Papiergewordene Geschichte, Teil zwei

Papiergewordene Geschichte, Teil zwei

Im Blogbeitrag »Papiergewordene Geschichte« habe ich vor einiger Zeit alte Bücher aus meinen Buchregalen vorgestellt, die für mich besondere Schätze sind. Nicht, weil sie besonders wertvoll wären, sondern weil sie als Objekte schon selbst Geschichten erzählen – und dadurch ein Stück papiergewordene Geschichte darstellen, vollkommen unabhängig vom Inhalt. Es sind Bücher, die schon seit Jahrzehnten durch die unterschiedlichsten Hände gegangen sind, die historische Umwälzungen überlebt haben und nun durch die Zeiten hindurch zu uns sprechen. Hier kommt die zweite Runde dieser Buchschätze.

Thomas Mann: Buddenbrooks, Volksausgabe  1930, S. Fischer Verlag, Berlin

Thomas Mann: Buddenbrooks, Volksausgabe 
1930. S. Fischer Verlag, Berlin

Ich muss gestehen, dass ich noch nie etwas von Thomas Mann gelesen habe, auch wenn »Der Zauberberg« und diese Ausgabe von »Buddenbrooks« schon lange auf die Lektüre warten. Die damals so genannte »Volksausgabe« war ein verlegerisches Projekt, das auf Drängen des Autors zustande kam. Dabei war der 1901 erschienene Roman »Buddenbrooks« schon davor ein riesiger Erfolg, bereits 1918 wurde die 100. (!) Auflage gedruckt. Als dann Thomas Mann 1929 den Literaturnobelpreis erhielt, wurden in einer einzigen Woche eine Million Exemplare verkauft. Die preisgünstige Volksausgabe, die sich auch Menschen mit einem geringerem Einkommen leisten konnten, steigerte den Absatz noch einmal um eine heute kaum noch vorstellbare Menge: Allein in Berlin wurden am Erscheinungstag vierzig Lastwagen benötigt, um das Buch an die Buchhandlungen der Stadt auszuliefern. Gedruckt wurde der abgebildete Band der Volksausgabe in der Druckerei des Bibliographischen Instituts in Leipzig. Und bei dieser Angabe im Buch springt bei mir das Kopfkino an: Denn zu jener Zeit war das Graphische Viertel in Leipzig – die Gegend östlich der Innenstadt – das absolute Zentrum der Buchherstellung. Nie wieder danach gab es eine so große Ballung von Unternehmen des Buchgeschäfts; über 800 Verlage, Druckereien, Buchbindereien, Satzbetriebe und Buchhandlungen waren in Leipzig ansässig. Tausende Menschen arbeiteten und lebten im Graphischen Viertel, es gab einen eigenen Bahnhof, Mietshäuser standen neben prächtigen Verlagsgebäuden. Ich stelle mir vor, wie hunderttausende Exemplare der Buddenbrooks-Volksausgabe in diesem Viertel entstanden, wie die Buchblöcke zur Buchbinderei transportiert wurden, wie Lastkraftwagen sie zu den Bahngleisen brachten, damit sie von dort noch in die entferntesten Ecken des Landes geliefert werden konnten. All diese Bilder stecken für mich in diesem Exemplar jener Sonderausgabe, das immer noch da ist. Während das Graphische Viertel dreizehn Jahre später in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs verschwand und heute nur noch als Mythos existiert. 

Julius R. Haarhaus: Die da zween Herren dienen, 1919, Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig

Julius R. Haarhaus: Die da zween Herren dienen
1919. Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig

