Eine Weile habe ich überlegt, ob dieser Text in einen Literaturblog passt, denn mit Literatur hat er nichts zu tun – außer dass er im März 2021 im Buchhandels-Kundenmagazin KUDU erschienen ist. In der Rubrik »Ein Photo und seine Geschichte« erzählte ich dort, was ein Bild der North Bridge in Edinburgh für mich so besonders macht. Es geht darin um ein Erlebnis, das mir seit bald drei Jahrzehnten nicht mehr aus dem Kopf geht – und deshalb veröffentliche ich den Text nun auch hier auf Kaffeehaussitzer, inklusive einer englischen Übersetzung. Und vielleicht erhalte ich ja irgendwann doch noch eine Antwort auf die Frage, mit der dieser Beitrag endet.
North Bridge
Das Schwarzweißphoto sieht aus wie ein leicht unscharfer, etwas überbelichteter Urlaubsschnappschuss. Aber mit diesem Bild ist eine Erinnerung verknüpft, die mich schon sehr lange begleitet und nie wieder losgelassen hat. Zu sehen ist die North Bridge in Edinburgh; sie verbindet die Altstadt mit der New Town. Im August 1994 bin dort entlanggelaufen, ging staunend durch diese wunderschöne Stadt, war vollkommen begeistert von der düster-prächtigen Atmosphäre der wuchtigen, alten Gebäude.
Als ich auf die North Bridge kam, war ich wohl der einzige in diesem Moment, der über die Brüstung schaute. Sie ist zum einen sehr hoch, wie man auf dem Bild erkennen kann. Und zum anderen gibt es unter der Brücke außer den Gleisanlagen und Gebäuden des Hauptbahnhofs nicht viel zu sehen. Am Ende der Brücke, vor dem Haus mit den zwei kleinen Türmchen rechts und links, ist eine schmale Terrasse; der Zugang ist direkt neben der North Bridge und unter ihr geht es etwa zwanzig Meter in die Tiefe.
In dem Moment, als ich über die Brüstung der Brücke auf diese Terrasse schaute, kletterte dort ein Mädchen, eine junge Frau über das Terrassengeländer. Sie war vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt, hielt sich am steinernen Geländer fest und stand auf dem fußbreiten Sims davor, tief unter ihr eine Zufahrtsstraße zum Bahnhof. Mein erster Gedanke war, hey, die drehen dort einen Film. Aber fast gleichzeitig fiel mir auf, dass nirgends ein Filmteam, Kameras oder Mikrophone zu sehen waren. Überhaupt achtete keiner der zahlreichen Passanten auf das, was sich unmittelbar neben der Straße, neben dem Fußweg abspielte. Dann begann sich das Mädchen zu bekreuzigen, wieder und immer wieder, nur noch mit einer Hand klammerte sie sich an das Steingeländer. Da endlich wurde mir klar, was sie vorhatte. Was tun? Ich drehte mich hilfesuchend um und genau in diesem Moment lief eine Streifenpolizistin an mir vorbei. Ich hatte mein holpriges »Excuse me, look over there« kaum ausgesprochen, während ich zur Terrasse hin gestikulierte, da riss sie das Sprechfunkgerät hoch, sagte etwas und nur wenige Sekunden später – zumindest in meiner Erinnerung – kamen drei, vier, fünf Polizisten aus allen möglichen Richtungen angerannt, versuchten, dabei nicht zu viel Aufsehen zu erregen, um das Mädchen nicht zu erschrecken. Sie war noch dabei, sich zu bekreuzigen, schneller und schneller, schaute dazwischen immer länger nach unten, hielt sich nach wie vor bloß mit einer Hand fest, beugte sich nach vorne, eine kleine, letzte Bewegung nur – dann wäre alles vorbei gewesen.
Inzwischen hatte einer der Polizisten geduckt die Terrasse betreten, näherte sich sachte, aber schnell dem Mädchen. Ein Griff und er hatte ihren Arm gepackt; sofort waren die anderen bei ihm und zogen sie gemeinsam über das Geländer zurück. Ein kurzes Getümmel, Menschen, die neugierig stehen blieben, ein Polizeiwagen, dann war alles vorbei.
