Positiv denken mit Franz Kafka*

Franz Kafka: Saemtliche Erzaehlungen

Es gibt Momente im Leben, die sind von solch unglaublich kristallener Klarheit, als wäre gerade ein Vorhang weggezogen worden, der die Gedanken blockiert hatte. Solche Schlüsselmomente sind selten, daher bleiben sie meist sehr lange in Erinnerung. Als ich im Frühjahr 1991 lesend im Kaffeehaus  saß, habe ich einen solchen erlebt. Der Grund dafür war diese Textstelle in meinem Buch:

»Wie? In diesem kurzen, eiligen, von einem ungeduldigen Dröhnen begleiteten Leben eine Treppe hinunterlaufen? Das ist unmöglich. Die dir zugemessene Zeit ist so kurz, daß du, wenn du eine Sekunde verlierst, schon dein ganzes Leben verloren hast, denn es ist nicht länger, es ist immer nur so lang, wie die Zeit, die du verlierst.

Hast du also einen Weg begonnen, setze ihn fort, unter allen Umständen, du kannst nur gewinnen, du läufst keine Gefahr, vielleicht wirst du am Ende abstürzen, hättest du aber schon nach den ersten Schritten dich zurückgewendet und wärest die Treppe hinuntergelaufen, wärst du gleich am Anfang abgestürzt und nicht vielleicht sondern ganz gewiß.

Findest du also nichts hier auf den Gängen, öffne die Türen, findest du nichts hinter diesen Türen, gibt es neue Stockwerke, findest du oben nichts, es ist keine Not, schwinge dich neue Treppen hinauf. Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.«

Das ist aus der Erzählung »Fürsprecher« von Franz Kafka und dieser Text bedeutet mir sehr viel. Es war, wie gesagt, im Frühjahr 1991, mein Zivildienst war seit einem halben Jahr zu Ende und ich hielt mich durch einen Aushilfsjob in einem Altenheim über Wasser. Wie viele meiner Freunde wusste ich nicht so recht, was ich machen sollte, wie die Zukunft aussehen könnte oder wie es weitergehen würde. Das Geld reichte für ein bequemes Leben, gleichzeitig plagte mich die Perspektivlosigkeit, ich hatte mich irgendwie eingerichtet, aber war das schon alles? Auch damals waren Bücher meine ständigen Begleiter und ich las alles, was ich in die Finger bekam. So auch das Taschenbuch mit Kafkas gesammelten Erzählungen, aus dem das Zitat stammt. Ich erinnere mich noch genau an die Situation, als ich über diese Textstelle richtiggehend stolperte: Es war ein Vormittag, ich hatte mich mit ein paar Freunden in einem Café zum Frühstück verabredet. Das Café lag auf einer Anhöhe und man hatte eine phantastische Aussicht auf die Freiburger Dächer im Morgenlicht. Ich war zu früh da und las. Las die Sätze, die ich oben aufgeschrieben habe und saß erst einmal nur da. Mir war plötzlich alles klar, das war es: Auch wenn man wahrscheinlich irgenwann abstürzen wird, man darf niemals aufhören, die Treppen hinaufzulaufen, man darf niemals aufhören, offen für Veränderungen zu sein: man darf niemals stehen bleiben. Es genügt nicht, sich irgendwie bequem einzurichten, es muss immer weitergehen.

Der Satz »Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts«  begleitet mich seit diesem Tag und auch noch heute, ein Vierteljahrhundert später, sehe ich mich noch genau an diesem Tisch sitzen und fühle die Stimmung in mir, als wäre es erst letzte Woche gewesen. Das Buch ist inzwischen nicht mehr besonders ansehnlich, vergilbt, zerlesen, ein altes Taschenbuch eben. Aber es steht immer noch in meinem Bücherschrank.

* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.

