Manchmal erkennt man die Schönheit einer Textstelle in einem Buch nicht gleich auf den ersten Blick. Vielleicht hat man zu schnell gelesen, vielleicht ist sie im Zusammenhang der Handlung nicht sofort aufgefallen und man bemerkt ihre Eleganz erst, wenn sie alleine steht. So ging es mir mit einem kurzen Abschnitt aus »Das Bildnis des Dorian Gray« von Oscar Wilde. Klar, das Buch kannte ich, fand es ganz gut und das war es dann. Dachte ich. Ich hatte es nämlich einem Freund ausgeliehen, was sehr ungewöhnlich war, denn normalerweise verleihe ich meine Bücher nie. Dann hielt ich einige Monate später eine Karte in den Händen, aber nicht irgendeine Karte: Besagter Freund, Graphikdesigner, versandte jedes Jahr im Januar eine Neujahrskarte. Diesmal hatte er jene erwähnte Textstelle aus »Das Bildnis des Dorian Gray« verwendet, einen Text, der mir zuerst nicht aufgefallen war und der mich dann voll und ganz bewegt und begeistert hat. Bis heute ist er für mich eine der schönsten Stellen in einem Buch, die ich kenne. Denn das Buch habe ich dann noch einmal gelesen, so lange, bis ich die Stelle wieder gefunden hatte. Und sie ist mir nie wieder verloren gegangen.
»Du magst wähnen, du ständest sicher da und seist stark.
Aber ein zufälliger Farbton in einem Zimmer
oder ein Morgenhimmel,
ein besonderer Duft,
den du einst geliebt hast und der tiefe Erinnerungen mit sich führt,
eine Zeile eines vergessenen Gedichts, die dir wieder einfällt,
ein paar Takte aus einem Musikstück, das du nicht mehr gespielt hast,
ich sage dir,
von derlei Dingen hängt unser Leben ab.«
Wunderschön.
Wer nicht suchen mag: Seite 278 im Insel-Taschenbuch. Das ist die klassische Übersetzung aus dem Jahr 1909 von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer. In späteren Versionen werden andere Formulierungen benutzt, die aber die Magie dieser Textstelle völlig zerstören. Was mich damals zum Nachdenken über die Kunst des Übersetzens angeregt hat, aber das ist eine andere Geschichte.
Das alles war im Januar 1993. Die Karte habe ich noch. Ich glaube, dem kartengestaltenden Freund habe ich nie erzählt, wie mich seine Textauswahl bis heute begleitet hat. Sollte ich mal, aber vielleicht liest er das hier ja.
Nachtrag, sechs Jahre später: Im Blog TraLaLit – Plattform für übersetzte Literatur habe ich einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem ich neuere Übersetzungen mit dieser hier verglichen habe.
* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.
Buchinformation
Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray
Aus dem Englischen von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Insel Taschenbuch
ISBN 978-3-458-36219-7
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Aus welchem Kapitel ist diese Textstelle? Ich habe eine schöne alte Ausgabe in Leinen ohne Angabe des Erscheinungsjahrs, Übersetzer Ernst Sander, und möchte gern vergleichen. Danke.
Das ist im 19. Kapitel. Meine Ausgabe folgt der Übersetzung der deutschen Erstveröffentlichung 1909.
Lieber Uwe,
ich merke mir beim Lesen herausragende Textstellen ein und schreibe sie dann in ein privates Wiki. Die Seite für meine Buchzitate ist mittlerweile sehr sehr lange und da sind kurze und lange Textpassagen, die einfach großartig sind. Treffend, klug, erschreckend, sehr wohlklingend und auch für sich alleine stehend kleine Kunstwerke.
Lord Henry mit seinem zynischen Blick auf die Welt ist natürlich für Wilde so etwas wie eine Schneekanone für Bonmots. Ich finde es schön zu sehen dass es dir und deinem Freund es so geht wie mir und meine Begeisterung für solche Zitate teilt.
Liebe Grüße
Tobi
Hallo Tobi,
ja, Zitate aus Büchern begleiten mich schon seit vielen Jahren, und ganz oft sind sie eng verknüpft mit wichtigen Lebensphasen oder einschneidenden Erlebnissen. Und werden damit zum Teil des eigenen Lebens.
Liebe Grüße
Uwe