Aufgestanden ist er, welcher lange schlief

Georg Heym: Der Krieg. In: Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung

Der Krieg
Georg Heym, 1911

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.

Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.

Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.

Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.

In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.

Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.

Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Was für ein Gedicht. Georg Heym schrieb es 1911, drei Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs. Ein rußgeschwärzter Riese, der wie eine unaussprechliche Monstrosität aus dem Dunkel erscheint, den Mond in seiner unbarmherzigen Hand zerdrückt und damit das Signal gibt für den Beginn des Weltenbrands. Der wie ein Köhlerknecht mit seinem Stab die alles verschlingenden Feuer anfacht, wieder und wieder. Das Grauen, in Worte gefasst.

Vier Monate, nachdem er das Gedicht vollendet hatte, ertrank der Autor beim Schlittschuhlaufen in der Havel. Das jahrelange Gemetzel, das nicht lange danach die Welt verändern würde, sollte er nicht mehr erleben, »Der Krieg« wurde posthum veröffentlicht. War es eine Prophezeiung? Lange wurde es als solche gelesen; sein gesamtes kurzes Leben litt der Autor an den starren gesellschaftlichen und familiären Verhältnissen, sein dichterisches Werk ist ein einziger Ausbruch aus einer Welt, die er dem Untergang geweiht sah.

Heute gilt Georg Heym als eine der wichtigen Stimmen der frühen expressionistischen Dichtkunst. In der berühmten Anthologie »Menschheitsdämmerung«, die 1919 von Kurt Pinthus im Rowohlt Verlag herausgegeben wurde, sind dreizehn Gedichte von ihm enthalten. »Menschheitsdämmerung« dürfte eine der wichtigsten Lyriksammlungen der deutschsprachigen Literaturgeschichte sein, in ihr ist alles vereint, was Rang und Namen in der expressionistischen Dichtung hat; die Anthologie steht exemplarisch für den Aufbruch der Literatur in die Moderne. 2019 erschien bei Rowohlt eine Sonderausgabe zum hundertjährigen Veröffentlichungsjubiläum – und auch ein Jahrhundert später ist »Der Krieg« ein düsteres literarisches Glanzstück dieser Sammlung.

Ich weiß nicht mehr, wann ich Georg Heyms Gedicht zum ersten Mal gelesen habe. Vermutlich war es während meiner Schulzeit – und auch wenn mein damaliger Deutschunterricht darauf angelegt zu sein schien, uns Schülern jegliches Interesse an Literatur auszutreiben, hat sich mir der erste Satz dieses Gedichts eingeprägt wie selten ein Text in jener Zeit. Zusammen mit dem Bild des zerdrückten Mondes und der völligen Hoffnungslosigkeit angesichts der entfesselten Gewalt trafen mich diese Zeilen damals mitten ins Herz. Es waren die Achtzigerjahre, der Kalte Krieg bestimmte das Bewusstsein und meine Teenagerzeit war geprägt von dem Gefühl, das Ende der Welt könne jeden Tag anbrechen. Viele Jahre waren diese Ängste verschwunden, doch angesichts der Ereignisse in der Ukraine sind sie wieder da, wie eine Drohung, die aus dem Dunkel kriecht. Die Journalistin Iris Radisch bringt es in der ZEIT auf den Punkt: »Wie eine uralte Flaschenpost taucht diese Angst aus den Gefühlsarchiven der Geschichte wieder auf.«

Und die elf Strophen des Gedichts lösen erneut ein tiefes Schaudern aus. Wir sehen Bilder von zerbombten Häusern, Raketeneinschlägen, ausgebrannten Fahrzeugen und von unzähligen Menschen auf der Flucht – der despotische Herrscher einer Großmacht überfällt sein Nachbarland. Was nach einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit klingt, ereignet sich fast direkt vor unserer Haustüre. 

»Auferstanden ist er, welcher lange schlief.« Ist ein Schemen in der Dämmerung auszumachen, ein Schatten in der Nacht?

Dabei ist die Formulierung »welcher lange schlief« nicht richtig, denn verschwunden war er nie: Irgendwo wurde immer Krieg geführt in den letzten Jahren. Putins Armee konnte zuletzt in Syrien viel Erfahrung darin sammeln, Städte, Krankenhäuser, Infrastruktur in Grund und Boden zu bombardieren und unendliches Leid über die Menschen zu bringen. Nun wurde die Spirale der Gewalt weitergedreht, denn weltpolitisch hat sich seit dem 24. Februar 2022 alles verändert; das Datum von Putins Überfall auf die Ukraine wird sich so tief ins kollektive Gedächtnis einbrennen wie der 9. November 1989 oder der 11. September 2001

Was wird nun geschehen? Niemand kann es sagen, die Menschen in der Ukraine leiden täglich mehr, sind Opfer einer unerbittlichen Kriegsmaschinerie, die – wenn sie nicht siegen kann und es keine diplomatische Lösung gibt – das Land in ein riesiges Trümmerfeld verwandeln wird. 

Ich versuche bewusst, nicht von einem russischen Angriff zu sprechen, sondern von einer Aggression, die von Wladimir Putin und seiner Marionettenregierung ausgeht. Von einem Mann, der zunehmend diktatorischer agiert, der keine andere Meinung als die seine duldet und sich Tag für Tag weiter von der Realität entfernt. Wir alle sollten großen Respekt vor den Menschen haben, die es in Russland wagen, Protest gegen Putins Angriffskrieg – ein Wort, das dort bei Strafe niemand verwenden darf – zu äußern und sogar dagegen auf den Straßen zu demonstrieren. Denn dies ist eine weitere europäische Tragödie: Erst die Knute der Zaren, dann die kommunistische Gewaltherrschaft, später die Kleptokratie der Oligarchen und jetzt ein kriegstreibender Diktator – seit über hundert Jahren wird das russische Volk um seine Zukunft betrogen.

Noch ein Wort zum Titel der expressionistischen Gedicht-Anthologie, aus der ich Georg Heyms »Der Krieg« zitiert habe. Auf den ersten Blick wirkt der Titel »Menschheitsdämmerung« apokalyptisch, vermittelt eine Endzeitstimmung. Das Buch ist allerdings erschienen, als das Gemetzel des Ersten Weltkriegs überstanden war – und jeder neue Tag wird ebenfalls von einer Dämmerung eingeleitet. Und vielleicht sind die furchtbaren Geschehnisse der letzten Zeit der Anfang vom Ende eines gewalttätigen Regimes, vielleicht wird durch den Schulterschluss der freien Welt und die damit verbundenen Wirtschaftssanktionen der Druck so groß, dass Putins Macht zerbröselt und wir eine zweite russische Revolution erleben – die Morgenröte einer neuen Zeit. Hoffen wir das Beste, auch wenn es momentan noch so unwahrscheinlich klingen mag.

Den Menschen in der Ukraine nützen solche theoretischen Überlegungen und Wunschvorstellungen allerdings nichts. Sie benötigen unsere Unterstützung. Jetzt. 

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#StandWithUkraine

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