Buchinformation
Franz Kafka, Die Erzählungen
Fischer Taschenbuch
ISBN 978-3-596-13270-6 

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11 Antworten auf „Positiv denken mit Franz Kafka*“

  1. Ich weiß, ich bin etwas spät hier:-D Ich bin durch Zufall auf deinen Text gestoßen und habe lange überlegt, ob ich schreiben soll oder nicht.

    Meiner Meinung nach ist das von dir erwähnte Zitat alles andere als positiv gemeint. Schaut man sich die ganze Erzählung an (und nicht nur die aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze), dann bekommt der Ausschnitt plötzlich eine ganz andere Bedeutung. In dem Text geht es um einen Ich-Erzähler, der in einem labyrinthartigen Gebäude unterwegs ist und auf verzweifelter Suche nach „Fürsprechern“, also Unterstützern, ist. Der von ihm beschriebenen Allmacht der Gesetze kann er nicht entkommen und will das auch gar nicht. Außerdem sagt er an einer Stelle: „[L]eider kann ich mich dem Eindruck nicht verschließen, dass ich nicht am richtigen Ort bin“. Der Erzähler ist also durch und durch verunsichert und fremdbestimmt. Daraus ergibt sich auch auf das Treppensteigen eine völlig andere Sicht: Auf einmal ist es nicht mehr ein positiv zu betrachtendes Symbol, sondern ein Zwang. Diese Sichtweise wird übrigens auch dadurch gestützt, dass der Ich-Erzähler sagt: „Zurück aber darf ich nicht, […] dieses Eingestehn eines Irrwegs wäre mir unerträglich.“

    Tut mir Leid, dass ich dir widersprechen muss – ich will dir damit auf keinen Fall die positive Erinnerung nehmen, die du mit dem Zitat verbindest.

    1. Kafka ist der Meister der raffinierten Schilderung seiner Ängste und Unsicherheiten. Und klar, dass kann man so lesen, wie Du es schreibst – wobei für mich die Stufen eine Chance und ein Vorwärtskommen symbolisieren. Letztendlich leben wir alle fremdbestimmt, aber solange wir Stufen haben, die sich vor uns auftun, bleibt das Leben wenigstens in Bewegung. Doch sobald wir stehenbleiben, tritt der Stillstand ein, die Stufen verschwinden. Daher empfinde ich die Wahl, Stufe um Stufe weiterzusteigen als positive Entscheidung, trotz der Gewissheit am Ende abzustürzen – denn was wäre die Alternative? Aufgeben, stehen bleiben und den Stillstand akzeptieren? Dann lieber wie ein Getriebener die Treppen erklimmen, Stockwerk um Stockwerk, um den Stillstand zu vermeiden. Denn für mich beendet das Stehenbleiben und das Verharren im Gewohnten ein Leben.
      Aber das wunderbare an Kafka ist ja, dass man seine Texte auf die unterschiedlichste Art und Weise lesen kann, daher hat mich Dein Kommentar dazu gebracht, mich erneut mit dieser Erzählung Kafkas zu beschäftigen. Und meine positive Erinnerung mir noch einmal zu bestätigen.

  2. Vielen Dank für diesen erstaunlichen, mir bislang unbekannten Kafka-Text, den Du mitsamt Deiner Erfahrung mit ihm hier gepostet hast. Ich habe mir ihn gleich in eine Datei kopiert, weil ich sicher bin, dass ich ihn noch öfters lesen werde, will, muss.

    Mit freundlichen Grüßen

    TRS

    1. Sehr, sehr gern geschehen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie einem ein paar Worte eine ganz neue Orientierung geben können. Gerade, wenn man es am wenigsten erwartet.
      Beste Grüße
      Uwe

  3. Lieber Uwe!

    Danke, diese Zeilen berühren mich, denn genau das ist es wohl, was mich jetzt antreiben sollte. Ich werde es mir zu Herzen nehmen, auch wenn es grade schwer fällt, die Stufen hinaufzusteigen und neue Türen zu finden.

    Danke!

    Liebe Grüße
    Simone

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