In meinen Gedanken sehe ich das alles wie in Zeitlupe ablaufen, endlos; dabei dürften es nur wenige Minuten gewesen sein. Ich bin dann einfach weitergegangen, aber diesen Moment auf der North Bridge in Edinburgh habe ich nie vergessen. Am nächsten Tag war ich noch einmal dort, um ein Photo der Brücke zu machen. Während ich dies schreibe, liegt es neben mir. Das Mädchen müsste nun eine Frau Anfang vierzig sein und ich frage mich oft, wie es ihr wohl ergangen ist, was sie heute macht.
Erfahren werde ich es wohl nie.
North Bridge
(translated by Bradley Alan Schmidt)
The black and white photo looks a slightly blurry, somewhat overexposed vacation snapshot. But this picture is tied to a memory that has accompanied me for a very long time, never letting me go. It shows the North Bridge in Edinburgh, which connects the Old Town with the New Town. I walked across it in August, 1994, marveling at this beautiful city, completely enthralled by the somber and magnificent atmosphere of the massive old buildings.
When I came to the North Bridge, I was probably the only person looking over the parapet at that very moment. For one thing, it is very high, as you can see in the picture. Beyond that, there’s not much to see under the bridge except for the tracks and buildings of the main station. At the end of the bridge, in front of the house with the two small towers on the right and left, there is a narrow terrace. The entrance is right next to the North Bridge and beneath that there is a drop of about twenty meters.
That very moment, as I was looking over the parapet of the bridge onto this terrace, there was a girl there, a young woman climbing over the terrace railing. She was maybe fourteen, fifteen years old, holding onto the stone railing and standing on the foot-wide ledge in front of it, with her an access road to the train station far below. My first thought was, hey, they’re shooting a movie there. But almost at the same time, I noticed that there were no film crews, cameras or microphones anywhere in sight. None of the many passers-by were even paying attention to what was happening right next to the street, next to the sidewalk. Then the girl began to cross herself, again and again, clinging to the stone railing with only one hand. It was then that I finally realized what she was up to. What could I do? I turned around looking for help, and at that very moment a female patrolman ran past me. I had barely uttered my awkward »Excuse me, look over there« while gesturing towards the terrace when she lifted her walkie-talkie up to her mouth, said something and just a few seconds later – at least in my memory – three, four, five policemen came running from all directions, trying not to make too much commotion so as not to frighten the girl. She was still crossing herself, faster and faster, looking down longer and longer in between, still holding on with just one hand, bending forward. One slight, final movement – then everything would have been over.
In the meantime, one of the police officers had stepped onto the terrace, hunched over, approaching the girl gently but quickly. One motion and he had grabbed her arm. The others were immediately with him and together pulled her back over the railing. A brief commotion, people stopping out of curiosity, a police car, then it was all over.
In my mind, I see everything happening as if in slow motion, endlessly; yet it must have been only a few minutes. I just walked on, but I have never forgotten that moment on the North Bridge in Edinburgh. The next day I went back to take a photo of the bridge. As I write this, it is lying next to me. Today, the girl must have become a woman in her early forties and I often wonder how she must have fared, what she is doing today.
I will probably never know.
Hallo Uwe,
Du teilst eine dramatische und sehr persönliche Erinnerung mit der Lesegemeinde. Sehr verständlich, dass Dich dies seit dreißig Jahren beschäftigt. Du warst aufmerksam und hattest großes Glück mit der gegenwärtigen Polizistin, die unmittelbar reagieren konnte.
Ich vermute, die Edinburgh Police hätte Verständnis, wenn Du als Zeuge der Situation dort nachfragst, was und wie dies damals war. Was wohl aus der jungen Frau geworden ist? Hoffen wir das Beste.
Während meines Studienjahres in Aberdeen war ich 1986/87 ein paar mal zu Besuch in Edinburgh mit guten Erinnerungen an diese wunderbare Stadt.
Herzliche Wünsche und Grüße
Bernd
Eine Grenzsituation zwischen Leben und Tod, die du vor Jahren nahezu hilflos erlebt hast und hier rückblickend beschreibst. Wer weiß, was aus dem Mädchen geworden ist… Hoffentlich hat sie den Weg ins Leben zurück gefunden!
Ich habe vor vielen Jahren eine ähnliche Situation in Paris erlebt und darüber auf der Plattform story.one geschrieben.
https://www.story.one/u/beate-luise/der-fall
Grüße aus Hamburg!