Mythos Graphisches Viertel. Seit meiner Zeit in Leipzig fasziniert mich die Geschichte dieses Stadtteils. Dabei findet man kaum Literatur dazu, einen guten Einstieg in das Thema bietet der Band »Der Leipziger Gutenbergweg« von Sabine Knopf und Volker Titel, mit dem ich mich einmal auf die Suche nach den wenigen Spuren begeben habe. Kaum etwas ist noch vorhanden, die Gegend wirkt heute seltsam leer, durchzogen von ein paar breiten Straßen; eine urbane Ödnis. Und seltsamerweise gibt es so gut wie keine Photos aus der großen Zeit des Graphischen Viertels. Natürlich existieren Bilder der wichtigen Druckerei- und Verlagsgebäude, aber Photographien der Häuser und Straßen, der Menschen, des Verkehrs und der regen Betriebsamkeit sucht man vergebens. Historische Bilder des alten Leipzigs klammern das Graphische Viertel fast vollkommen aus. Daher ist der Roman »Die da zween Herren dienen« immerhin die Möglichkeit, Bilder im Kopf entstehen zu lassen, denn – untertitelt als »Verlegerroman« – handelt er vom Graphischen Viertel. Ich habe ihn auf einer Literaturliste zum Thema entdeckt und dann tatsächlich in einem Leipziger Antiquariat gefunden. Der Autor Julius Haarhaus war seinerzeit Lektor im Reclam Verlag Leipzig und verfasste etliche Romane, die heute allesamt vergessen sind. Aber er hat in »Die da zween Herren dienen« das Graphische Viertel als Augenzeuge beschrieben und das macht das Buch zu einem Zeitdokument und für mich so besonders. Eine kurze Kostprobe: »Die Uhr der Johanniskirche verkündete die sechste Stunde, und wenige Augenblicke später schwoll der Straßenverkehr im Buchhändlerviertel zur Hochflut an: aus all den großen und kleinen graphischen Betrieben strömten, des Feierabends froh, in Scharen fleißige Angestellte und Arbeiter, mischten sich untereinander, stauten sich an den Haltestellen der Straßenbahnen oder schlenderten in gemächlichem Schritt über den Grimmaischen Steinweg und den Augustusplatz der inneren Stadt zu.« Allein diese kurze Szene lässt eine Stadt auferstehen, die verschwunden ist. An dem beschriebenen Ort sind heute vor allem Autos unterwegs; die Johanniskirche hat erst die Bombennächte und dann die Zerstörungswut des DDR-Regimes nicht überstanden. 

Nachtrag, Februar 2023: Kai Meyer hat in seinem Roman »Die Bücher, der Junge und die Nacht« das Graphische Viertel wiederauferstehen lassen und setzt es schön-schaurig in Szene. Große Leseempfehlung.

Anatolij Rybakow: Menschen am Steuer, 1952, Bibliothek fortschriftlicher deutscher Schriftsteller, Aufbau Verlag, Berlin

Anatolij Rybakow: Menschen am Steuer
1952. Bibliothek fortschriftlicher deutscher Schriftsteller/Aufbau Verlag, Berlin

Noch einmal Leipzig, denn dieses Buch habe ich dort bei einer Wohnungsauflösung gefunden. Es war die Wohnung von Verwandten einer Freundin, die leergeräumt wurde; sie hatten viele Jahre darin gelebt und das Buchregal war gut gefüllt. Den Namen Rybakow kannte ich bis dahin nicht, mich interessierte vor allem die Aufmachung des Buches. Der Reihentitel lautete: »Bibliothek fortschriftlicher deutscher Schriftsteller« – wobei Anatolij Rybakow ein Ukrainer war, der in der Sowjetunion auf russisch publizierte. Im Vorsatzblatt steht die Erklärung: »Die Bibliothek fortschriftlicher deutscher Schriftsteller wird herausgegeben aufgrund der Kulturverordnung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. März 1950. Im Rahmen dieser Bibliothek erscheint eine Reihe fortschrittlicher ausländischer Schriftsteller. Leitung des Redaktionskollegiums: Willi Bredel.« Bredel war der Präsident der Akademie der Künste der DDR. Auf der Seite davor steht in das Buch hineingestempelt: »In Anerkennung Deiner vorbildlichen Produktionsleistungen«, dazu eine unleserliche Unterschrift, der Name eines VEB-Betriebs und das Datum »Leipzig, 1. Mai 1954« – eine Gabe zum Arbeiterkampftag also. Das alles zusammen ist ein spannendes Zeugnis aus der Frühzeit der DDR, eine unnachahmliche Mischung aus piefig-deutscher Bürokratie und sozialistischem Fortschrittsglauben – gestempelt nicht einmal ein Jahr nach den blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufständen vom 17. Juni 1953, bei denen eine Diktatur ihr wahres Gesicht gezeigt hat. 

