise dystopisch wie ein fiebriger Traum. Die Übersetzung aus dem Altgriechischen stammt von Kurt Steinmann, der dazu in einem Interview sagte: »Für mich ist die Apokalypse in erster Linie ein bildhaftes und wortgewaltiges Sprachkunstwerk. In seinen ungeheuren Bildern wirkt es beinahe wie eine Antizipation, eine Vorwegnahme der expressionistischen Literatur etwa von Trakl oder Heym.« 

Seit dem Erscheinen steht das Buch bei mir im Regal. Ich habe es längst gelesen und war völlig davon fasziniert, handelt es sich doch um einen Text, der prägend war für die gesamte abendländische Kulturgeschichte, bis in unsere Zeit. Das Wort »Apokalypse« hat sich schon sehr lange verselbstständigt, Bilder wie etwa diejenigen der sieben Siegel, der apokalyptischen Reiter, des kommenden letzten Gerichts oder der Sechshundertsechsundsechzig als Zahl des Teufels haben sich in über tausendneunhundert Jahren tief in unser kollektives Gedächtnis eingegraben. Entstanden ist die Offenbarung des Johannes um das Jahr 90 n. Chr., als Text in die Bibel aufgenommen wurde sie im Jahr 367 n. Chr. Dort wirkt sie mit ihrer drängenden, kraftvollen und mystischen Sprache – die in der Neuübersetzung noch einmal besonders zum Tragen kommt – von Beginn an wie ein Fremdkörper; der Schreiber ist nicht identisch mit dem Verfasser des Johannesevangeliums – aber viel mehr historische Fakten gibt es nicht dazu. Entstanden ist sie vermutlich als eine Art Kampfschrift zur Stärkung der frühen christlichen Gemeinden, deren Mitglieder den Gotteskult um den römischen Kaiser verweigerten und dafür zahllose Repressionen zu erdulden hatten. So ist zum Beispiel jedes Mal, wenn von der »Hure Babylon« und deren Vernichtung die Rede ist, wohl in Wahrheit Rom damit gemeint – eine Verklausulierung, die aber jedem der damaligen Leser klar gewesen sein dürfte. Diese und viele andere Hintergrundinformationen liefert der Manesse-Band mit, der nicht nur den eigenen Horizont erweitert, sondern von Ausstattung und Konzeption her ein wahres Schmuckstück ist; auf sieben Doppelseiten eindrucksvoll illustriert durch den Künstler Daniel Egnéus. 

Wie gesagt, seit sieben Jahren steht das Buch bei mir im Regal. Ich hatte es damals als Rezensionsexemplar erhalten und die Buchvorstellung hätte schon längst geschrieben sein sollen; allein, es ging nicht. Denn auch wenn man den Text der Apokalypse literarisch-kulturgeschichtlich betrachtet, bleibt er doch immer ein Bestandteil der Bibel, Auskopplung hin oder her. Und ich habe gemerkt, dass ich mich nicht damit auseinandersetzen konnte, ohne über das Thema Glaube nachzudenken; es sind ganze Gedankenberge, die ich seit langer Zeit vor mir herschiebe, Gedankenwirbel, die sich ständig im Kreis drehen. Und dieses Buch hier vorzustellen, heißt für mich, auch über diese Gedanken zu sprechen. 

Beginnen wir mit dem menschlichen Dasein. Wie würde ich es beschreiben? Vielleicht so: Alles ist Zufall. Wir entstehen per Zufall aus einem Zellhaufen, werden zufällig in diese Welt geworfen und verlassen sie einige Jahre später, verschwinden wieder im Nichts. Umgeben sind wir von Leere und Sinnlosigkeit, wenn man nicht die Weitergabe des Lebens als einzig möglichen Sinn betrachtet. Eigentlich ganz einfach. 

Doch wenn ich diese Worte lese, steigt aus ihnen eine solche Kälte auf, dass es mich fröstelt. Gehören diese Gedanken wirklich zu mir? Oder sind sie die Attitüde eines Menschen, der anderen gegenüber stets behauptet, nur das zu glauben, was sich beweisen lässt? Gibt es vielleicht nicht doch so etwas wie Schicksal, Vorbestimmung, Fügung? Gott? War es ein Zufall, der mir vor vielen Jahren mein Leben rettete, als ich über die Bahngleise lief, Musik im Kopfhörer und auf nichts achtend – und nur wenige Sekunden später ein Güterzug vorbeidonnerte? War es ein Zufall, der meine Schritte an die Stelle lenkte, an der ich beobachten konnte, wie eine junge Frau über ein Geländer kletterte, um sich in die Tiefe zu stürzen? Und die Polizistin, die ich darauf aufmerksam machte, es verhinderte?

Ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen. Nicht übertrieben, nicht dogmatisch gläubig, aber Dinge wie Tischgebet, Abendgebet, Konfirmation oder die Feiertage des Kirchenjahres waren wichtig. Und natürlich kann ich bis heute das Vaterunser auswendig, den 23. Psalm mitsprechen und bin bei Weihnachtsliedern recht textsicher. Es war eine Art ritualisierte Frömmigkeit, die erfüllt war von einem tiefen Ernst und dem Leben in der Kindheit eine unbewusste Sicherheit verlieh. Der Generation meiner Großeltern und meiner Eltern hat sie vielleicht auch über die Katastrophen hinweggeholfen, die ihr Leben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben.  

Mit dem Älterwerden verlor diese Sicherheit für mich ihre Bedeutung, und obwohl ich es respektiere, sogar bewundere, wenn Menschen aus ihrem Glauben eine Kraft ziehen, die ihrem Leben einen Sinn gibt, habe ich diesen Weg irgendwann verloren. Oder bin von ihm abgebogen, um aus der Entfernung einen Blick auf ihn zu werfen. Je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto mehr kamen mir Glaube und Religion wie Kulissen vor, die Menschen benötigen, um die kalte Leere des Zufalls auszuhalten. Desto mehr ist mir bewusst geworden, wie eng Religion und Macht miteinander verknüpft sind – ein Ausbruch aus diesem System erschien mir nur folgerichtig. Und wir können dabei froh sein, in einem Land zu leben, in dem dies ohne Lebensgefahr möglich ist. 

Doch vielleicht sollte man Glaube und Religion ohnehin getrennt voneinander betrachten. Denn die Sinnfrage bleibt, auch wenn ich mich irgendwann – vielleicht aus purer Bequemlichkeit – dazu entschieden hatte, einen Sinn einfach komplett abzustreiten. Vielleicht ist das Kokettieren mit der Sinnlosigkeit des Daseins auch ein Überbleibsel aus der Zeit der jungen Jahre; aus einer Zeit des Aufbruchs, in der das Leben endlos vor einem ausgebreitet schien. Seit langem habe ich mich nicht mehr damit beschäftigt, mir das zumindest eingeredet. Aber es stimmt nicht. Denn die Frage nach einem Lebenszweck lässt sich nicht einfach so abschalten. Und eine Antwort auf die unterschwellig drängende Frage habe ich nicht gefunden, dafür aber in der Literatur zahllose Verbündete bei der Suche nach jenem Lebenszweck. Ein Satz, der sich mir besonders eingeprägt hat, stammt aus dem grandiosen Roman »Mehr als wir sind« von Jürgen Neffe: »Am Ende zählt allein die Frage, ob wir leben mussten oder durften. Das Übrige sind Details.« 

Überhaupt beschäftigen sich manche Texte hier um Blog mit Verlust und Abschied. Mit dem Älterwerden, denn die Tage des Aufbruchs in das Leben sind schon längst Vergangenheit. Mit dem, was bleibt, wenn Menschen gegangen sind. Und wenn ich bei Abschieden schreibe, dass wir uns auf der anderen Seite sehen, dann ist das für mich keine Floskel, sondern Ausdruck einer irrationalen Hoffnung. Einer Hoffnung, die nichts zu tun hat mit dem kalten Glauben an das Nichts. 

Eingangs hatte ich angekündigt, dass ich nicht wisse, wohin mich dieser Text führen würde. Und tatsächlich drehen sich die Gedanken im Kreis, sie klingen etwas konfus und nichts ist klarer geworden – aber es hat gutgetan, dies alles einmal aufzuschreiben. Die Suche geht jedenfalls weiter und vielleicht gibt es ja einen Gott irgendwo dort draußen, wer weiß. Vielleicht aber auch nicht. Und jeder von uns wird dies eines Tages feststellen. Feststellen müssen.

Auf jeden Fall ist es spannend, was für ein Gedankenkarussell ein einzelnes Buch auslösen kann. Alleine schon deshalb ist für mich ein Leben ohne Literatur und ohne das geschriebene Wort schlicht und ergreifend undenkbar.

Und sinnlos. 

Buchinformation
Die Apokalypse
Aus dem Altgriechischen neu übersetzt von Kurt Steinmann
Mit Illustrationen von Daniel Egnéus
Manesse Verlag
ISBN 978-3-7175-9028-6
Der Titel ist leider nur noch antiquarisch erhältlich, dürfte aber auf den einschlägigen Plattformen ohne Probleme zu finden sein.

5 Antworten auf „Apokalypse, Sinnsuche und Literatur“

  1. Ein Artikel, den ich sehr fühle, weil er genau meinen Gedankengängen entspricht. Außerdem entfachst du Neugierde auf diese Manesse-Ausgabe, denn tatsächlich ist mir das ganze Apokalypse-Thema letztens erst wieder in einer Fernsehserie untergekommen, und ich sollte mich doch mal mit dem tatsächlichen Ursprung beschäftigen, quasi als Sachbuch. Vielleicht eine Gelegenheit?
    Danke jedenfalls fürs Teilen deiner persönlichen Sinnsuche!

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