Georg Trakl war eine der tragischsten Dichterpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Zeit seines Lebens zutiefst depressiv, ein Getriebener, ein verzweifelt Suchender, schuf er mit seinen expressionistischen Gedichten Monumente schriftgewordener Ängste. Wie so viele andere Künstler wurde er vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrollt und fand sich im Herbst 1914 als Sanitätssoldat des österreichisch-ungarischen Heeres an der galizischen Front wieder. Die Kämpfe waren blutig und verlustreich, die Fratze des modernen Krieges hatte sich erhoben und Trakls Lazarett war nach der Schlacht von Grodek überfüllt mit Schwerverwundeten, Menschen mit weggeschossenen Gliedmaßen, zerfetzten Körpern und Gesichtern, Räume voller Blut, Tod und tiefster Verzweiflung. »Sterbende Krieger, die wilde Klage Ihrer zerbrochenen Münder.«
Auch ein weniger psychisch labiler Mensch wie Georg Trakl hätte hier die Grenzen seiner Belastbarkeit überschritten. Er erlitt einen völligen Nervenzusammenbruch und versuchte, diese traumatischen Erfahrungen in seinem Gedicht »Grodek« zu verarbeiten. Er ist eines seiner bekanntesten Werke geworden.
Doch die seelischen Wunden saßen nach diesen Erlebnissen zu tief, einen Ausweg aus der Düsternis gab es für ihn nicht mehr. In der Nacht vom 2. zum 3. November 1914 hat sich Georg Trakl das Leben genommen. Seine Gedichte haben ihn überdauert, bis zum heutigen Tag. Und »Grodek« ist zum literarischen Denkmal für alle Opfer des großen Abschlachtens geworden, das mit bewegenden Worten die Sinnlosigkeit und Brutalität des Krieges anprangert. Das Gedicht hat nichts von seiner Gültigkeit und Aktualität verloren, auch 100 Jahre später nicht.
Thematisch passt es zum Leseprojekt Erster Weltkrieg auf Kaffeehaussitzer. Vor allem aber sei es Georg Trakl und der unzähligen namenlosen Opfer zu Gedenken heute und hier zitiert. Dass die hundertjährige Wiederkehr dieses Tages genau auf Allerseelen fällt, ist dabei ein mehr als passender Zufall.
Grodek
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunklen Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.
Ein Gedicht, das unter die Haut geht. Dabei hatte bei seiner Entstehung das vierjährige Morden gerade erst angefangen.
Buchinformation
Georg Trakl, Die Dichtungen
Insel Taschenbuch
ISBN 978-3-458-32856-8
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Die Lyrik von Trakl und anderer «expressionistischer Dichtern» als unverzichtbaren Teil des Leseprojektes Erster Weltkrieg zu sehen, halte ich für sehr angebracht. Danke für diesen Beitrag. Ich selbst habe vor kurzem die von Kurt Pinthus zusammengestellte Anthologie Menschheitsdämmerung als bedeutendes Zeitdokument der Jahre 1914-18 wiederentdeckt. Auch dort nehmen die Gedichte Trakls breiten Raum ein. http://lustauflesen.de/menschheitsdaemmerung/
lg_jochen
Oh ja, „Menschheitsdämmerung“ ist eine sehr lesenswerte Anthologie, eigentlich schon selbst ein Klassiker. Vielen Dank für den passenden Hinweis.