Der kleine Herder. Nachschlagebuch über alles für alle, 1925, Herder & Co. G.m.b.H. Verlagsbuchhandlung

Der kleine Herder. Nachschlagebuch über alles für alle
1925. Herder & Co. G.m.b.H. Verlagsbuchhandlung, Freiburg i. Br.

Als Kind und Jugendlicher habe ich es geliebt: In Lexika nach einem Begriff zu suchen, dabei auf vollkommen andere Schlagworte zu stoßen, sich festlesen, sich treiben lassen und dabei fast vergessen, was man eigentlich nachschauen wollte. Im elterlichen Bücherregal stand bei uns das einbändige Lexikon »Der kleine Herder« aus dem Jahr 1925. Es war vermutlich eine Anschaffung meiner Großeltern gewesen, und natürlich hat es niemand mehr benutzt. Aber es war eben noch da und ich fand es faszinierend, damit in eine andere Zeit einzutauchen, durch das gesammelte Wissen des Jahres 1925 zu streifen und konnte Stunden damit verbringen – nicht zuletzt diesem Buch habe ich es zu verdanken, dass mir das Lesen von Frakturschrift keinerlei Probleme bereitet. Und immer wieder gab es dabei überraschende Entdeckungen, Textstellen, die sich nach einer vollkommen anderen Welt anhörten – und das war sie ja auch gewesen. Ein Eintrag, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist, bestand aus ein paar wenigen Zeilen:

»Hitler, Adolf, * 20. 4. 1889 zu Braunau (Oberöstr.); gründete 1919 die Nationalsozialist. Dtsch. Arbeiterpartei, machte sie, u. a. durch seine Redefertigkeit, zu einer nam. in Bayern mächtigen Volksbewegung gegen die Republik, den Friedensvertrag und das Regierungssystem, rief 8. Nov. 23 in München die ›nationale Revolution‹ u. ein Direktorium aus, der Staatsstreich tags darauf niedergeschlagen u. H. am 1. 4. 24 zu 5 Jahren Festung wegen Hochverrats verurteilt, Dez. 24. begnadigt.«

Mehr ist dort noch nicht zu lesen über den Menschen, der nur wenige Jahre später zum personifizierten Bösen werden sollte und dabei all das Schlechte entfesseln würde, das unter der dünnen zivilisatorischen Kruste eines Volkes schlummerte. Aber dies konnte der Redakteur des Lexikons noch nicht ahnen, als er den Eintrag verfasste, in dem – vielleicht bilde ich es mir nur ein – eine leise Sympathie mitzuschwingen scheint. 

Emil Ludwig: Napoleon, 1926, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin

Emil Ludwig: Napoleon
1926. Ernst Rowohlt Verlag, Berlin

Emil Ludwig war einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren der Zwanzigerjahre, seine erzählerischen Biographien berühmter Persönlichkeiten erreichten Millionenauflagen und sein Name hatte den gleichen Bekanntheitsgrad wie etwa Stefan Zweig oder Lion Feuchtwanger. Während die Werke der beiden letztgenannten auch heute noch gedruckt und gelesen werden, ist Emil Ludwig nahezu vergessen. Zeit seines Lebens war er aufgrund seiner spekulativen Erzählweise von der konservativen Historikerzunft angefeindet worden; einige seiner Werke landeten 1933 auf den Scheiterhaufen der brennenden Bücher. Von der Schweiz aus griff er ab 1933 die Nationalsozialisten scharf an – und musste schließlich Europa aus Sicherheitsgründen verlassen. Mir war zwar sein Name vage bekannt, aber ich wusste nichts über sein Werk. Als ich in einem Antiquariat auf seine Napoleon-Biographie stieß, konnte ich aus Neugier nicht daran vorbeigehen. Ludwigs Schreibstil mit seiner Betonung des Schicksalhaften klingt heute etwas antiquiert, ihm fehlt die literarische Eleganz eines Stefan Zweigs oder eines Lion Feuchtwangers. Doch eines seiner Bücher im Regal stehen zu haben, ist ein Stück Geschichte zum Anfassen – zumal es eine emotionale Widmung enthält. Sie lautet: »Zum Andenken an Horst Rosenkampff – seinem verehrten Dr. Kurt Sachs als letzte Anerkennung für seinen großen Beweis von Freundschaft von seiner Braut Charlotte Große.« Datiert ist diese geheimnisvoll klingende Widmung vom 10. Mai 1927. Ich mag es sehr, solche Spuren in alten Büchern zu finden. Spuren, die an Menschen erinnern, die diese Bücher in den Händen hielten. Spuren, die sich im Dunkel der Geschichte verlieren. So wie das Werk des einst berühmten Autors.

John Dos Passos: Manhattan Transfer, 1927, S. Fischer Verlag, Berlin

John Dos Passos: Manhattan Transfer – Der Roman einer Stadt
1927. S. Fischer Verlag, Berlin

Unter den unzähligen New-York-Romanen nimmt »Manhattan Transfer« eine Sonderstellung ein, denn mit diesem literarischen Experiment setzte der Autor seinerzeit neue Maßstäbe. Die unterschiedlichsten Figuren treten darin auf, manche begleiten die Leser über viele Jahre, manchen begegnet man nur ein einziges Mal. Einige Schicksale verknüpfen sich miteinander, andere hinterlassen kaum einen Fußabdruck. Doch die Stadt New York ist omnipräsent in der Erzählung, sie wächst und wächst, verändert sich – und ist dabei die Konstante der Romanhandlung. Eingeflochten sind Nachrichtenschnipsel, aktuelle Meldungen oder einzelne Schlagzeilen: Diese von Dos Passos perfektionierte Collagentechnik sorgt für eine unnachahmliche Authentizität der Romanhandlung, die sich in unzählige einzelne Stränge zerfasert. Es ist ein großartiges Werk und das Exemplar in meinem Regal ist die Erstauflage der deutschen Übersetzung von Paul Baudisch; erschienen ist das Buch 1927 bei S. Fischer. Die Modernität des Werkes spiegelt sich in der klaren Umschlagsgestaltung wider, und um sie auch im Innenteil zu unterstreichen, wurde vermutlich ganz bewusst auf die Verwendung einer Frakturschrift verzichtet und eine Antiquaschrift verwendet. Dies war zwar seinerzeit nicht ganz unüblich, gerade bei modernen Stoffen, ist aber in diesem Fall ein schönes Detail. Wie dieses Schmuckstück in mein Regal gekommen ist, habe ich bereits vor ein paar Jahren hier erzählt – es ist die Kaffeehaussitzer-Weihnachtsgeschichte

Das ist also der zweite Blogbeitrag über Bücher, die selbst Geschichten erzählen. Sie in den Händen zu halten und in ihnen zu blättern, ihre Kratzer und Narben zu befühlen und den Geruch alten Papiers einzuatmen, fühlt sich an wie eine Reise zurück in die Zeit. Es sind Echos der Vergangenheit, geheimnisvoll und lebendig. Oder, wie ich schon im ersten Teil geschrieben hatte: Bücher sind nie einfach nur gedruckte Texte, sie sind Objekte der Epochen, in denen sie veröffentlicht wurden. Sie überdaueren ihre ursprünglichen Besitzer und gerade ihre Gegenständlichkeit macht sie zu etwas Besonderem.

4 Antworten auf „Papiergewordene Geschichte, Teil zwei“

  1. Wenn ich deine Beiträge lese, dann nehme ich mir Zeit, denn wie bei dem heutigen Post sind sie so voller Information und auch Inspirationen.
    Aktuell erfasse ich alle meine Bücher in einem Programm und mir fallen auch kleine Schätze in die Hand. Wie du schon selber sagtest, Schätze die mir wichtig sind.
    Zum Beispiel “ Die Armee der Kinder“ von E. Rhodes. erschienen 1990 . Noch nie hatte ich von diesem Kinderfeldzug gehört und ich war sehr erschüttert , als ich über dieses historische Ereignis las.
    Die Buddenbrocks habe ich nicht gelesen, aber als Kind ( 1979 ) im Fernsehen gesehen und war total fasziniert von dieser anderen Zeit. Volker Kraeft als Thomas Mann hatte mich vollkommen in seinen Bann gezogen.
    Liebe Grüße
    Britta

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